Schattenschwestern

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Z serii: Dear Sister #3
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Schattenschwestern
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Maya Shepherd

Schattenschwestern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Für Sabrina Stocker,

Liebe Schwester,

Winter

Mona

Eliza

Winter

Mona

Eliza

Winter

Liam

Mona

Eliza

Winter

Liam

Mona

Eliza

Winter

Liam

Mona

Eliza

Winter

Liam

Mona

Eliza

Winter

Eliza

Liam

Winter

Danksagung

Impressum neobooks

Für Sabrina Stocker,

HAPPY BIRTHDAY!

(10.04.2015)

Liebe Schwester,

ich habe für dich alles riskiert und alles verloren: das Vertrauen unserer Eltern, meine Zukunft, Lucas, Will und am Ende sogar meine Freiheit. Alles, was mir zu hoffen bleibt ist, dass dies nicht alles umsonst war. Solange du mir verzeihen kannst, bereue ich nichts von all dem.

Ich muss dir etwas gestehen: Ich habe, als du in der Psychiatrie warst, in deinem Tagebuch gelesen. Du hast geschrieben, dass du mich hasst und das hat mir das Herz gebrochen. Es war mir zwar bewusst, dass ich dich sehr verletzt haben musste als ich dir Lucas weggenommen habe, aber ich wusste nicht, dass dein Schmerz so tief ging. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun. Nicht nur bis dahin, als ich als Schattenwandlerin zurück nach Wexford gekommen bin und dein Leben ins Chaos gestürzt habe, sondern schon viel früher. Bis zu dem Zeitpunkt als mein Leben begann aus den Fugen zu laufen. Manchmal ist es besser, wenn Dinge im Verborgenen bleiben und nie entdeckt werden.

Die Hoffnung dich schon bald wiedersehen zu können, hilft mir die Tage in der Untersuchungshaft zu überstehen. Fühle dich aber dadurch bitte nicht verpflichtet. Ich lasse dir die Zeit, die du brauchst, egal wie lange das auch sein mag.

Deine Schwester,

Eliza

Winter

Der Schnee fiel leicht wie Wattebällchen vom Himmel und legte sich auf die verschneite Landschaft vor meinem Fenster. Eisblumen waren noch von der Nacht auf der Scheibe zu erkennen. Im Haus lag der Geruch von gewürztem Rindfleisch und Plumpudding. Obwohl es erst Morgen war, stand meine Mutter bereits seit Stunden in der Küche, um unser traditionelles Weihnachtsessen vorzubereiten. Sie versuchte alles wie immer zu machen und trotzdem würde es nicht dasselbe sein. Die Abwesenheit von Eliza lag wie eine schwarze Wolke über uns allen. Während meine Eltern der Gedanke, dass ihre Älteste ausgerechnet Weihnachten im Gefängnis verbringen musste, das Herz brach, versuchte ich irgendetwas zu empfinden, Wut Mitgefühl irgendetwas. Es war mir nicht egal und es erfüllte mich auch nicht mit Genugtuung. Eliza hatte Will umgebracht und manch einer hätte vielleicht behauptet, dass es deshalb völlig richtig war, dass sie in Untersuchungshaft auf ihre Verurteilung wartete, aber ich wusste, dass sie dort nur meinetwegen saß. Bisher hatte mir der Mut gefehlt ihr gegenüber zu treten. Ich fürchtete mich vor ihrer Reaktion und noch mehr vor meinen eigenen Gefühlen. Sie war meine Schwester und ich wollte sie lieben, aber ich wusste nicht, ob ich das noch konnte. Es war so viel vorgefallen, dass ich mich manchmal sogar nach Velvet Hill zurücksehnte. Dort war es so viel leichter gewesen. Ich musste nur tun, was die Ärzte mir auftrugen und alle waren zufrieden gewesen. In meinem eigenen Zuhause fühlte ich mich wie eine Fremde.

„Winter!“, rief mein Dad ungeduldig aus dem Erdgeschoss. Ich löste mich seufzend von meinem Platz am Fenster, öffnete die Tür und schlurfte die Treppe hinunter, wo mich meine Eltern bereits in ihren Wintermänteln erwarteten.

„Muss das sein?“, fragte ich genervt.

