Philosophie der Wissenschaft

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2.1.2Induktion und Deduktion





Nichtsdestoweniger sollten wir uns zunächst doch darüber im Klaren sein, dass die Grundlegung der Wissenschaft durch unsere Erfahrungen mit der Welt eine relativ neue Erscheinung im Denken über das Wissen darstellt. Ein Mann wie Francis Bacon mit der Behauptung, nur die ‚Induktion‘, also der Weg zu allgemeinen Erkenntnissen im Ausgang von einzelnen Beobachtungen von Ereignissen in der Welt, sei der richtige Weg zur Wissenschaft, hätte sich in dem gedanklichen Zusammenhang, der zuvor 1.500 Jahre lang gegolten hatte, kaum als ‚Wissenschaftler‘ profilieren können. Heute dagegen gilt er als einer der Gründerväter der neuzeitlichen Wissenschaft, weil nach seiner Auffassung nur die Erfahrung die Grundlage unseres Wissens darstellen kann. Für uns, die wir alle in der gedanklichen Welt der inzwischen ausgebildeten Wissenschaft aufgewachsen sind und sozialisiert wurden, mag das selbstverständlich klingen. Für seine Zeit war es eine Revolution, mit der er sich gegen die gesamte Tradition der Gewinnung von Wissen stellte.



Natürlich lässt sich dagegen leicht darauf hinweisen, dass auch zuvor schon von Tischlern, Müllern, Schmieden, Seilern, Bauern, Maurern und in vielen anderen Gewerben so etwas wie Wissen eingesetzt worden war, das auf Erfahrung beruhte und nicht auf der Lektüre und Interpretation mehr oder weniger heiliger Schriften. Das ist gewiss richtig. Aber auch heute zählen wir das ‚praktische‘ Wissen von Handwerkern nicht in den Bereich der Wissenschaften. Im Unterschied zur vor-neuzeitlichen Epoche verändert die technische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse jedoch zahlreiche Gewerbe auf fundamentale Weise wie etwa den Beruf des Kfz-Mechanikers, sie lässt andere ganz verschwinden (erinnert sich noch jemand daran, was ein Schriftsetzer war?) und neue entstehen (wer eine Ausbildung zum Mechatroniker hat, stößt bei manchen älteren Menschen immer noch auf Unkenntnis über dessen Tätigkeit). Das Wissen, das vor-neuzeitlich als wissenschaftlich galt, war dafür jedoch nicht geeignet. ‚Praktisches‘ und ‚wissenschaftliches‘ Wissen waren zwei ganz verschiedene Formen des Wissens, die sich nicht beeinflussten, und nur das erstere hatte einen Bezug zur Erfahrung.



Man könnte den Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft deshalb auch als den Siegeszug des Wissens der Handwerker und Bauern gegen das Wissen der Theologen und Philosophen auffassen. Francis Bacon bestand darauf, dass die Erfahrung eine Form des Wissens darstellen kann, das gilt, ohne sich durch den Bezug auf – z. B. – angeborene Ideen, die mit uns auf die Welt kommen und unsere Erkenntnis formen, oder auf über die Jahrhunderte unverändert geltende Vernunfteinsichten über das Wesen der Natur und der Dinge rechtfertigen zu müssen. Wenn wir unser Wissen über die Erfahrung hinaus erweitern wollen, so können wir dies zwar tun, aber nur so, dass wir dies auf der Grundlage der Erfahrung tun, vor der sich alles darüber hinausgehende Wissen rechtfertigen muss. Dadurch wurde das Erfahrungswissen aber nun in neue Zusammenhänge gestellt, durch die es sich vom praktischen Wissen der Handwerker und Bauern zu unterscheiden begann. Über deren Wissen sollte das durch Erfahrung begründete Wissen nun weit hinausgehen können. Es sollte ein systematisches Wissen mit allgemeinen Ansprüchen und universeller Geltung begründen können. Und daran hatte zuvor weder ein Philosoph oder Theologe noch ein Handwerker oder Bauer jemals gedacht.



Die neuzeitliche Wissenschaft beginnt also mit der Forderung, unsere Theorien über die Welt und das, was sich in ihr ereignet, sollen sich an der Erfahrung ausweisen können. Das führt in ein Problem, das bis heute fortwirkt und alles andere als gelöst ist. Wenn sich Theorien erst mithilfe der Erfahrungen, die wir mit der Welt machen, begründen können, dann dürfen Theorien offenbar nicht in dem Prozess mitwirken, in dem wir solche Erfahrungen machen. Die Erfahrung bzw. das Erfahren, das Grundlage der Wissenschaft sein soll, darf nicht schon das enthalten, was doch erst durch das Erfahren begründet werden soll.



