Schattenchance

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Z serii: Dear Sister #5
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Schattenchance
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Maya Shepherd

Schattenchance

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Liebe Schwester,

Winter

2. Winter

3. Winter

4. Winter

5. Eliza

6. Winter

7. Evan

8. Eliza

9. Winter

10. Eliza

11. Evan

12. Winter

13. Eliza

14. Winter

15. Liam

16. Winter

17. Eliza

18. Winter

19. Eliza

20. Evan

21. Winter

22. Liam

23. Winter

Impressum neobooks

Liebe Schwester,

du erinnerst dich nicht daran, was geschehen ist, weil es in dieser Realität nie dazu kam. Du weißt nicht mehr, dass unser Vater, deine große Liebe Lucas und Aidan bei einem Ritual gestorben sind, bei dem du geopfert werden solltest, um deinen Erzeuger Charles Crawford unsterblich zu machen. Du weißt nichts von den Fomori. Doch am schlimmsten und schmerzhaftesten ist, dass du dich nicht daran erinnern kannst, wie nah wir einander standen. Du warst bereit, dein Leben für meines zu opfern.

Ich habe mit Hilfe von Evan die Vergangenheit verändert, sodass es nun zu alldem nicht gekommen ist. Dafür musste ich jedoch einen hohen Preis bezahlen: Ich habe dich verloren.

Auch wenn du noch da bist, so kommt es mir oft vor, als stände ich einer komplett Fremden gegenüber. Ich vermisse die Liebe in deinem Blick, deine festen Umarmungen und deine ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn ich dir von meinen Träumen erzähle. Es war auch früher nicht immer so. Die meiste Zeit haben wir uns gehasst. Aber so groß der Hass auch war, umso größer war die Liebe. Ich konnte mich immer auf dich verlassen.

Wenn es eine Möglichkeit gibt, dir deine Erinnerungen zurückzugeben, so werde ich sie finden. Im deinem Herzen wirst du jedoch immer die gleiche bleiben.

Deine Schwester

Winter

Winter

Meine Augenlider fühlten sich schwer und geschwollen an. Müde stützte ich meinen Kopf auf meiner Hand ab und hätte auf der Stelle in dem warmen Sonnenlicht, das durchs Fenster auf meinen Tisch fiel, einschlafen können. Es würde ein wunderschöner Frühlingstag werden – was für eine Verschwendung, ihn in der Schule verbringen zu müssen!

Das Wochenende hatte ich damit verbracht, mich möglichst unauffällig in Wexford in der Nähe von Liams Wohnung herumzutreiben. Ich kannte nun die Getränke- und Speisekarte sämtlicher Lokale, die sich dort im Umkreis befanden, auswendig. Am Samstag hatte er am späten Nachmittag in Begleitung von Faye das Haus verlassen. Ihr Umgang miteinander hatte mir zwar verraten, dass sie kein Paar waren, aber es schmerzte dennoch, sie zusammen zu sehen. Scheinbar wohnten sie sogar zusammen. Ich beneidete sie darum, sich in seiner Nähe aufhalten zu können, während ich so tun musste, als würde ich ihn nicht kennen. Wenn ich ihn sah, schlugen meine Gefühle Purzelbäume und ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Ich hatte nicht mitbekommen, wie oder wann er zurückgekommen war, aber am Sonntagmorgen stand er mit einem Kaffeebecher in der Hand auf seiner Dachterrasse und blickte auf die Stadt hinab. Das Sonnenlicht ließ sein hellblondes Haar beinahe weiß erstrahlen und küsste seine Haut. Ich erinnerte mich schmerzlich daran, wie es sich angefühlt hatte, wenn meine Fingerspitzen die Linien seines Tattoos auf seinem Unterarm nachgezeichnet hatten. Für einen kurzen Augenblick waren sich unsere Blicke sogar begegnet. Es hatte mich meine ganze Willensstärke gekostet, mich dazu zu zwingen, wieder wegzusehen. Er musste das Mädchen, das unten auf der Straße stand und zu ihm empor starrte, ohnehin schon für seltsam genug halten.