„Die Frühmesse ist Tradition“, bestand Dad und Mum fügte hinzu: „Sie wird uns wenigstens für eine Stunde auf andere Gedanken bringen.“

Ich bezweifelte, dass irgendjemand von uns in der Kirche an etwas anderes würde denken können als an Eliza, aber ich wollte es meinen Eltern nicht noch schwerer machen und fing deshalb erst gar keine Diskussion mit ihnen an. Versöhnlich zog ich mir meine Stiefel an und schlüpfte in meinen blauen Wollmantel, den ich nur zu besonderen Anlässen trug. In diesem Moment beneidete ich Mona, die gegen die Bitten meiner Mum bei uns aus- und mit Liam in das Familienanwesen wieder eingezogen war. So entging sie wenigstens der Christmette.

Wir verließen das Haus und fuhren nach Churchtown. Es lag näher als Wexford und die Kirche dort bot mehr Platz. Trotzdem war der Parkplatz bereits voll als wir einfuhren und wir fanden auch in der Kirche nur Plätze auf einer der hintersten Bänke. Die Stimmung war aufgeregt und sogleich festlich. Die Menschen redeten freudig durcheinander, während die Kinder vor Nervosität kaum stillsitzen konnten. Sie mussten nur noch die Messe überstehen, danach das Weihnachtsessen und dann dürften sie endlich ihre Geschenke auspacken. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie ich als Kind Weihnachten empfunden hatte, um etwas der vergangenen Freude heraufzubeschwören, doch es gelang mir einfach nicht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das Fest auch ganz ausfallen lassen können. Das Jahr war mies gewesen und es gab für mich wirklich keinen Grund zu feiern.

Während ich meinen Blick über die gefüllte Kirche schweifen ließ, entdeckte ich die Rileys ein paar Bänke vor uns. Normalerweise fuhren sie über Weihnachten immer nach Dublin zu den Großeltern. Hatte es mit Eliza zu tun, dass sie dieses Jahr von ihrer Tradition abgewichen waren? Lucas trug nicht wie üblich seine graue Mütze, weshalb ich ihn von hinten kaum erkannt hätte. Sein jüngerer Bruder Toby war jedoch kaum zu übersehen. Er beschoss Lucas mit kleinen Papierkügelchen, die dieser zu ignorieren versuchte. Ich konnte jedoch an seinen angespannten Gesichtsmuskeln erkennen, dass er bald ausrasten würde. Glücklicherweise eröffnete in diesem Moment das laute Orgelspiel die Christmette und alle Kirchgänger standen auf, um die einziehenden Priester zu empfangen.

Als die Frühmesse vorüber war, ließen meine Eltern sich zu meinem Bedauern in Gespräche mit Bekannten verwickeln. Ich wollte nur noch nach Hause. Meine Mum bemerkte mein Unbehagen und drückte mir einen Euro in die Hand. „Zünde eine Kerze für Eliza an“, bat sie mich. Im Gegensatz zu mir wusste sie nichts von Schattenwandlern, Geistspringern und Medien, sonst hätte sie vermutlich auch nicht mehr an einen Gott geglaubt. Widerwillig ließ ich sie und Dad in der Menge zurück und trat zurück in die Kirche. Zur rechten Seite befand sich eine Marienstatue und davor stand ein Tisch auf dem ein Meer aus Lichtern brannte. Doch ich war nicht völlig allein. Vor den Kerzen stand andächtig Lucas in seinem schwarzen Anzug. Ich trat neben ihn, warf den Euro in die Sammelbüchse der Kirche und nahm mir ein Teelicht. Dieses entzündete ich an den anderen Kerzen und stellte es auf den Tisch.

„Glaubst du es geht ihr gut?“, fragte er mich leise. Es kam mir vor als wären wir auf einer Beerdigung und nicht bei einer Christmette.

„Wie soll es ihr schon gehen, alleine an Weihnachten in Untersuchungshaft“, erwiderte ich missbilligend.

 

Lucas sah mich entschuldigend an. „Warst du schon bei ihr?“

Schuldbewusst richtete ich meinen Blick auf die Marienstatue und schüttelte den Kopf. „Du?“

„Nein“, antwortete er und ich konnte sein schlechtes Gewissen deutlich heraushören. Ein schwaches Gefühl der Zuneigung flammte in meinem Inneren auf. Seitdem ich denken konnte, hatten Lucas, Eliza und ich Weihnachten zusammen verbracht. Nun waren nur noch wir beide übrig geblieben. Ich wusste, dass Lucas sie vermisste. „Was passiert, wenn sie keine Gefühle zu trinken bekommt?“, fragte ich ihn besorgt. Soweit ich wusste, hatte Eliza sich die letzten Monate fast ausschließlich von ihm ernährt. Er wusste über ihren Zustand vermutlich besser Bescheid als ich.

