Im Licht des Mondes

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„Warte einen Moment.“

Er drückt mich zurück und fängt damit an, die Knöpfe an seinem Hemd aufzuknöpfen. Ich helfe ihm dabei und frage mich, ob Hemden immer derart viele Knöpfe haben oder ob seines nur extrem viele besitzt. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Fetzen endlich zu Boden fliegt. Dann zieht er mir etwas unsanft den Pullover über den Kopf. Während ich ihn wieder zu mir ziehe und hungrig einen weiteren Kuss fordere, bemerke ich, dass seine Aufmerksamkeit auf meinem Oberkörper verweilt. Um genau zu sein, an einer bestimmten Stelle. Ich seufze lautlos. Den Schönheitsfleck vergesse ich immer wieder. Allerdings stört mich die Pigmentstörung an meinem Schlüsselbein nicht. Andere Typen des Öfteren jedoch schon. Das nervt. Um die Stimmung nicht zu versauen, lasse ich meine Zungenspitze über seinen Hals gleiten, während meine Hände abermals auf Erkundungstour gehen. Das genügt allerdings nicht, um Howard wieder auf das richtige Gleis zu lenken. Er stützt sich langsam ab und stiert noch immer auf den Fleck.

„Was ist das für ein seltsamer Klecks?“ Er schnippt mit den Fingern gegen die besagte Stelle und stiert unverblümt drauf. Ich kann seinen Blick nicht direkt deuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihn stört. Es ist kaum zu glauben, wie viele Typen völlig oberflächlich sind. Er wäre nicht der Erste …

„Das ist nur eine Pigmentstörung, nichts weiter. Hatte ich schon immer. Keine Ahnung. Stört es dich?“, bringe ich das Thema gleich zum entscheidenden Punkt und bin gespannt auf seine Antwort.

„Ähm … nein, natürlich nicht. Es wirkt nur etwas eigenartig … wie ein Mal aus einem Gruselstreifen oder so.“

Er grinst unsicher und in meinen Gedanken versetze ich ihm einen Schlag und drücke ihm ein Kissen ins Gesicht. Ich schlucke die aufschießenden Emotionen hinunter und gebe etwas grummelig zurück: „Es ist nur ein Schönheitsfleck, mehr nicht.“

„Ja, jetzt sei nicht beleidigt. Ich meine es nicht böse, aber ich war halt verwirrt.“ Er fängt an, zärtlich an meinem Ohr zu knabbern, und sein Besänftigungsversuch beginnt Früchte zu tragen, als er hinzufügt: „Du hättest mich halt ruhig vorwarnen können.“

Ich verharre in meiner Bewegung und versuche, seine Worte zu verdauen, die mir unangenehm in den Ohren widerhallen. Vorwarnen? Was soll dieser Mist denn jetzt? Ich habe nicht die Krätze oder Windpocken! In mir beginnen zwei Seiten zu ringen. Die eine in mir möchte ihn von mir zu Boden stoßen und ihm den Kopf waschen. Ich kann Oberflächlichkeit und Arroganz nicht ab. Schon gar nicht von irgendwelchen gutbetuchten Schnöseln. Ich weiß, was ich möchte und was nicht. Solche abwertenden Kommentare gehören definitiv nicht zu den Dingen, die ich tolerieren und akzeptieren kann. Schon gar nicht, wenn das zwischen uns was Ernstes werden soll. Auf der anderen Seite haben mir meine Kumpels bereits öfter ans Herz gelegt, nicht immer so impulsiv zu handeln und damit meine Mitmenschen und Lover vor den Kopf zu stoßen. Ich weiß selbst, dass ich oftmals vorschnell reagiere und mich von Emotionen tragen lasse. Aber ist das so schlecht?

Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe. Verzwickte Lage. Noch während ich überlege, ob ich Howard von mir stoßen soll, dessen Küsse hinunter zu meinem Torso wandern, bemerke ich am Fenster eine Bewegung. Ich kneife die Augen zusammen und sehe nochmal genauer hin. Tatsächlich! Da steht eine junge Frau und schaut uns zu. Ich klopfe meinem Freund auf die Schulter. Als er jedoch nicht gleich reagiert, ziehe ich ihn an den Haaren etwas unsanft nach oben.

„Au, was zum …?!“

„Howard, da ist jemand am Fenster!“

„Quatsch.“

„Wenn ich es dir doch sage!“

Endlich richtet er sich auf, doch als die junge Frau den Umschwung bemerkt, huscht sie davon. Bis mein Freund so weit ist und sich umwendet, ist sie natürlich nicht mehr da.