Evan war zwischendurch vorbeigekommen, jedoch nur, um mir zu erklären, dass ich mich dadurch, dass ich vor Liams Wohnung wie eine Stalkerin herumlungerte, nur verdächtig machte. Natürlich hatte er recht, aber ich konnte nicht anders. Immer wieder überlegte ich, bei ihm zu klingeln oder ihn anzusprechen, wenn er das nächste Mal das Haus verließ, doch was hätte ich ihm sagen sollen? Hallo, wir lieben uns, auch wenn du dich im Moment nicht mehr an mich erinnern kannst?

Er hätte mir kein Wort geglaubt und mich vermutlich noch dazu ausgelacht. Also war ich am Sonntagabend deprimiert nach Hause zurückgekehrt und hatte dennoch nicht schlafen können. Gedanklich war ich die verschiedensten Möglichkeiten durchgegangen, wie ich Liam auf mich aufmerksam machen könnte. Wenn wir erst einmal Zeit miteinander verbringen würden, würde er spüren, dass da etwas war, das uns verband, auch wenn er es sich nicht erklären könnte – sein Herz würde sich an mich erinnern.

Als es zur ersten Schulstunde klingelte, vergrub ich stöhnend das Gesicht zwischen meinen Händen, was Dairine mit einem Lachen kommentierte, mir auf den Rücken klopfte und mir zuraunte: „Ich will später einen genauen Bericht darüber, was zum Teufel du am Wochenende getrieben hast, dass du jetzt kaum die Augen offen halten kannst.“

Ihre Neugier überschlug sich schier – auch das noch! Sie konnte eine Lüge auf zwei Meilen Entfernung riechen und ich war zudem nicht sonderlich gut darin, Geschichten zu erfinden. Wenn sie das Gefühl bekäme, dass ich ihr etwas vorspielte, würde sie misstrauisch werden und es zudem als Verrat an unserer Freundschaft ansehen, dass ich ihr offenbar nicht genug vertraute. Dabei hätte ich nichts lieber getan, als sie einzuweihen. Sie hatte mir in der Vergangenheit bei jedem Problem treu und hilfsbereit zur Seite gestanden und es täte so gut, mich mit ihr austauschen zu können. Es wäre etwas anderes, mit ihr über Liam zu reden als mit Evan. Sie war nicht ohne Grund meine beste Freundin! Aber würde sie mir glauben, wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde?

Ich hatte das Gefühl, einen Liter schwarzen Kaffee trinken zu müssen, um den Schultag überstehen zu können. Es war weniger der Schlafmangel, der mich so fertig machte, sondern mehr die pure Verzweiflung. Zu allem Überfluss beehrte uns auch noch Eliza in der Mittagspause mit ihrer Anwesenheit. Als wäre sie die Königin der ganzen Schule, ließ sie sich an unserem Tisch wie selbstverständlich nieder und klopfte mit ihren rot lackierten Fingernägeln gegen ihre Cola light-Dose. Sie musterte erst mich kritisch und wandte sich dann Dairine zu.

„Findest du nicht auch, dass Winter sich seit ein paar Tagen seltsam benimmt?“

Dairine hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu meiner Schwester. Auf der einen Seite mochte sie ihre lockere, vorwitzige und geradezu wagemutige Art, die einen starken Kontrast zu meiner angeborenen Zurückhaltung bildete. Gleichzeitig war es aber genau dieses Verhalten, welches sie dazu brachte, Eliza für ihre mangelnde Empathie immer wieder aufs Neue zu verfluchen. In gewisser Hinsicht waren sie sich vielleicht manchmal sogar zu ähnlich, um wirklich eine enge Freundschaft bilden zu können.

„Ich dachte schon, ich bilde es mir vielleicht nur ein, aber wenn es sogar dir auffällt, muss wohl wirklich etwas dran sein“, entgegnete Dairine provozierend, worauf Eliza mit den Augen rollte.

Beide fixierten mich, als sei ich unvorbereitet in ein Verhör geraten. „Spuck es aus, was ist los?“, forderte meine Schwester.

„Steckt ein Typ dahinter?“, mutmaßte Dairine neugierig und traf damit voll ins Schwarze, wenn auch ganz anders, als sie dachte. Unbehaglich senkte ich den Kopf und suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die sie zufriedenstellen würde.

„Evan …“, krächzte ich, kam jedoch gar nicht weiter, da Eliza sich bereits triumphierend auf den Oberschenkel schlug.

 

„Ich wusste es! Lucas hat es abgestritten, aber ich sehe doch, wenn Liebe in der Luft liegt. Seit wann seid ihr zusammen?“

Während Eliza sich zu freuen schien, wirkte Dairine eher enttäuscht.