„Sie wird sich schon nehmen, was sie braucht“, erwiderte er ungewohnt kühl. Egal, was Eliza in der Vergangenheit getan hatte, war Lucas nie müde geworden sie zu verteidigen. Etwas musste zwischen ihnen vorgefallen sein, dass ihr Verhältnis grundlegend geändert hatte. Ich wusste, dass sie sich getrennt hatten, aber den Grund dafür kannte ich nicht. Es hatte mich bisher auch nicht interessiert.

„Bist du wütend auf sie?“, hakte ich nach.

Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich wünschte es wäre so einfach.“

„Wie ist es denn?“

Er zögerte mit seiner Antwort, als müsse er erst die Worte abwägen, bevor er sagte: „Ich bin wütend auf mich selbst.“

Überrascht hob ich die Augenbrauen. „Warum?“

„Ich habe sie im Stich gelassen, als sie mich am dringendsten gebraucht hat. Wenn ich sie nicht verlassen hätte, wäre das mit Will vielleicht niemals passiert. Vielleicht hätte ich hartnäckiger sein müssen, aber ich habe sie einfach aufgegeben.“

„Warum hast du dich von ihr getrennt?“ Meine Stimme war nur ein Flüstern in der Stille der Kirche. Ich fürchtete mich vor seiner Antwort, weil ich ahnte, dass es mit mir zusammenhing.

Er sah mir eindringlich in die Augen. „Für Eliza ging es nur noch darum den Jägerfluch zu brechen. Sie hätte alles getan, um dich zu retten.“ Er machte eine Pause, als täte ihm allein die Erinnerung weh. „Wenn ich sage alles, meine ich auch wirklich alles. Sie und Will haben einen Mord nach dem anderen geplant. Es war ihr völlig egal, dass ein Unschuldiger für ihren Plan sterben sollte. Das konnte ich mir nicht länger mit ansehen.“

Er hatte mir bereits bei seinem Besuch in Velvet Hill davon erzählt, doch mir war das Ausmaß nicht bewusst gewesen. „Du hast nichts falsch gemacht“, versicherte ich ihm, doch er schüttelte den Kopf. „Als ich sie verlassen habe, habe ich sie doch förmlich in Wills Arme getrieben. Sie hatte keinen Grund mehr zu zögern. Es war niemand mehr da, der ihr ins Gewissen geredet hätte. Niemand anderes, der für sie da war.“

„Du hast es versucht und sie hat nicht auf dich gehört. Du weißt doch wie sie ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann es ihr niemand ausreden.“

Meine Worte konnten ihn nicht beruhigen. Er war innerlich zerrissen von seinen Schuldgefühlen und seiner Verständnislosigkeit gegenüber Eliza. Es fiel mir selbst schwer zu begreifen, was sie bereit gewesen war zu tun, nur um den Fluch zu brechen. Will war ihr Freund gewesen und sie hatte ihn umgebracht.

Lucas und ich standen einander unsicher gegenüber. Wir wussten nicht mehr wie wir miteinander umgehen sollten. Zu viel war zwischen uns vorgefallen, was nicht einfach aus der Welt geräumt werden konnte. Er hatte mich belogen, betrogen und mir damit das Herz gebrochen. Von unserer einstigen Freundschaft war kaum noch etwas übrig. Alles, was uns noch miteinander verband, war die Vergangenheit und die Sorge um Eliza.

Seine Hand berührte mich zögerlich an der Schulter. „Halt mich auf dem Laufenden“, bat er.

„Mach ich“, versprach ich.

„Nollaig Shona Duit“, wünschte er mit einem schwachen Lächeln auf Irisch, immerhin war Weihnachten. Wir traten gemeinsam aus der Kirche, bevor sich unsere Wege trennten.

Meine Eltern beendeten ihre Gespräche und wir fuhren hinter den Rileys zurück nach Slade’s Castle. Vor unserem geschmückten Haus wartete bereits Mona. Mum hatte sie zum Weihnachtsessen eingeladen, aber sie war zu meinem großen Bedauern nicht alleine gekommen. Neben ihr stand Aidan. Der hatte mir gerade noch gefehlt! Noch ein Junge, der mir erst Hoffnungen gemacht und mich dann wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen. Er hatte mir nicht annährend so wehgetan wie Lucas, aber ich kannte ihn auch noch nicht so lange und war deshalb erst recht nicht bereit ihm zu verzeihen.