„Da ist niemand.“

„Howard, wenn ich es dir doch sage! Da war eine Frau, die dir eigentlich recht ähnlich sah.“

Er runzelt die Stirn und streicht sich über seinen Nacken.

„Wie alt war sie?“

„Keine Ahnung. Ich schätze zwischen sechzehn und zwanzig.“ Auch ich springe von der Couch auf und schnappe mir eilig mein Oberteil, als seine Augen schon wieder meine Pigmentstörung mustern. Das muss aufhören, sonst werde ich mein Temperament nicht lange zurückhalten können.

„Sie hatte eine dunkelblaue Strickmütze an“, füge ich hinzu und er wiegt seinen Kopf leicht hin und her.

„Das hört sich nach meiner Cousine an, aber eigentlich kann das nicht sein.“

„Warum?“

„Weil sie sonst nie durch das Fenster reinschaut. Außerdem wusste sie, dass ich heute Besuch habe.“

Ich ziehe eine Braue nach oben. Meint er das ernst?

„Vielleicht war sie neugierig. Soll vorkommen“, entgegne ich leicht genervt.

„Ach was, das tut sie sonst nie. Abgesehen davon lernst du sie in ein paar Minuten eh persönlich kennen, wenn wir zu dem Konzert fahren.“

„Ja …“ Ich streiche mir durch die Haare, lasse ihn stehen und laufe zur Kochnische, um mir noch etwas zu trinken zu besorgen. Irgendwie habe ich das drückende Gefühl, dass das heute ein verdammt langer Tag werden wird.

***

Hingebungsvoll gibt der Sänger einen Hit nach dem anderen von Phil Collins zum Besten. Die Band ist perfekt untereinander und mit dem Orchester abgestimmt. Dass es nicht meine Musikrichtung ist, stört mich nicht im Geringsten. Ich liebe Konzerte jeder Art, solange die Zusammensetzung der Instrumente und die Stimme der Sänger passen, würde ich mir alles anhören. Musikaufführungen sind einfach einmalig. Eine Kunst für sich.

Dass die Coverband so gut ist entschädigt für die seltsame Atmosphäre, die Howards Familie umgibt. Trotz dass er sich schon seit Jahren geoutet hat und sowohl seine Tante, als auch seine Mutter, Schwester und Cousine laut seiner Aussage damit cool seien, sind sie mir gegenüber sehr distanziert. Besonders, was die Mutter angeht. Ich habe alle Höflichkeitsfloskeln eingehalten, mich nett vorgestellt, den Damen des Hauses Pralinen mitgebracht, worüber sich seine Tante besonders gefreut hat, doch die Mutter ist ziemlich bemüht, mich nicht anzusehen. In ihrer Anwesenheit fühle ich mich wie in einem Tigerkäfig. Es ist mir sogar unangenehm, als mich Howard von hinten in seine Arme zieht und sich mit mir sanft im Takt der Melodie zu bewegen beginnt. Ich fühle mich beobachtet. Dennoch versuche ich, den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf die Bühne zu richten. Als der Ton zur Pause erklingt, zwickt er mir in das Ohrläppchen und löst sich von mir. Seine Schwester Amelia und seine Cousine Audrie, bei der ich mir hundertprozentig sicher bin, dass sie es war, die ich am Fenster gesehen habe, gesellen sich zu uns und schauen Howard auffordernd an.

„Wir haben Durst. Wie sieht es mit euch Verliebten aus?“, fragt Amelia und ihr Bruder nickt.

„Ja, versuchen wir unser Glück draußen an der Bar.“

Audrie und ich nicken nur und folgen ihnen im Strom der Menschenmasse nach draußen, um festzustellen, dass wohl alle Gäste in der Halle auf dieselbe Idee gekommen sind.

„Oh… das ist aber eine lange Schlange. Vielleicht sollten wir etwas warten“, meint seine Cousine, doch Amelia widerspricht sofort.

„Nee, nachher sieht es auch nicht besser aus. Howard, bringst du Audrie und mir eine Cola mit?“

Ich ziehe leicht eine Braue in die Höhe. Ganz schön forsch. Zu meinem Entsetzen lacht Howard leise auf und gibt sich ohne Widerrede geschlagen.