Das ‚Allgemeine‘, über das die Wissenschaft uns Kenntnisse verschaffen soll, darf also nicht die Grundlage für das ‚Einzelne‘ darstellen, aus dem erst ein allgemeines Wissen entwickelt werden kann. Auch das ist eine Umkehr – eine Revolution – der Vorstellung vom Wissen, die bis zum Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft gegolten hatte. Wenn die Vernunft oder die aus heiligen Schriften entnommenen bzw. interpretierten Einsichten am Anfang des Wissens stehen sollen, dann ist eine Beteiligung des Wissens vom Einzelnen an der Wissenschaft durchaus nicht ausgeschlossen. Dieses Wissen muss sich aber von den allgemeinen Einsichten aus der Vernunft und/oder den heiligen Schriften leiten lassen. Ganz anders liegt der Fall bei einer Orientierung alles Wissens an der Erfahrung, wie sie Francis Bacon einführte. Alles Allgemeine muss sich nun vom Einzelnen her begründen – nur in der Erfahrung von einzelnen Dingen und Ereignissen finden wir die Grundlage für allgemeine Erkenntnisse, die wir deshalb offenbar nicht für unsere Erfahrungen voraussetzen können.



Das ist nur eine andere Formulierung für jenes Problem, das sich aus der Begründung der Wissenschaft durch eine von Theorien vollständig freie Erfahrung ergibt. Eine Konzeption von Wissenschaft, wie wir sie am Anfang ihres neuzeitlichen Verständnisses einer Erfahrungswissenschaft vorfinden, muss offenbar annehmen, dass wir (a) vollständig theorienfrei und (b) vollständig auf die Beobachtung von Einzelnem konzentriert eine solche Grundlage für die Wissenschaft legen können, deren Aufgabe doch gerade darin besteht, (a) Theorien zu entwickeln, die (b) uns etwas Allgemeines sagen, das von vielen einzelnen Gegenständen und/oder Ereignissen gilt. Es hilft uns wissenschaftlich nicht weiter, wenn wir wissen, dass die Katze Lucy Mäuse fängt, dass ein Apfel gerade in Richtung Erde gefallen ist (und nicht in Richtung Himmel), und dass gerade das Licht den Raum erhellt, nachdem wir den Lichtschalter umgelegt haben. Die Wissenschaft beginnt erst dann, wenn wir wissen (oder zumindest danach fragen), warum Katzen Mäuse fangen (und – glücklicherweise – nicht etwa Schlangen), wenn wir den Fall des Apfels mithilfe der Gravitation erklären und sogar noch seine Fallgeschwindigkeit errechnen können, und wenn wir wissen, wie Licht entsteht und wir Elektrizität einsetzen können, um Licht auch dann zu erzeugen, wenn die Natur es uns nicht zur Verfügung stellt.



Mit diesem Problem schlägt sich das Denken über die Begründung der Wissenschaft in der Beobachtung bzw. in der Erfahrung bis heute herum. Offenbar ist das aber kein Spezialproblem, das nur Wissenschaftler interessieren müsste. Es betrifft vielmehr grundsätzlich unser von der Wissenschaft geleitetes Verständnis der Welt, aber auch unsere sozialen Beziehungen und unser Selbstverständnis, wenn gefragt wird, ob und inwieweit sich die Wissenschaften auf die wirkliche Welt beziehen und ob und inwieweit wissenschaftliche Aussagen so sind, dass wir annehmen dürfen, sie würden die Welt der Dinge und Ereignisse, so wie sie wirklich ist, beschreiben und erklären. Wenn wir nicht einsehen können, wie wir von dem einzelnen Ereignis, das wir beobachten können, zu allgemeinen Aussagen kommen, die wir als solche nicht beobachten können, dann können wir auch den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft nicht einsehen. Das gilt jedenfalls so lange, als wir diesen Wahrheitsanspruch durch einen ‚direkten‘ Kontakt mit der Wirklichkeit auf dem Wege der Beobachtung und damit unserer Erfahrungen mit der Welt und dem, was in ihr geschieht, einlösen wollen.