„Wir sind nicht zusammen“, stellte ich klar. „Er hat ein Problem, bei dem ich ihm helfe, das ist alles!“

Daraufhin brach Eliza in lautes Gelächter aus, wovon sich sogar Dairine anstecken ließ. „Sein Problem kann ich mir gut vorstellen“, japste meine Schwester.

Ich sendete mit den Augen Blitze in ihre Richtung. „Es ist nicht so, wie ihr denkt!“, beharrte ich verärgert.

Dairine hob besänftigend ihre Hände. „Winter, du kannst es ruhig zugeben. Evan ist doch süß. Warum machst du denn so ein Geheimnis daraus?“

Ich wollte erneut protestieren, doch just in dem Moment bog Evan um die Ecke und kam direkt auf uns zu. Vielleicht könnte er für Aufklärung sorgen, doch stattdessen zwinkerte er mir verschwörerisch zu und ehe ich mich versah, begrüßte er mich mit einem flüchtigen Kuss auf den Mund. Ich war viel zu verdattert, um zu reagieren. „Ich freue mich, dass du dich endlich dazu entschlossen hast, unsere Beziehung öffentlich zu machen“, säuselte er und sah mir dabei eindringlich in die Augen. Was sollte das denn jetzt?

Lucas gesellte sich nun ebenfalls zu uns und sah beinahe schockiert zwischen Evan und mir hin und her. „Ihr seid zusammen?“, wunderte er sich.

Evan legte seine Hand auf meine Schulter. „Ja, hast du etwas dagegen?“, blaffte er seinen besten Freund an.

Sofort machte Lucas abwehrend einen Schritt zurück. „Natürlich nicht, ich habe mich nur gewundert.“

Neugierig blickten alle zu ihm auf.

„Warum wundert dich das?“, bohrte Eliza nach.

Lucas lief rot an. „Ich … Evan …“ Er sah verzweifelt zu seinem Freund. „Du hast bisher einfach nicht den Eindruck gemacht, als hättest du ein Interesse an …“ Mädchen hätte er sagen sollen, doch stattdessen vollendete er den Satz mit: „Winter.“

Eliza erhob sich von ihrem Stuhl und schlang ihre Arme um Lucas‘ Hals. „Er hat eben auf die Richtige gewartet“, kicherte sie und warf mir einen belustigten Blick zu. „Ist es nicht süß, dass dein bester Freund nun mit meiner kleinen Schwester zusammen ist? Vielleicht können wir ja mal etwas zu viert unternehmen.“ Entschuldigend blickte sie in Dairines Richtung. „Nichts gegen dich.“

Der Blick meiner Besten verriet, dass dies einer der Momente war, in denen sie Eliza am liebsten den Kopf umgedreht hätte. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln und fühlte mich reichlich unwohl bei der ganzen Situation. Besonders, wenn ich daran dachte, dass in der anderen Realität Evan der Freund von Dairine gewesen war, bevor er sich geoutet hatte. Obwohl dies nun nicht passiert war, kam es mir vor, als hätte ich ihr den Freund ausgespannt, dabei waren Evan und ich ja nicht einmal wirklich ein Paar.

Lucas blickte noch einmal irritiert auf Evans Hand, die auf meiner Schulter ruhte, bevor er mit Eliza weiterging. Dairine verabschiedete sich ebenfalls, weil sie noch einmal auf die Toilette gehen wollte, bevor uns die letzten beiden Schulstunden bevorstanden: Sport.

Kaum, dass alle weg waren, fuhr ich zu Evan herum. „Was sollte das?“, fuhr ich ihn sowohl wütend als auch verständnislos an.

„Ich bin ihr Getuschel leid und das ist die einzige Erklärung, die sie akzeptieren werden, ohne uns weiter zu bedrängen.“ Evan und ich hatten weder in der vergangenen Realität noch in dieser viel miteinander zu tun gehabt. Er war Lucas‘ bester Freund und ich seine beste Freundin, mehr war da nicht gewesen. Umso auffälliger war es, dass wir nun scheinbar grundlos ständig die Köpfe zusammensteckten.