„Okay, was möchtest du, Kanji?“

„Ich komme mit vor“, entgegne ich, aber auch hier schaltet sich seine Schwester sogleich ein.

„Nein, das musst du nicht. Leiste uns lieber etwas Gesellschaft. Wir Mädels fühlen uns in Begleitung eines Mannes gleich viel wohler und sicherer.“ Sie zwinkert mir zu und ich lächle, jedoch kann ich ihre Sympathie nicht teilen. Ich setze zum Widerspruch an, doch Howard kommt mir zuvor.

„Du hast sie gehört. Also, was kann ich dir mitbringen?“ Er grinst verschmitzt und fügt hinzu „So sind sie nun mal, die Frauen.“

„Beschwer dich nicht. Immerhin ist dein Herzblatt ein Kerl und keine Frau. Da wirst du Audrie und mich wohl aushalten“, kontert Amelia und lacht herzhaft auf. Ich schiele aus einem Instinkt heraus zur Cousine, die schnell den Blick von mir wendet.

„Eine Limo. Ganz egal welche“, murmle ich nachdenklich, worauf mein Freund nickt und sich bereits in Bewegung setzen will, doch ich halte ihn zurück.

„Was bekommst du von mir?“

„Nichts.“

„Du hast mich schon zu dem Konzert eingeladen, da kann ich wenigstens die Getränke bezahlen.“

„Passt schon.“

„Ja, lass ihn. Mein Brüderchen verdient am meisten hier. Er lädt uns gerne ein“, weist mich Amelia zurecht und grinst über beide Backen. Mir verschlägt es regelrecht die Sprache und das kommt wahrlich selten vor. Howard macht eine abwinkende Handbewegung, bahnt sich aber dennoch den Weg zur Theke. Wieder schiele ich zu seiner Cousine, die ihm lange hinterherschaut. Sehr lange. Ein misstrauisches Gefühl erwacht in mir und lässt meinen Magen rumoren.

Amelia hängt sich bei mir und Audrie ein. Sie führt uns zu einem der freien Stehtische und fängt an, mich regelrecht auszuquetschen. Ihre Cousine hält sich zum größten Teil zurück und ich versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, was mir einigermaßen gelingt. Erleichtert atme ich auf, als Howard endlich mit den Getränken zurückkommt. Eilig komme ich ihm entgegen, um ihm beim Tragen zu helfen. Wir halten zu viert noch ein bisschen Small Talk, wobei ich mir stark auf die Zunge beißen muss, um Amelias vorlautes Mundwerk über mich ergehen zu lassen. Megaanstrengend. Ihre Cousine dagegen ist zurückhaltender und wäre mir nicht mal unsympathisch, wenn meine innere Stimme mich nicht minütlich warnen würde. Ich beobachte sie die gesamte Zeit über aus den Augenwinkeln. Howard scheint mit seiner Schwester und mit Audrie sehr verbunden. Sie haben viel gemeinsam erlebt und einiges zu erzählen. Das schüchterne Mädchen ist bemüht, ihren Blick in der Runde wandern zu lassen, doch ich ertappe sie immer wieder dabei, wie sie an meinem Freund hängen bleibt. Das wäre keine Tatsache, die mich unbedingt stören würde. Ich bin kein eifersüchtiger Mensch, der in jedes Wort oder jede Geste etwas hinein interpretiert. Allerdings stören mich die Intensität und das hoffnungsvolle Flimmern in ihren Augen.

 

Als Howard ihr dann bei einem Scherz neckisch durch die Haare wuschelt, verfliegt meine Vermutung mitsamt der Zweifel und macht einer stechenden Überzeugung Platz. Ihr anhimmelnder Blick, und wenn es nur für ein paar Sekunden ist, spricht Bände. Sie ist Hals über Kopf in ihren Cousin verschossen.