Mum stieg als erstes aus dem Wagen und lief Mona freudig entgegen. Sie drückte das zierliche Mädchen fest an sich, bevor sie Aidan ebenfalls zur Begrüßung umarmte. „Wie schön, dass ihr gekommen seid“, rief sie aus. Verräterin! Also hatte sie auch noch von Aidan gewusst und mir nichts gesagt.

Mit einem finsteren Blick ging ich auf die Drei zu. Mona und Aidan schienen vor schlechtem Gewissen vor mir zu schrumpfen, während Mum mich warnend ansah. Sie wollte keinen Streit an Weihnachten.

„Warum hast du deinen Cousin nicht mitgebracht?“, fragte sie Mona, als wir ins Haus traten.

„Liam steht nicht so auf Weihnachten“, erwiderte Mona ausweichend. Sein Name klang in mir wie ein Echo nach. Ein Teil von mir wollte ihn sehen, weil ich in seiner Gegenwart meist alles um mich herum vergaß, aber der andere Teil von mir wollte nichts mit ihm zu tun haben. Ihm war nicht zu trauen und seine Gesellschaft würde mich nur in Gefahr bringen. Er war von Anfang an nicht ehrlich zu mir gewesen. Das war keine Basis für eine Freundschaft, geschweige denn eine Beziehung.

Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, saßen wir alle mit vollen Bäuchen vor dem Kamin und lauschten den Klängen von ‚Fairytale of New York‘ von den Pogues, welches die Musikanlage zum gefühlten zehnten Mal an diesem Nachmittag spielte. Miss Snowwhite rieb schnurrend ihren schlanken Körper an meinem Bein und ließ sich von mir hinter den Ohren kraulen, während die übrigens zwölf Katzen sich im gesamten Raum verteilt hatten. Die Kleinste von ihnen, welche wir wegen ihres komplett schwarzen Fells „Pechmarie“ getauft hatten, rollte sich auf Monas Schoss mauzend zusammen. Auf der Fensterbank standen fünf Kerzen, welche die fünf Mitglieder dieses Hauses symbolisierten: Dad, Mum, Eliza, Mona und ich. Mum zählte sie bereits als festes Familienmitglied. So sehr ich ihre Herzlichkeit sonst bewunderte und schätzte, nervte sie mich nun. Zum ersten Mal an diesem Tag gestand ich mir ein, dass ich Eliza tatsächlich vermisste. Ich wollte nicht neben meiner Ersatzschwester und ihrem Freund auf dem Sofa sitzen, sondern neben meiner richtigen Schwester. Es kam mir plötzlich vor, als hätte ich Eliza seit Jahren nicht mehr gesehen. Das Gefühl war so überwältigend, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Wie schrecklich musste es für sie sein, nun alleine in einer Zelle zu sitzen. Doch ehe jemand etwas von meiner Trauer bemerken konnte, klingelte es an der Tür und ich sprang auf, als hätte mich etwas in den Hintern gestochen. Ich war für jede Unterbrechung dankbar, ganz egal wer dort vor der Tür stand. Als ich sie öffnete, rechnete ich insgeheim mit Lucas oder einem anderen Familienmitglied der Rileys. Doch stattdessen blickte eine hochgewachsene, blonde Frau zu mir herab. Sie trug einen eleganten schwarzen Mantel mit einem roten Schal und passenden roten Handschuhen. In ihren Händen hielt sie eine Flasche Wein. Irritiert sah ich sie an, worauf sie lachend die Arme ausbreitete. „Erkennst du deine eigene Tante nicht mehr?“

Es war Jahre her, dass ich die jüngere Schwester meiner Mutter gesehen hatte, trotzdem rief ich freudig aus: „Tante Rhona!“

Sie zog mich in eine Umarmung und hüllte mich völlig in den Rosenduft ihres Parfums ein. Als sie sich von mir löste, waren auch meine Eltern, sowie Mona und Aidan hinzugetreten. Während Dad sie ebenfalls freundlich begrüßte, verschränkte meine Mutter genervt die Arme vor der Brust. „Es ist Weihnachten!“, sagte sie vorwurfsvoll.