„Aber ich will Dairine nicht etwas vorspielen. Sie ahnt schon, dass etwas nicht stimmt! Wenn ich ihr schon nicht die Wahrheit sagen kann, will ich sie nicht auch noch zusätzlich belügen müssen.“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“, fuhr Evan mich genervt an.

„Wir weihen sie ein!“

Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Spinnst du? Sie glaubt uns doch kein einziges Wort!“

„Wenn uns jemand glaubt, dann sie“, beharrte ich. Sie wusste auch von Elizas Schattenwandlerfähigkeit. Natürlich war das etwas, das sie schon mit eigenen Augen hatte erleben können: Eliza, die plötzlich spurlos in den Schatten verschwand. Aber mein Gefühl sagte mir dennoch, dass es besser war, Dairine die Wahrheit zu sagen, als sie weiter zu belügen. Sie vertraute mir, genauso wie ich ihr und vielleicht würde sie uns genau deshalb glauben.

„Sie hat auch dein Geheimnis für sich bewahrt, obwohl sie jeden Grund gehabt hätte, wütend auf dich zu sein“, erinnerte ich ihn daran, dass Dairine niemandem davon erzählt hatte, was der wahre Grund für ihr Beziehungsaus gewesen war. Nicht einmal mir.

„Ich bezweifele ja auch gar nicht, dass sie eine gute Freundin ist.“

„Was ist es dann?“

„Es hört sich einfach zu verrückt an, als dass es jemand wirklich glauben könnte.“

„Wenn uns jemand glaubt, dann sie“, wiederholte ich noch einmal nachdrücklich. „Willst du nicht, dass sich irgendwann alle wieder daran erinnern können, was passiert ist?“

„Das ist unmöglich!“, wehrte er ab.

„Woher willst du das wissen, wenn wir es nicht wenigstens versuchen? Und um es versuchen zu können, brauchen wir jemanden, an dem wir es testen können. Dairine ist dafür perfekt geeignet!“

Er machte keinen überzeugten Eindruck und knetete unruhig seine Finger. Unsicher sah er mich an. „Hattest du auch das Gefühl, dass Lucas etwas eifersüchtig war, als er erfahren hat, dass wir zusammen sind?“

Lucas hatte sich in der Tat seltsam benommen, aber ich konnte nicht sagen, ob es wirklich Eifersucht war. Er wirkte ziemlich glücklich mit Eliza und ich wusste, dass es genau das war, was er immer gewollt hatte. Doch auch mit Evan war er auf dem Weg gewesen, glücklich zu sein. Das, was zwischen ihnen gewesen war, hatte nie die Chance bekommen, mehr zu werden.

„Wenn Lucas sich daran erinnern könnte, was geschehen ist, würde das deine Chancen erheblich steigern“, erwiderte ich und versuchte, ihn so davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, Dairine einzuweihen. Er war immer noch unsicher, aber zuckte nun ergeben mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beschwere dich nicht bei mir, wenn sie dich danach für übergeschnappt hält und nicht mehr mit dir reden will.“

Der Sportunterricht war das Schulfach, welches ich mit Abstand am wenigsten leiden konnte. Ich verabscheute Sport zwar nicht im Allgemeinen, aber ich mochte keine Ballspiele und auch nicht das alberne Verhalten meiner Mitschüler. Dairine und ich standen abseits von den anderen, die sich bereits munter Bälle zuwarfen, obwohl der Lehrer noch nicht aufgetaucht war. Das würde wieder eine ordentliche Standpauke geben!

„Wie kam das eigentlich zwischen Evan und dir?“, wollte sie gerade neugierig wissen. „Ich hatte wirklich gar keine Ahnung, dass ihr überhaupt ein Wort miteinander gewechselt habt.“ Sie klang enttäuscht.

„Glaub mir, mich hat es genauso überrascht wie dich“, erwiderte ich ausweichend. Zwar wollte ich sie einweihen, aber sicher nicht im Sportunterricht. „Ich könnte heute Abend …“, setzte ich an und wollte ihr eigentlich vorschlagen, bei ihr vorbeizukommen, um ihr alles zu erzählen, doch mir blieben die Worte im Halse stecken.