Kapitel 3

Colin:

Etwas ungelenk steige ich aus und strecke meine angespannten Glieder. Die stundenlange Fahrt war anstrengender als gedacht. Die drei Staus stecken mir schwer in den Knochen. Müde reibe ich mir die Augen und lasse meinen Blick über die majestätische Berglandschaft schweifen. Schon auf der Hinfahrt konnte ich mich nicht sattsehen. Ich liebe die Alpen. Sie vermitteln ein Gefühl von Freiheit, Anmut und Ruhe. Auch der Vorort Graswang, durch den ich hindurchgefahren bin und der nur aus ein paar schäbigen Baracken bestand, hatte durch die Landschaft irgendetwas Unschuldiges. Ein blöder Gedanke, ich weiß. Ich bin froh, dass ich den niemand mitteilen und erklären muss, denn ich kann mir meine Gefühle, die mich beim Anblick der bergischen Riesen überkommen, selbst nicht erklären. Gähnend werfe ich einen Blick auf die Armbanduhr. Es ist gerade mal elf Uhr. Ich bin viel zu früh. Zwar habe ich an der ersten Raststelle angerufen und mich früher angekündigt, dennoch fühle ich mich etwas unwohl dabei. Die Bedienstete am anderen Ende der Leitung war sehr freundlich, trotzdem konnte ich deutlich heraushören, dass ich ihnen Umstände bereite. Allerdings habe ich es daheim nicht mehr länger ausgehalten. Der Abschied von Shuzee, wenn man es denn als solchen bezeichnen möchte, ging mir nicht aus dem Kopf und ließ mich nicht schlafen. Mein Innerstes hat danach geschrien, endlich alles hinter mir zu lassen, zu fliehen und einen Neuanfang zu wagen. Dass Überpünktlichkeit auch als Unfreundlichkeit ausgelegt werden kann, daran habe ich in dem Moment nicht gedacht. Na ja, jetzt ist es ohnehin zu spät. Unschlüssig hieve ich meine zwei Koffer aus dem Auto und schlendere zum Tor, das von einer dicken Steinmauer umrahmt wird. Ich versuche, einen Blick hinter die Mauern zu erhaschen, doch sie sind zu hoch. Irgendwie kreuzt das Bild einer Festung meine Gedanken. Was mir sofort ins Auge sticht, sind die vielen Bäume, deren buntes Herbstlaub sachte zu Boden fällt. Ein seltener Anblick. In Karlsruhe gibt es nur vereinzeltes, knochiges Geäst, in dem kaum ein Funken Leben steckt. Zwar habe ich bereits davon gehört, dass es Orte geben soll, an denen noch so etwas wie Natur besteht, doch gesehen habe ich bisher keinen davon. Bis jetzt.

Ich atme die frische Bergluft abermals tief ein und betätige dann die Klingel. Nur ein paar Sekunden später ertönt ein Surren, dicht gefolgt von einer angenehmen Frauenstimme.

„Meryl Father am Empfang. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich … bin der neue Buchhalter. Colin Morningquest“, antworte ich etwas steif. „Ich bin ein bisschen früh …“

„Ah, wir haben heute Morgen telefoniert. Einen kurzen Moment bitte, ich hole Sie gleich ab.“

„Ja, vielen Dank.“

Das Surren erstirbt und ich lausche nervös in die Stille. Ich habe noch nie in einem Herrenhaus einer reichen Familie gearbeitet. Wie es wohl werden wird? Ob es arg unterschiedlich zu einer Stelle in einer Firma ist? Ich bin wirklich gespannt. Es wird auf meinen Lebenslauf auf jeden Fall kein schlechtes Licht werfen, denn laut den Berichten im Internet ist die Familie Loire sehr einflussreich in fast allen erdenklichen Bereichen der Gesellschaft. Die Anzahl der Bewerber für die Stelle muss riesig gewesen sein. Ich kann mein Glück kaum fassen, dass die Wahl tatsächlich auf mich gefallen ist.

Das Klacken des metallenen Schlosses lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich straffe die Schultern und streiche mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Knatternd öffnet sich das Tor und ich schaue in das Antlitz einer Frau mittleren Alters, die mir auf den ersten Blick sympathisch ist. Anscheinend haben die Hausherren nichts gegen individuellen und auffälligen Stil, wie mir die langen, jadefarbenen Haare verraten, die sie zu einem ordentlichen Zopf geflochten hat. Erleichterung macht sich in mir breit. Dann dürften meine blaugefärbten Haare auch kein Thema sein. So hoffe ich zumindest. Beim Vorstellungsgespräch schienen sie jedenfalls nicht hinderlich gewesen zu sein. Sie begrüßt mich mit einem Lächeln.