Rhona zuckte mit den Schultern. „Ich dachte mir das sei der perfekte Zeitpunkt, um zu meiner geliebten Familie zu stoßen.“ Sie ließ sich von Dad aus ihrem Mantel helfen, bevor sie ungerührt ins Wohnzimmer ging. Mums kühle Haltung ihrer Schwester gegenüber wunderte mich, selbst zu Fremden war sie herzlicher. Rhona ließ sich in der Mitte des Sofas nieder und streckte die Füße von sich aus. „Gemütlich habt ihr es hier“, verkündete sie und öffnete dabei die Flasche Wein, die sie mitgebracht hatte. Dad und Mum ließen sich auf den beiden Sesseln nieder, während Mona, Aidan und ich uns zu Rhona auf die Couch setzten. Die Stimmung war seltsam angespannt.

Als niemand etwas sagte, ergriff Mum erneut das Wort. „Du wolltest bereits vor Tagen hier sein“, klagte sie ihre Schwester an.

Rhona zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Mir ist etwas dazwischen gekommen.“

Mum kniff wütend die Lippen aufeinander, bevor sie zischte: „Eliza braucht dich!“

Erstaunt hob ich den Kopf. Was hatte Tante Rhona mit Eliza zu tun? Dad bemerkte meinen Blick und erklärte: „Rhona ist Anwältin. Sie wird Eliza vor Gericht verteidigen.“

„Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es da auch nicht an“, erwiderte Rhona. „Der Gerichtstermin ist erst in einem Monat.“

Unsicher sah ich zwischen meiner Mutter und meiner Tante hin und her. Sie starrten einander feindselig an. Schließlich schmiss Rhona sich ihre blonden Haare hinter die Schulter und sagte so fröhlich, als wäre nichts gewesen: „Habt ihr noch etwas zu essen für mich?“

„Essen steht in der Küche“, entgegnete Mum wütend. Für jeden anderen wäre sie sofort aufgestanden und losgelaufen, um das Essen anzurichten und demjenigen zu servieren.

Rhona funkelte sie herausfordernd an, bevor sie aufstand und sagte: „Ich hoffe du hast es nicht wieder versalzen, so wie früher.“

Mums Hände ballten sich zu Fäusten und sie schloss die Augen. So hatte ich sie noch nie erlebt! Sie sprach nie über ihre Schwester, aber ich hatte immer angenommen, dass es daran läge, dass sie einander kaum sahen. An die wenigen Male, bei denen ich Tante Rhona begegnet war, erinnerte ich mich kaum. Das letzte Mal war sicher fünf Jahre her. Insgesamt hatte ich meine Tante vielleicht dreimal gesehen.

Es klingelte erneut an der Tür. Immer noch mit meinen Gedanken bei meiner Mutter und ihrer Schwester öffnete ich nichts ahnend die Tür. Sein helles Haar fiel mir als erstes auf, danach sein unverschämtes Grinsen mit dem er mich seit unserer ersten Begegnung bedachte.

„Nollaig Shona Duit“, säuselte Liam.

Ich rollte genervt mit den Augen und erwiderte: „Ich sage Mona, dass du da bist.“ Doch als ich zurücktrat, fasste er nach meinem Arm. „Das hat noch Zeit. Ich bin nicht wegen Mona hier.“

In dem Moment drängte sich Miss Snowwhite an mir vorbei, um den Störenfried zu begutachten. Für gewöhnlich konnte man sie nicht als freundliche Katze bezeichnen, da sie die meisten Menschen mit einem schlecht gelaunten Fauchen begrüßte. Dazu gehörte auch Eliza. Doch Liams Charme schien selbst Eindruck auf meine Katze zu machen, die nun um seine Beine tanzte und ihren Kopf gegen seine Hose drückte zur Aufforderung sie doch endlich zu kraulen. Verräterin!

Augenblicklich verfinsterte sich mein Blick, als Liam sie hochhob und sie an sich drückte, was Miss Snowwhite schnurrend begrüßte. Ungerührt deutete Liam auf den Mistelzweig, der im Türrahmen über unseren Köpfen hing. „Wenn zwei Menschen am Weihnachtstag unter einem Mistelzweig stehen, müssen sie sich küssen“, erinnerte er mich grinsend.