Ein Pfiff schrillte durch die Sporthalle und sämtliche Augenpaare richteten sich auf den Lehrer, der gerade aus der Umkleide trat. Er trug eine locker sitzende schwarze Sporthose und dazu ein graues Shirt, das an seinen Oberarmen etwas enger saß und so seinen muskulösen Körper erahnen ließ. Das Grau seiner Augen war beinahe noch auffälliger als sein hellblondes Haar, aus dem sich eine einzelne Strähne gelöst hatte und ihm lässig in die Stirn fiel. Er nahm seine Finger von den Lippen, mit denen er soeben den Pfiff erzeugt hatte.

Liam.

Mein Herz tanzte.

Was machte er denn hier? Das ganze Wochenende hatte ich vor seiner Wohnung verbracht und nun tauchte er einfach in der Sporthalle auf. Ausgerechnet in der Sporthalle! Er war doch Musiklehrer gewesen! Ich hatte nicht gewusst, dass er auch noch Sport studiert hatte. In Musik war ich bereits nicht sonderlich überzeugend, aber in Sport war ich eine absolute Niete! Ich würde seine Aufmerksamkeit höchstens durch meine Unfähigkeit erzielen können.

Völlig unvorbereitet traf mich ein Ball an der Stirn und ich ging zu Boden. Mir wurde schwarz vor Augen und für einen Moment rauschte das Blut in meinen Ohren. Als ich die Augen öffnete, schnappte ich erschrocken nach Atem. Liam kniete über mir und sah auf mich hinab. Seine Hand lag auf meiner Stirn.

„Tut das weh?“, fragte er. Ich spürte nichts außer seiner Berührung, die mir einen Schauer durch den ganzen Körper jagte. Benommen schüttelte ich den Kopf und hätte am liebsten meine Meinung geändert, als er seine Hand wegnahm.

„Das wird eine Beule werden. Morgen wirst du als Einhorn zur Schule kommen“, scherzte er mit verschmitztem Lächeln, das meine Beine weich werden ließ. Er erhob sich und richtete tadelnde Worte an den Mitschüler, der den Ball unachtsam in meine Richtung geworfen hatte. Danach wendete er sich wieder mir zu und reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Ich zögerte, sie zu ergreifen, aber als unsere Hände sich berührten, gab es einen Stromschlag, der uns beide erschrocken zurückzucken ließ.

Liam rieb sich lachend über die Handfläche. „Da ist wohl jemand von uns elektrisch aufgeladen.“ Er drehte sich dem Kurs zu. „Das war ein denkbar blöder Start, aber ich hoffe, dass wir in Zukunft besser miteinander auskommen werden. Ich bin Mr. Dearing und werde euch von nun an in Sport unterrichten.“

Das war der Tag, an dem Sport mein Lieblingsfach wurde.

2. Winter

Liam als Sportlehrer zu haben, veränderte alles. Zum einen eröffnete es mir ungeahnte Möglichkeiten, da wir uns nun beinahe täglich sehen würden, ohne dass er oder jemand anderes Verdacht schöpfen würde. Gleichzeitig verbot es mir mich zu oft vor seiner Wohnung blicken zu lassen. Wenn er mich nun dort sah, würde er wissen, dass ich eine seiner Schülerinnen war. Beim ersten Mal würde er sich vielleicht nicht viel dabei denken, aber das zweite, dritte und weiß Gott wievielte Mal würde ihn definitiv stutzig machen. Das konnte ich nicht riskieren. Ich hatte keinen Plan wie ich ihn dazu bringen sollte sich zu erinnern, aber es war erst einmal entscheidend, dass er mich überhaupt wahrnahm. Ihn um ein Date zu bitten, kam nicht in Frage, also musste ich ihm irgendwie anders auffallen. Im Idealfall natürlich positiv.

Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus und begutachtete meine untrainierten Oberarme in Dairines körpergroßem Spiegel, der sich neben ihrem Kleiderschrank befand. Es war Mittwochabend und wir hatten uns verabredet, um gemeinsam unsere Lieblingsserie zu schauen. Nicht etwa Vampire Diaries oder Teen Wolf, denn seitdem Schattenwandler in unserem Leben so normal waren wie Krankenschwestern oder Polizisten, war unser Bedarf an Mystischem und Fantasie gedeckt. Stattdessen liebten wir es, uns in den Verschwörungstheorien von Pretty Little Liars zu verfangen. Sie hob belustigt die rechte Augenbraue. „Was ist los? Wenn du dir um deine Figur Gedanken machst, hättest du vielleicht nicht vor gerade einmal zehn Minuten den Jumboeisbecher bis zum letzten Löffel in dich reinschaufeln sollen.“

Ich warf ihr einen grimmigen Blick zu. Als ich zur Tür hereingekommen war, hatte sie mir bereits den Eisbecher in die Hand gedrückt. Es war unser erstes Eis in diesem Jahr gewesen und sie wusste ganz genau, dass ich dem Vanilleeis von Lorenzo nicht wiederstehen konnte. Es war super cremig und hatte diese winzigen kleinen schwarzen Punkte von echter Bourbon-Vanille. Dazu Erdbeersahne und weiße Schokoladensoße. Ein wahrer Traum!