„Willkommen in Linderhof. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?“

„Danke sehr. Es tut mir leid, dass ich zu früh bin.“

„Kein Problem. Bitte folgen Sie mir. Ich bringe Sie zuerst zu den Unterkünften der Angestellten und auf Ihr Zimmer, damit Sie sich einrichten und frisch machen können. Danach werden die Herrschaften Sie empfangen.“

„Vielen Dank.“

Ich trete durch das Tor und folge ihr nach links, wo sich einige längliche und gut erhaltene Gebäude aneinanderreihen wie eine Karawane. Meine vorherige Wohnung ist damit nicht vergleichbar. Ich bin gespannt auf das Innere. Neugierig lasse ich meinen Blick durch den menschenleeren Hof schweifen. Ich entdecke ein paar Arbeitsmaschinen sowie Besen, Rechen und andere Gartenutensilien. Meryl bringt mich zu einem der hinteren Bauten und öffnet die Tür. Während sie mich herumführt und mir unter anderem die Gemeinschaftsküche und den Aufenthaltsraum in Form eines geräumigen Wohnzimmers zeigt, fällt mir auf, dass sie unglaublich schmal ist. Ich habe noch nie eine Frau mit einer derart perfekten Taille gesehen. Ich kann meinen Blick gar nicht von ihrer zierlichen Silhouette abwenden.

„Und hier wäre Ihr Zimmer.“

Sie bleibt vor Nummer 105 stehen und überreicht mir einen Schlüssel.

„Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl.“

„Bestimmt“, ich nicke ihr dankbar zu und schließe die Tür mit klopfendem Herzen auf.

„Ich melde Sie an und hole Sie später ab, um Sie zu den Herrschaften zu bringen.“

„Vielen Dank.“

Mit einem scheuen Lächeln dreht sie sich um und eilt den Gang entlang, raus aus dem Gebäude. Ich warte ein paar Sekunden, bis sich mein pochendes Herz beruhigt hat, dann drehe ich den Schlüssel im Schloss um und öffne den Eingang zu meinem neuen Zuhause. Der Raum ist nicht groß und ähnelt einem Hotelzimmer. Direkt neben der Eingangstür befindet sich rechts ein einfacher Kleiderschrank und links die Tür zum Badezimmer, das aus einem Waschbecken mit großem Spiegel, Eckdusche und einer Toilette besteht. Ich laufe ein paar Schritte über den dunklen Teppichboden und stehe in der Mitte des Raumes. Langsam befreie ich mich aus meinem dicken Wintermantel und hänge ihn über den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ich habe sogar einen kleinen Fernseher, auch wenn ich den vorerst eher nicht benutzen werde, denn ich brenne darauf, die Umgebung zu erkunden.

Ich drehe mich um und lasse meine Finger prüfend über das große Bett streichen, in dem locker zwei Personen Platz finden können. Ich spüre, wie etwas in mir zerbricht und schiebe die aufkeimende Sehnsucht nach Shuzee beiseite. Stattdessen schweift mein Blick schnell nach rechts zur Fensterfront, durch die ich direkt auf den Hof schauen kann. Ich lasse frische Luft ins Innere und beginne, meine Koffer auszupacken. Ich kann es kaum erwarten, mich auf dem Anwesen umzusehen und meine Arbeitgeber plus Kollegen kennenzulernen.

***

Ich habe mich nach der Dusche angezogen und gerade meine Haare gezähmt, als es an der Tür klopft. Mit einem Satz bin ich am Eingang. Wie erwartet steht Meryl davor und lächelt mich freudig an.

„Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl?“

„Ja, vielen Dank. Ich finde es wirklich schön hier“, antworte ich und meine es durchaus ernst. Mit jeder weiter verstreichenden Minute habe ich das Gefühl, als würde die Last der letzten Zeit Stück für Stück von mir abfallen.

„Es wird noch besser. Sie haben das Anwesen und den Garten noch nicht gesehen.“

„Ich bin gespannt.“

„Dürfen Sie. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber es ist wirklich riesig und außergewöhnlich schön.“

„Ich freue mich schon darauf.“

„Sind Sie bereit? Ich habe Sie bei den Herrschaften Loire angekündigt. Sie erwarten Sie.“

„Natürlich“, gebe ich eifrig zurück und spüre, wie Nervosität und Aufregung zurückkehren. Ich möchte ihr schon nach draußen folgen, doch sie verharrt und grinst mich amüsiert an. Irritiert streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ist irgendetwas?“

„Haben Sie nicht etwas vergessen?“

Ich lasse meine Augen prüfend über meine Leinenhose und Hemd wandern. Alles sitzt anstandslos. Eine Krawatte habe ich ebenfalls nicht vergessen. Schuhe habe ich auch an – was meint sie nur? Zu meinem Glück lässt sie mich nicht länger zappeln und erlöst mich aus der unangenehmen Situation.