Ich verschränkte abweisend die Arme vor der Brust, „Vergiss es!“ und deutete beleidigt mit dem Kopf auf die weiße Katze in seinem Arm. „Sie scheint mir ein größerer Fan von dir zu sein, als ich es bin. Vielleicht probierst du es bei ihr.“

Er begann zu lachen. „Sie weiß eben, was gut ist. Aber ich habe mir bereits gedacht, dass du nicht so leicht rumzukriegen sein wirst, deshalb habe ich mir etwas anderes für dich überlegt.“

Fragend hob ich die Augenbrauen.

„Warst du schon einmal Weihnachtsschwimmen?“

Damit entlockte er mir ein ungläubiges Lachen. „Ich bin doch nicht wahnsinnig.“

„Wer von uns beiden war denn in der Klapsmühle?“, konterte er frech. „Komm schon, das machen Tausende! Trau dich!“

Ich hörte wie Mum und Rhona sich in der Küche stritten und dachte an Aidan und Mona, die händchenhaltend auf dem Sofa saßen. Nicht gerade verlockend. Liam bot mir eine Alternative. Ich war von mir selbst überrascht, als ich mich sagen hörte: „Ich hole meine Badesachen.“

Liams Vorschlag nackt baden zu gehen, ignorierte ich.

 

Fünfzehn Minuten später saßen wir in seinem schwarzen Audi und fuhren in Richtung Waterford. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Meinen Eltern hatte ich nichts davon gesagt, dass ich zum Weihnachtsschwimmen fuhr. Für sie war ich mit Liam nur spazieren. Während der Fahrt schwiegen wir, erst als Liam auf den Parkplatz des Guillamene Cove fuhr, feixte er: „Solltest du ertrinken, freue ich mich auf Mund zu Mund Beatmung.“

„Erwarte nicht, dass ich dich rette, wenn du ertrinkst“, entgegnete ich mit kühler Stimme, aber einem Schmunzeln auf den Lippen.

Der Guillamene Cove war im Sommer ein beliebter Badeplatz, aber auch am ersten Weihnachtstag gut besucht. Am Morgen war sicher mehr losgewesen, doch auch jetzt hielten sich noch einige Menschen am Ufer auf. Ein paar wenige zitternd in Badesachen und die Anderen in dicken Wintermänteln, um die Mutigen anzufeuern.

Wir stiegen aus dem Auto und gingen zum Ufer. Das Wasser sah bereits nur vom Ansehen eisig aus. Alleine der Gedanke mich auszuziehen, ließ mich vor Kälte zittern. Doch Liam zögerte nicht einmal. Er warf seinen Mantel ab, als sei es 30°C warm und nicht etwas unter dem Gefrierpunkt. Danach folgten seine Stiefel und der Pullover. Erst als er an der Hose angelangt war, sah er mich herausfordernd an. „Was ist los? Bist du etwa zu feige?“

Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen und so begann ich ebenfalls mich unter den Blicken der neugierigen Zuschauer auszuziehen. Meinen Badeanzug hatte ich Zuhause direkt unter meine Kleidung gezogen. Liam hingegen stand zitternd in Boxershorts vor mir.

„Kalt?“, zog ich ihn frech auf und lief auf dem Steg bis zum Wasser. Ehe ich es mir anders überlegen konnte, holte ich tief Luft, kniff die Augen zusammen und sprang ins Meer. Das eiskalte Wasser schwappte über meinen Kopf und stach wie tausend Nadelstiche auf meinen Körper ein. Der Schmerz war fast unerträglich. Ich kämpfte mich wild strampelnd an die Oberfläche und schnappte gierig nach Luft. Diese erschien mir beinahe warm im Vergleich zum Wasser. Wenigstens machte Liam neben mir auch keine bessere Figur. Seine Lippen zitterten wie Espenlaub und von seiner Großspurigkeit war nichts mehr zu sehen. Erst als er meinen Blick bemerkte, begann er zu grinsen und spritzte mit der flachen Hand Wasser in meine Richtung.

Ich schwamm eilig zu der Leiter und kletterte an dem eisigen Metall zurück auf den Steg. Bibbernd vor Kälte zog ich ein Handtuch aus meiner Tasche und wickelte mich darin ein. Liam folgte mir. Seine Lippen hatten einen blauen Farbton angenommen. Als er sich das Wasser vom Körper getrocknet hatte, ließ er ungeniert sein Handtuch fallen und zog sich die nassen Boxershorts mit einem Ruck vom Körper. Erschrocken drehte ich ihm den Rücken zu und spürte wie trotz der Kälte Hitze in meine Wangen stieg. Ich hörte ihn hinter mir lachen. Er hatte nicht nur gewusst, dass ich so reagieren würde, sondern es sogar beabsichtigt. Seitdem wir uns kannten, empfand er eine irrsinnige Freude darin mich bloß zu stellen oder zu blamieren.