Eigentlich störte mich meine Figur auch gar nicht so sehr. Ich hätte gerne ein paar mehr Rundungen wie Eliza gehabt. Was mich störte, war, dass ich absolut unsportlich war. Das störte mich allerdings auch erst, seitdem Liam unser Sportlehrer war. Warum konnte er in dieser Realität nicht Musik unterrichten, wie ich es bereits gewohnt war?

„Was würdest du davon halten, wenn wir mit dem Joggen beginnen würden?“, schlug ich Dairine vor und zog schnell wieder meinen Cardigan über, um nicht länger den Anblick meiner zu hellen und untrainierten Haut ertragen zu müssen.

„Ähm …“, machte Dairine, „lass mich kurz nachdenken ... Gar nichts?“

 

„Dann eben ein anderer Sport. Wie wäre es mit Schwimmen?“ Ich ließ mich neben ihr auf dem großen Wasserbett nieder, das mich mit einem leisen Gluckern willkommen hieß. „Wenn es warm genug ist, könnten wir ins Freibad gehen und würden dabei sogar braun werden.“

Dairine gluckste. „Winter, du wirst nicht braun, egal wie lange du in der Sonne brutzelst, du würdest danach höchstens wie ein Krebs aussehen.“

„Es geht mir doch gar nicht um das Bräunen, sondern um den Sport.“

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Seit wann interessierst du dich für Sport? Du hast es doch noch nicht einmal nötig!“

Protestierend stemmte ich die Hände in die Hüften. „Nur weil ich nicht dick bin, heißt es nicht, dass mir Sport nicht guttun würde. Meine Haut könnte straffer sein und meine Ausdauer ist gleich Null.“

„Ich würde morden, um essen zu können, was ich will, ohne wie ein Hefeklos aufzugehen.“ Sie kniff sich demonstrativ in ihren Bauch. Auch Dairine hatte keinen Grund, sich über ihre Figur zu beschweren. Sie war zwar relativ klein, aber ihre Fettpölsterchen verteilten sich genau an den richtigen Stellen, wofür ich sie wiederum beneidete. In dieser Hinsicht waren wir typische Mädchen, die nie mit ihrer Figur zufrieden waren.

„Na also, dann lass uns aufhören zu jammern und etwas dagegen tun“, forderte ich sie auf.

„Mir reicht meine tägliche Fahrradfahrt zur Schule“, maulte sie jedoch immer noch desinteressiert.

„Wie wäre es dann mit einer Fahrradtour am Wochenende?“

Sie musterte mich kritisch. „Hat deine plötzliche Sportbegeisterung zufällig mit unserem neuen Lehrer zu tun? Wie war nochmal gleich sein Name?“

„Liam“, rutschte es mir prompt heraus, woraufhin sie geradezu entsetzt die Augen aufriss. „Mr. Dearing“, verbesserte ich mich schnell, lief aber dabei knallrot an.

„Woher kennst du seinen Vornamen?“, wunderte sich Dairine und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ihre Neugier lief auf Hochtouren.

„Er steht in dem Lehrerverzeichnis unserer Schulwebsite“, behauptete ich.