„Sie sollten eine Jacke anziehen. Es ist kalt draußen.“

Meine Miene erhellt sich schlagartig. Das macht Sinn. Etwas peinlich berührt schnappe ich mir den Mantel und streife ihn schnell über.

„Den hätte ich jetzt wirklich vergessen“, gestehe ich und sie nickt kichernd.

„Ja, die meisten, die nicht aus unserer Region kommen unterschätzen den Temperaturunterschied in den Bergen. Nicht mehr lange und wir werden den ersten Schnee bekommen.“

„Schnee? Im Oktober?“

„Das ist hier keine Seltenheit“, meint sie mit einem Zwinkern und läuft voraus. Während ich ihr folge und mein Blick über die vielen prächtigen Grünflächen gleiten, überlege ich, wann ich das letzte Mal richtigen Schnee gesehen habe. In Karlsruhe hat es zwar im Januar und Februar geschneit, allerdings ist er nie liegengeblieben. Mein Körper beginnt vor Freude zu prickeln und ich fühle mich wie ein kleines Kind, das sich auf Heiligabend freut.

„Zu unserer rechten befindet sich der Schwanenweiher“, reißt mich Meryls Stimme aus meiner Träumerei in das Hier und Jetzt zurück. Ich bleibe automatisch stehen, kann mich dem magischen Bann der Landschaft nicht entziehen. Der überschaubare See ist umgeben von saftigem Grün. Ich wusste gar nicht, wie farbenfroh Gras sein kann. Irgendwie wirkt hier alles anders. Schöner. Intensiver. Faszinierend. Meine Augen gleiten vom See zu den dahinter liegenden Bergspitzen, die bereits von einem weißen Schleier bedeckt sind.

„Gefällt es Ihnen?“

„Es ist … unglaublich.“

„Dann warten Sie ab, bis Sie den Rest sehen.“ Sie schenkt mir ein wohlwissendes Lächeln und wir setzen den Weg fort. Ich staune nicht schlecht. Nicht nur, dass das Grundstück riesig ist, die Natur ist atemberaubend. Wie kann es sein, dass davon nichts bekannt ist? Überall habe ich Berichte über die Familie und den Sitz im Netz gefunden, doch über unzählige Bäume und Grünflächen habe ich nicht das Geringste gesehen. Seltsam. Oder habe ich es tatsächlich überlesen, da ich nur die wichtigsten Fakten für die Bewerbung heraus suchen wollte?

„Zur linken befindet sich das Gärtnerhaus auf der Anhöhe“, informiert mich Meryl als sich plötzlich die Bäume lichten und einen grasbedeckten Hügel freigeben, auf dessen Mitte ein weißbraunes Haus steht. Allerdings ist es nicht das Gebäude, das meine Aufmerksamkeit erregt, sondern die Gruppe der Gärtner davor, wie mir ihre Arbeitskleidung eindeutig verrät. Ich schätze jeden von ihnen zwischen vierzig und sechzig, abgesehen von einem Mann, an dem meine Augen ungewollt hängen bleiben. Breite Schultern, die in einem roten Holzfällerhemd stecken, fließen in einem Stiernacken aus. Der trägt einen schwarzbelockten Kopf mit Rotstich, aus dem zwei grüne Augen spitzbübisch durch die Gegend schauen. Ein Prachtexemplar Anfang zwanzig. Er scheint zu bemerken, dass er beobachtet wird. Ich will mich endlich losreißen, als er sich mir zuwendet und sich unsere Blicke treffen. Ein Prickeln durchzieht meinen Körper und beschert mir eine Gänsehaut. Schnell wende ich mich ab und springe Meryl hinterher, die bereits einige Meter Vorsprung hat.

Nach ungefähr zehn Minuten und mehreren passierten Abzweigungen erreichen wir das Ziel. Mir stockt der Atem. Ich kann nicht glauben, was ich sehe.

 

„Kann mich mal einer kneifen?“, murmle ich vor mich hin und blicke vom prachtvollen, filigranen Schloss zu meiner linken zu der märchenhaften Gartenanlage mit elysischem Brunnen auf meiner rechten. Unzählige, individuelle Skulpturen zieren sowohl die Schlossfassade als auch die Landschaft. Ich fühle mich wie in einem Traum, aus dem ich am liebsten nicht erwachen möchte. Das paradiesische Königreich, umgeben und beschützt von dem kraftvollen Gebirge.