Eine solche Einlösung kann grundsätzlich auf zwei Weisen geschehen, und beide haben ihre eigenen Probleme. Zunächst können wir die allgemeinen Aussagen der Wissenschaft so mithilfe von Beobachtungen und Erfahrungen zu begründen versuchen, dass wir die Beobachtungen aneinanderreihen und gleichartige zusammenfassen. Wenn wir dann im Verlaufe der Zeit feststellen, dass sich Beobachtungen regelmäßig wiederholen, so könnten wir daraus den Glauben begründen, es werde sich eben immer so verhalten und das werde sich auch in Zukunft nicht ändern. Katzen jagen Mäuse, die Sonne geht am Morgen im Osten auf und am Abend im Westen unter, und der Apfel fällt vielleicht nicht weit vom Stamm, aber doch immer in Richtung Erde. Dieses Verfahren bezeichnet man grundsätzlich als ‚Induktion‘ – dies deshalb, weil darin ein Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen enthalten ist. Natürlich muss es sich dabei nicht um so einfache Schlüsse handeln wie demjenigen, wonach aus den vielen Beobachtungen, dass Katzen Mäuse jagen, das allgemeine Gesetz ‚Alle Katzen jagen Mäuse‘ abzuleiten ist. Es kann sich auch darum handeln, aus vielen Messungen über fallende Gegenstände das newtonsche Gravitationsgesetz abzuleiten, wonach die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern immer eine Funktion der schweren Massen dieser beiden Körper und ihres Abstandes voneinander ist, wenn man darüber hinaus noch eine Gravitationskonstante berücksichtigt.



Und damit haben wir auch schon ein großes Problem vor uns. Offenbar bleiben wir damit nicht mehr bei Beobachtungen und bei der Erfahrung. Dass die Katzen, die uns bisher begegnet sind, die Gewohnheit hatten, Mäuse zu jagen, ist eine Beobachtung und entspricht unserer Erfahrung. Die Behauptung, dass alle Katzen Mäuse jagen, ist dagegen nicht zu beobachten, ebenso wenig wie die Behauptung, dass es sich mit der Anziehungskraft zwischen zwei Körpern immer so verhält, wie es das newtonsche Gravitationsgesetz angibt, mithilfe noch so vieler Messungen gemessen werden kann. Es handelt sich in beiden Fällen um Schlüsse. Schlüsse aber sind nichts, was wir beobachten können, sondern das Ergebnis einer Tätigkeit des Denkens. Die Behauptung des Empirismus war es jedoch gerade, dass uns die Wissenschaft nicht über die Welt und die Dinge und Ereignisse in ihr belehrt, indem wir uns etwas denken, sondern nur so, dass wir mit den Dingen und Ereignissen über unsere Sinne in Kontakt treten. Es scheint also so zu sein, dass dieser Anspruch es uns nicht erlaubt, solche allgemeinen Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten aufzufinden, die uns die Wissenschaft doch nach unserem Vorverständnis liefern sollte. Wir könnten das Problem auch so formulieren: wenn wir wissenschaftliche Aussagen mit Allgemeinheitsanspruch aufstellen, dann scheinen wir den Kontakt mit der wirklichen Welt zu verlieren, den wir doch – so war die Behauptung – nur über die Beobachtung und die sinnliche Erfahrung der Welt gewinnen können.

 



Es gibt jedoch einen Trick, mit dem man diesem Problem vielleicht entkommen kann. Er nennt sich ‚Deduktion‘. Auch dabei stellt der ‚Kontakt‘ mit der Welt der Dinge und Ereignisse über die sinnliche Wahrnehmung und die Erfahrung die Grundlage für das Auffinden wissenschaftlicher Erkenntnisse dar. Aber man vermeidet das Problem, was uns denn das Recht gebe, von einer Reihe von Beobachtungen auf Gesetze von allgemeiner Geltung zu schließen, auf eine elegante Art, die allerdings ihre eigenen neuen Probleme aufwirft. Man kehrt dabei die Richtung des Schließens einfach um. Es wird nicht mehr aus vielen Beobachtungen geschlossen, es werde sich in allen gleichartigen Fällen so verhalten, wie wir es bisher beobachtet haben. Eine ‚Deduktion‘ beginnt nicht mit den einzelnen Beobachtungen, sondern mit der Feststellung, dass gleichartig zu beschreibende Ereignisse stets ein bestimmtes Ergebnis zeigen. Am Anfang steht also nicht die oft wiederholte Beobachtung, dass Katzen Mäuse jagen, sondern am Anfang steht die allgemeine Feststellung ‚Alle Katzen jagen Mäuse‘. Natürlich kann das Beispiel auch wesentlich komplizierter sein, wie etwa im Falle des newtonschen Gravitationsgesetzes: hier beginnt die Deduktion mit dem Satz ‚Die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern ist eine Funktion der schweren Massen dieser beiden Körper und ihres Abstandes voneinander‘.