„Hast du etwa noch nie einen nackten Mann gesehen?“, zog er mich nun auch noch auf. Obwohl ich Lucas mein Leben lang kannte und wir mehrere Monate ein Paar gewesen waren, hatten wir diesen Punkt zu meinem Bedauern nie erreicht. In der Hoffnung, dass Liam mittlerweile wenigstens seine Hose wieder an hatte, drehte ich mich langsam zu ihm um. Er stand vor Kälte zitternd in seinen Jeans vor mir. Ich ließ meinen Blick über seinen Oberkörper gleiten und erwiderte betont lässig: „Ich habe schon besseres gesehen.“

Lucas war als Sportler in der Tat besser trainiert. Er hatte ein Sixpack wie ein Filmstar. Liam war schmaler und an seinem Bauch, seiner Brust und den Armen war lediglich eine Andeutung von Muskeln zu erkennen, was mir insgeheim jedoch besser gefiel, aber ich würde nicht den Fehler begehen, Liam das wissen zu lassen. Er war auch schon ohne Komplimente von mir selbstverliebt genug.

„Willst du dich nicht anziehen?“, konterte er ungerührt.

Meine Zehen und Finger fühlten sich wie Eisklumpen an, während ich am ganzen Körper bebte. „Das mache ich im Auto“, knurrte ich. Überraschenderweise reichte er mir ohne jede Diskussion seine Autoschlüssel, sodass ich samt meiner Klamotten den Strand verlassen konnte. Ich setze mich auf die Rückbank und schälte mich so schnell ich konnte aus meinem nassen Badeanzug, der unangenehm an meiner Haut klebte. Danach schlüpfte ich in meine Hose und gerade als ich mir meinen Pulli über den Kopf zog, stieg Liam ins Auto ein. Er drehte sich interessiert zu mir herum, doch ich war bereits komplett angezogen.

„Zu spät“, kommentierte ich seinen enttäuschten Blick mit einem frechen Grinsen, stieg aus und setze mich neben ihn auf den Beifahrersitz. Meine Haare hingen in nassen Strähnen von meinem Kopf. Es war unmöglich vor meinen Eltern geheim zu halten, dass ich schwimmen gewesen war. Aber passiert war passiert und sie würden es nicht ungeschehen machen können, egal wie sehr sie auch mit mir schimpfen würden. Vielleicht würde es sie aber auch gar nicht interessieren, immerhin hatten sie genug andere Probleme.

Draußen war es bereits dunkel, doch Liam machte keine Anstalten loszufahren, stattdessen wendete er sich mir zu. „Wie hat dir dein erstes Weihnachtsschwimmen gefallen? Hat es sich gelohnt?“

Ich lauschte in mein Inneres und stellte fest, dass ich ein Gefühl der Zufriedenheit empfand. „Jede Sekunde dieses arktischen Elends hat sich gelohnt“, sagte ich mit immer noch bläulichen Lippen.

„Der Stolz auf das Erreichte, wenn man es überstanden hat, ist ein überwältigendes Gefühl“, stimmte mir Liam zu und startete den Motor.

Während wir durch die Nacht fuhren und Waterford hinter uns zurückließen, fiel mir auf, dass Liam es mal wieder geschafft hatte mich völlig abzulenken. Zuvor war meine Laune mies gewesen, ich war von Schuldgefühlen zerrissen und hatte nicht mehr gewusst, was ich denken oder fühlen sollte. Jetzt fühlte ich mich ausgeglichener und konnte daran glauben, dass alles schon irgendwie wieder gut werden würde. Tante Rhona war jetzt da und sie würde Eliza schon aus der Haft bekommen. Aber bis es soweit war, nahm ich mir vor, dass ich meiner Schwester den längst überfälligen Besuch abstatten würde.

Ich sah zu Liam und musterte sein konzentriertes Gesicht. Vielleicht würden wir nie Freunde werden, weil unsere Moraleinstellungen grundverschieden waren, aber zumindest hatte er es als einziger geschafft mir an Weihnachten ein Lachen zu entlocken und dafür war ich ihm sehr dankbar.