„Ich werde Sie nicht kneifen, doch ich verspreche Ihnen, dass Sie nicht schlafen. Es ist alles echt“, beteuert Meryl und nickt mir freudig zu. „Sind Sie bereit, die Herrschaften kennenzulernen? Danach haben Sie genug Zeit, um sich in Ruhe umzusehen und das Anwesen zu erkunden.“

„J-ja, gerne.“ Noch immer sprachlos folge ich ihr zum reich verzierten und vergoldeten Eingangstor in der Mitte. Der opulente Anblick überfordert mich. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Das ändert sich auch nicht, als ich das Innere betrete. In der Mitte des Eingangsbereiches begrüßt uns das Abbild eines Reiters. Ich erhasche einen kurzen Blick zur Decke, an dem zwei Engel aus goldenen Strahlen emporzufliegen scheinen, jeder den Zipfel eines Bandes gemeinsam in der Hand halten, auf der Nec Pluribus Impar vermerkt ist. Die Angestellte führt mich an drei Marmorsäulen vorbei in den zweiten Eingangsbereich, der mit einem roten Teppich geschmückt ist. Wir passieren einen Sockel mit einer kobaltblauen Vase, die von einer mir unbekannten Motivszene geziert wird. Ich habe keine Zeit, länger darüber nachzudenken oder sie mir genauer zu betrachten, da sie nicht stehenbleibt und schnurstracks die dahinterliegende Treppe, die nicht minder verziert ist, hinaufschreitet. Ich eile ihr hinterher, durch weitere prachtvolle Räume hindurch in eine Art Büro, das zu meiner Erleichterung etwas schlichter gehalten ist. Vor einem antiken Holztisch bleibt sie stehen und deutet ein bisschen steif auf den davorstehenden Lederstuhl. Kommt es mir nur so vor oder ist sie plötzlich angespannt?

„Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich gebe Frau Loire Bescheid und hole den Tee. Möchten Sie ein Wasser dazu?“

„Nein, danke. Tee hört sich toll an.“

„Noch einen Rat. Reichen Sie Frau Loire nicht die Hand, sondern verbeugen Sie sich stattdessen vor ihr.“

Ich sehe sie irritiert an, doch sie nickt mir bestimmt zu.

„Glauben Sie mir. Sie mag keinen Körperkontakt. Wir verneigen uns alle vor ihr.“

„Okay … danke.“

Ich schenke ihr ein Lächeln und lasse mich dann auf die braune Ledergarnitur fallen, während sie kerzengerade den Raum verlässt. Nachdenklich schaue ich ihr hinterher. Verbeugen? Könnte eine Szene aus einem Film sein. Ein mulmiges Gefühl lässt meinen Magen krümmen. Und überhaupt: Die Stimmung ist von jetzt auf nachher gekippt. Kein Zweifel. Vorhin war Meryl lockerer gewesen. Ich weiß nicht, ob es an den Räumlichkeiten oder dem erschlagenden Prunk liegt, doch auch ich verspüre ein beklemmendes Gefühl um die Brust. Als würde jemand mit beiden Händen dagegen drücken. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und versuche, eine Gleichmäßigkeit hineinzubringen. Das lenkt mich ab und beruhigt. Ich hasse Vorstellungsgespräche. Zwar habe ich den Job schon sicher, das Gespräch hatte ich online vor ein paar Wochen, doch es ist das erste Mal, dass ich meinen Arbeitgeber vis à vis gegenüberstehe. Und nachdem ich den ganzen Reichtum gesehen habe … ich habe ganz schön Muffensausen. Sollten sie es sich anders überlegen, stehe ich ohne Dach über dem Kopf da. Vielleicht habe ich zu vorschnell gehandelt? Ich hätte meine Wohnung nicht gleich kündigen sollen und …

Das Klackern der Türklinke reißt mich aus meinem paranoiden Gedankenkarussell. Eine Frau Mitte Fünfzig in einem teuren Kostüm und funkelndem Schmuck betritt den Raum. Ihre langen, brünetten Haare hat sie zu einem strengen Zopf hochgesteckt. Reflexartig stehe ich auf und strecke ihr schon meine Hand entgegen, als ich ihre hochgezogene Augenbraue und ihren missmutigen Blick bemerke. Flugs ziehe ich meine Hand zurück und mache stattdessen eine leichte Verbeugung. Ihre rotgeschminkten Lippen verformen sich zu einem Lächeln, das mir zeigt, dass ich anscheinend gerade noch einmal die Kurve bekommen habe. Für den Tipp muss ich mich unbedingt später bei meiner neuen Arbeitskollegin bedanken.