Aus solchen Feststellungen über allgemeine Zusammenhänge werden nun solche Ereignisse in der Wirklichkeit abgeleitet (‚deduziert‘), die der Beobachtung zugänglich sein müssen, wenn die betreffende allgemeine Aussage gilt. Die sinnliche Wahrnehmung und damit die Erfahrung haben hier eine ganz andere Funktion als bei dem Verfahren, das wir oben als ‚Induktion‘ bezeichnet hatten. Dort hatte der sinnliche Kontakt mit der Welt die Aufgabe, uns zu allgemeinen Aussagen über Dinge und Ereignisse zu führen. Nun kommt den Wahrnehmungen und Erfahrungen die Funktion zu, darüber zu entscheiden, ob die allgemeinen Behauptungen über die Welt tatsächlich gelten, aus denen geschlossen wurde, dass bestimmte Wahrnehmungen möglich sein müssen, wenn diese Behauptungen uns wirklich über die Welt informieren. Wenn gilt, dass alle Katzen Mäuse jagen, dann sollten wir tatsächlich nur Katzen beobachten können, die Mäuse jagen. Wenn das newtonsche Gravitationsgesetz gilt, dann sollten wir bei wiederholten Messungen feststellen, dass tatsächlich eine Abhängigkeit der Anziehungskraft zwischen zwei Körpern von ihren schweren Massen und von ihrem Abstand besteht.



Es war David Hume, der darauf hinwies, dass weder das Kausalitätsprinzip noch das Induktionsprinzip logisch oder empirisch begründbar sind. Diese Einsicht hatte schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie. Wir können sie etwa in der Entwicklung der Kantischen Philosophie sehen, in der Kausalität zu einem reinen Verstandesbegriff wurde, den wir benötigen, um aus der ‚Mannigfaltigkeit‘ der Sinneseindrücke eine objektive und erfahrbare Welt zu strukturieren. Eine Induktion kann nicht durch Beobachtung gerechtfertigt werden, denn es wird auf das geschlossen, was noch nicht beobachtet wurde. Der Ausweg, Induktion durch Induktion zu rechtfertigen (induktives Schließen hat sich bisher bewährt, also wird es sich auch in Zukunft bewähren …), wäre ein Zirkelschluss. Das gilt auch für ein ‚epistemisches Induktionsprinzip‘, wonach sich aus dem bisherigen explanativen und prognostischen Erfolg einer Theorie im Vergleich zu einer Alternativtheorie schließen lasse, diese Theorie werde auch künftig erfolgreicher sein als die Alternativtheorie. Auch eine Rechtfertigung der Induktion durch eine wahrscheinlichkeitstheoretische Umformulierung ist nicht möglich, denn dies würde ein probabilistisches Induktionsprinzip voraussetzen, woraus die gleiche Begründungsschwierigkeit entstehen würde.





2.1.3Verifizierung und Falsifizierung





Gewitzte Leserinnen und Leser werden jetzt schon einen Einwand parat haben, der etwa so lauten könnte: wenn es bei dem Verfahren der ‚Induktion‘ solche Probleme macht, aus vielen Beobachtungen auf einen allgemein bestehenden Zusammenhang zu schließen, dann können doch auch noch so viele Beobachtungen keine Grundlage für allgemeine Behauptungen über die Welt abgeben – auch dann nicht, wenn bestimmte Beobachtungen aus solchen allgemeinen Behauptungen abgeleitet werden können. Und genau so ist es. Wissenschaftstheoretiker sprechen hier vom ‚Verifizierungsproblem‘, und eine umfassende Erörterung dieses Problems stellte die Grundlage für eine der bekanntesten Theorien über die Wissenschaft im 20. Jahrhundert dar, nämlich für Karl Poppers sog. ‚Falsifikationismus‘.



In der Tat lassen sich Theorien – Aussagen und bisweilen umfangreiche Systeme von Aussagen über allgemein geltende Zusammenhänge in der Wirklichkeit – nicht dadurch ‚beweisen‘, dass man nach zu beobachtenden Ereignissen sucht, die sich aus diesen Aussagen ableiten lassen. Dass alle Katzen Mäuse jagen, führt zwar zu der Ableitung, dass dann jede Katze, die wir antreffen, tatsächlich bereit sein muss, mit bösartigen Absichten nach kleinen Nagern zu fahnden. Aber jede einzelne Beobachtung eines solchen Verhaltens führt dennoch nicht dazu, dass jene allgemeine Aussage tatsächlich als eine Beschreibung der Wirklichkeit bestätigt wird, denn darin ging es um ein für alle Katzen zutreffendes Benehmen. Mit der Suche nach einzelnen verifizierenden Ereignissen, die sich aus jener allgemeinen Aussage ableiten lassen, ignorieren wir aber genau dies.