Sie schnappte fassungslos nach Luft. „Du hast ihn gegoogelt?“

„Nein!“, rief ich empört aus. „Ich habe etwas anderes nachgeschaut und er stand zufällig auf der ersten Seite. Was hätte ich tun sollen? Mir die Augen zuhalten?“

„Nein, bei Liam“, sie räusperte sich, „Mr. Dearing sollte sich keine Frau die Augen zuhalten.“ Kichernd rollte sie sich wieder auf den Bauch. „Er ist mit Abstand der heißeste Lehrer, den ich je gesehen habe. Aber es wundert mich, dass du das auch bemerkt hast. Du bist doch mit Evan zusammen!“ Ihr letzter Satz hörte sich leicht spitz an. Sie nahm es mir immer noch übel, dass ich ihr nicht vorher etwas von unserer Beziehung oder meinen angeblichen Gefühlen für ihn erzählt hatte. Das erinnerte mich daran, dass ich ihr die Wahrheit hatte sagen wollen, doch irgendwie erschien mir auch dieser Moment unpassend. Ich fürchtete mich insgeheim davor, dass Evan recht hatte und ich Dairine zu viel zumutete. Was, wenn sie mir doch nicht glaubte? Egal, was ich ihr erzählte, sie würde es für sich behalten, aber eventuell würde sie mich danach mit anderen Augen sehen. Als Verrückte, als Spinnerin, als Wahnsinnige!

„Ich mag Evan“, gab ich vage zurück und fühlte mich schlecht dabei.

„Ihr passt gut zusammen“, meinte Dairine. „Ihr seid das ideale irische Traumpaar! Er mit seinen rotbraunen Locken und du mit deinem kupferfarbenen Haar und der hellen Haut. Zusammen könntet ihr Werbung machen und viel Geld verdienen.“

Sie übertrieb. Ich verfluchte Evan dafür, dass er ihr und den anderen diese Lüge aufgetischt hatte, nur um sich vor Lucas nicht outen zu müssen.

Die Titelmusik von Pretty Little Liars begann.

Got a secret

Can you keep it?

Von der Straße her war ein lautes Rumpeln zu hören. Wir sahen uns beide überrascht an und stürzten dann gleichzeitig zum Fenster. Dairine wohnte in einer besser situierten Wohngegend mit direktem Blick auf den Strand. Ihr Haus war schon definitiv als Villa zu bezeichnen – die Art ihrer Eltern, sie für ihre mangelnde Zeit zu entschädigen. Der nächste Nachbar befand sich somit in einiger Entfernung. Doch nun stand vor dem weißen, freistehenden Anwesen ein leuchtend roter LKW eines bekannten Umzugsunternehmens. Die beiden Arbeiter in ihren roten Latzhosen hatten offenbar einen gewaltigen Schreibtisch nicht richtig gesichert, sodass dieser aus dem LKW gestürzt war und nun vor ihnen auf dem Boden lag. Entsetzt blickten sie auf das gute Stück, als ein weiterer Mann fluchend aus dem Haus gestürzt kam. Er trug einen eleganten Anzug und hatte das dunkle Haar streng zurückgegelt. Sein Anblick bescherte mir Schweißausbrüche und pure Panik.

Ohne verstehen zu können, was er sagte, hörten wir ihn laut schimpfen und schreien. Er war es unverkennbar: Charles Crawford, das Oberhaupt der Fomori und der biologische Vater von Eliza. Charles, der seinen eigenen Sohn in einem Ritual getötet hatte, um unsterblich zu werden. Charles, der nun in das Anwesen neben meiner besten Freundin zog.

„So ein Ekelpaket“, meinte Dairine und hatte Mitleid mit den Arbeitern, die den teuren Schreibtisch hatten fallen lassen. „Wer weiß, wie lange die armen Kerle schon schuften müssen, ist ja schon Abend, kein Wunder, dass sie sich dann nicht mehr richtig konzentrieren können.“

„Weißt du, wer das ist?“, flüsterte ich und versuchte, die Fassung zu bewahren.

Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Keine Ahnung, wie er heißt, aber er kandidiert wohl für den Bürgermeisterposten.“

„Er zieht doch gerade erst ein“, wunderte ich mich. „Wer soll den denn wählen?“

„Er muss ein ziemlich hohes Tier in seiner Partei sein. Immer, wenn ich ihn gesehen habe, war er umgeben von Anzugträgern.“ Die Fomori. „Geld regiert die Welt“, meinte sie schulterzuckend und verließ den Platz am Fenster, um sich wieder der Serie zuzuwenden. Die letzten Takte der Titelmusik verklangen.