„Herr Morningquest, bitte nehmen Sie Platz“, schnurrt sie und setzt sich mir gegenüber. Die Tür öffnet sich erneut und Meryl serviert den Tee. Frau Loire wartet geduldig, bis die Angestellte wieder aus dem Zimmer ist, dann beginnt sie das Gespräch erneut.

„Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“

„Und? Wie gefällt Ihnen unser trautes Heim?“ Bei der Frage lächelt sie mich auffordernd an, denn natürlich ahnt sie die Antwort bereits. Was sollte ich auch anderes darauf sagen?

„Es ist wirklich außergewöhnlich schön.“

„Ja, nicht wahr? Und Sie können sich noch immer vorstellen, hier zu arbeiten?“

„Das möchte ich unbedingt.“

„Sehr gut. Dann spricht auch nichts dagegen. Sie könnten ab morgen anfangen. Die wichtigsten Punkte haben Sie ja bereits mit meinem Mann online geklärt. Dann müsste ich Sie nur noch zum einen auf das Wichtigste hinweisen und zum anderen würden Sie dann noch den Arbeitsvertrag unterschreiben müssen.“

„Natürlich. Gerne.“ Ein kleiner Anflug von Erleichterung macht sich in mir breit. Jedoch reicht er nicht, um die mir unerklärlich starke Anspannung zu vertreiben.

„Herr Morningquest, Sie haben bereits gesehen, dass bei uns die Natur gehegt und gepflegt wird – somit an erster Stelle steht?“

„Ja, die Anlagen und Gärten sind wahrlich einzigartig …“

„Das stimmt, und damit es so bleibt, verlangen wir von Ihnen äußerste Verschwiegenheit. Alles, was hinter den Mauern in und auf unserem Grundstück passiert, darf unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit geraten.“

Etwas perplex sehe ich sie an und gebe mir alle Mühe, meine Gesichtszüge aufrecht zu erhalten. Ich verstehe zwar ihr Anliegen, allerdings nicht den Zweck dahinter. Was sollte schon groß passieren, wenn die Gesellschaft von der unbeschadeten Natur erfährt? Das ist doch nichts Schlimmes. Im Gegenteil.

Sie scheint meine Zweifel trotz der Bemühungen aus meiner Miene ablesen zu können. Ihre Mundwinkel zucken für einen flüchtigen Moment und mir stockt kurz der Atem. Hoffentlich habe ich es jetzt nicht versaut. Zu meiner Erleichterung formen sich ihre wohlgeformten Lippen zu einem Lächeln.

„Mein Mann und ich stehen bereits genug in der Öffentlichkeit. Wenn nun auch noch bekannt würde, dass unser Familiensitz von der Natur gesegnet ist, dann könnten wir uns vor Journalisten, Schaulustigen und Geistlichen nicht mehr retten. Letztere würden eventuell noch Besitzansprüche stellen oder ein Recht erwerben wollen, den Ort den Priestern für ihre Forschung in Sachen Biologie zur Verfügung zu stellen. Davor wollen wir uns schützen.“

Ich lasse ihre Worte sacken und muss gestehen, dass sie mit ihren Vermutungen wohl nicht ganz Unrecht hat.

„Das verstehe ich. Ich werde es selbstverständlich für mich behalten.“

„Das freut mich. Dann gibt es nur noch ein Anliegen, das Ihrer Zustimmung bedarf.“

Sie steht auf und läuft geschmeidig wie eine Katze zu dem Schreibtisch an der Frontseite des Zimmers und holt einige Blätter hervor. Ich beobachte jeden ihrer Schritte und ihrer Handgriffe. Noch nie in meinem Leben habe ich jemanden gesehen, der so anmutig ist. Sie führt jede ihrer Bewegungen mit Bedacht und Grazie aus.

„Das ist Ihr Arbeitsvertrag. Da ich leider gleich noch einen Termin habe, würde ich Sie bitten, ihn kurz zu Überfliegen und zu unterzeichnen. Sie haben mit meinem Mann ja bereits alle Punkte besprochen. Das Einzige, was dazu kommt, finden Sie auf der letzten Seite.“