Cause two can keep a secret

If one of them is dead

Fremde Schuhe standen in unserem Hausflur: schwarze Pumps aus Lackleder mit mindestens zwölf Zentimeter Absatz. Das konnte nur eines bedeuten: Tante Rhona war zu Besuch. Ich kannte niemanden außer ihr, der täglich solche Schuhe trug und dabei auch noch behauptete, dass sie bequem wären. Insgeheim vermutete ich, dass Rhona sich mehr in den Schatten bewegte als auf ihren Füßen und deshalb vergessen hatte, wie schmerzhaft solche Schuhe nach einer gewissen Zeit werden konnten. Seitdem ich unsere Vergangenheit neu gemalt und unsere Mutter dazu aufgefordert hatte, Eliza zu erzählen, dass sie adoptiert war, bevor sie es selbst herausfinden konnte, schneite Rhona etwa alle drei Monate unangekündigt bei uns rein. Sie war es gewesen, die Eliza geholfen hatte, die Verwandlung zur Schattenwandlerin durchzustehen, ohne, dass diese ein großes Chaos und Drama anrichtete. Eliza wusste auch, dass Rhona ihre leibliche Mutter war, doch über ihren Erzeuger wahrte sie stets Stillschweigen, was meine Schwester nicht nur enttäuschte und frustrierte, sondern auch sehr wütend machte. Sie wollte unbedingt wissen, wer es war, doch bisher war ihre Suche nach ihm immer erfolglos geblieben. Zum Glück!

Nachdem ich gesehen hatte, wie Charles Crawford in das Anwesen neben Dairine eingezogen war und sie mir auch noch das Gerücht aufgetischt hatte, er wolle für den Bürgermeisterposten kandidieren, ahnte ich nichts Gutes. Rhona steckte mit ihm unter einer Decke, war sozusagen seine rechte Hand. Nur weil sie Eliza schon einmal vor ihm gerettet hatte, musste das nicht bedeuten, dass wir uns auch in dieser Realität auf sie verlassen konnten. Ich vertraute ihr einfach nicht!

Missmutig zog ich meine Schuhe ebenfalls aus und trat ins Wohnzimmer, wo meine Mutter auf der Couch saß.

„Was macht Rhona denn schon wieder hier?“, murrte ich genervt und ließ mich neben ihr in das tiefe Polster plumpsen.

„Das nenne ich doch mal eine herzliche Begrüßung“, ertönte die gefühlskalte Stimme meiner Tante aus dem Nichts und sie tauchte neben dem Kamin aus den Schatten auf. Dicht gefolgt von Eliza, die heute auch nicht in der Schule gewesen war.

„Rhona meint, ich bin weit genug, um die Erinnerungskontrolle zu erlernen“, erzählte meine Schwester stolz, die ihre leibliche Mutter nach wie vor bei ihrem Namen nannte. Mum sagte sie nur zu Susan - unserer gemeinsamen Mutter. Dennoch bewunderte sie Rhona und sah zu ihr auf, wenn sie nicht gerade über sie schimpfte, weil sie sich weigerte, ihr den Namen ihres leiblichen Vaters zu nennen. Sie gab sich Mühe, die Schattenwandlerfähigkeiten zu beherrschen, um so endlich die Anerkennung von Rhona zu erlangen.

Eliza wäre mit der Erinnerungskontrolle in der Lage, die Erinnerungen von Menschen aus dem Kurzzeitgedächtnis zu löschen. Sie könnte zum Beispiel dieses Gespräch für mich ungeschehen machen, sodass ich gar nicht wüsste, dass Rhona zu Besuch gewesen war. Es war irgendwie verrückt, sie über Erinnerungen reden zu hören, wenn sie selbst sich an ganze zwei Jahre ihres Lebens nicht erinnern konnte.

„Wofür soll das gut sein?“, gab ich missmutig zurück. „Die Erinnerung eines Menschen sollte nur ihm gehören und nicht von jemand anderem gelöscht oder manipuliert werden können.“

Eliza machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du bist doch nur eifersüchtig, das ist alles.“

Rhona ließ den Blick über mich gleiten, wann immer sie einen ansah, hatte man das Gefühl, unter Verdacht zu stehen, etwas verbrochen zu haben. „Warum so schlecht gelaunt?“, fragte sie. Wir hatten noch nie ein enges Verhältnis gehabt, aber früher hatte ich auch nicht gewusst, was ich nun wusste. Rhona war meine einzige Tante gewesen und alleine deshalb hatte ich ihr Sympathie entgegengebracht. Es weckte ihr Misstrauen, dass ich mich lautstark über ihre Anwesenheit beschwerte.