Das wäre natürlich anders, wenn die Behauptung lauten würde: ‚Manche Katzen jagen Mäuse‘. Hier würde es zur Bestätigung sicher genügen, einige Katzen zu finden, die sich so verhalten. Sollte sich die Wissenschaft vielleicht auf solche Aussagen beschränken? Nun, das wäre eine mögliche Wissenschaft – aber es wäre nicht die Wissenschaft, die sich seit etwa 300 Jahren entwickelt hat und die wir meinen, wenn wir den Ausdruck ‚Wissenschaft‘ heute gebrauchen, und der wir Erfolge im Umgang mit der Natur zuschreiben, die sich Menschen in den Jahrhunderten zuvor kaum hätten vorstellen können. Was würden wir von einem Wissenschaftler halten, der uns erklärte, Stahlbeton von einer bestimmten Stärke habe manchmal die Festigkeit, die es erlaubt, die Fußböden und Zwischenwände eines fünfstöckigen Hauses zu tragen? Würde jemand in einem Haus wohnen wollen, das ein Statiker und ein Architekt auf dieser ‚wissenschaftlichen‘ Grundlage entworfen und gebaut haben?



Wollen wir also eine Wissenschaft haben, wie wir sie seit mehreren Jahrhunderten kennen, so können wir das Problem mit der ‚Verifikation‘ nicht so einfach vermeiden. Nichtsdestoweniger wollen wir doch weiter Beobachtungen als Grundlage für den ‚Kontakt‘ unserer Wissenschaft mit der Wirklichkeit, also mit der Welt und den Dingen und Ereignissen in ihr, betrachten. Folglich können wir allgemeine Aussagen, die beanspruchen, etwas zu sagen, das für bestimmte Fälle immer gilt, nicht einfach durch noch so viele Erfahrungen, in denen es genau so war, als bestätigt ansehen. Empirische einzelne Aussagen können eine allgemeine Hypothese also nicht bestätigen.



Diese aus der ‚Induktion‘ bekannte Lage wirkt sich nun prinzipiell auch dann aus, wenn wir versuchen, aus Behauptungen über allgemeine Zusammenhänge Vorhersagen für das zu entnehmen, was wir in bestimmten Fällen beobachten sollten, auch wenn das in vielen Fällen nach Wunsch glückt. Dafür gibt es ein Argument, das allerdings ein wenig unseren gängigen Vorstellungen widerspricht. Man nennt es das Rabenparadoxon. Es geht so: Bei der Anwendung des induktiven Verfahrens müssten wir etwa behaupten, dass der Satz ‚Alle Raben sind schwarz‘ wahr ist, wenn wir nur genügend schwarze Raben beobachtet haben. Setzen wir nun die Deduktion ein, der zufolge die Beobachtung vorausgesagt werden kann, dass wir weiter schwarze Raben beobachten, so müsste man sagen, dass jede neue Beobachtung eines schwarzen Raben jenen Satz bestätigt. So weit, so gut.



Unglücklicherweise kann nun aber auch der Satz ‚Alle nicht schwarzen Dinge sind keine Raben‘ bestätigt werden durch die Beobachtung eines jeden nicht schwarzen Dinges in der Welt, das kein Rabe ist, wie z. B. durch eine weiße Katze, die weder schwarz noch ein Rabe ist. Immer noch so weit, so gut. Aber nun sagt uns ein Logiker sehr einleuchtend, dass die beiden Sätze ‚Alle Raben sind schwarz‘ und ‚Alle nicht schwarzen Dinge sind keine Raben‘ äquivalent im logischen Sinne sind. Das können wir hier natürlich nicht näher ausführen, sondern wir glauben es dem Logiker einfach. Leider ergibt sich daraus aber eine äußerst unschöne Situation – jedenfalls dann, wenn wir an einer Bestätigung von Aussagen über allgemeine Zusammenhänge durch fortgesetzte Beobachtung entsprechender Fälle festhalten wollten. Denn wegen dieser Äquivalenz wird nun jener Satz ‚Alle Raben sind schwarz‘ nicht nur durch das Beobachten von schwarzen Raben bestätigt, sondern auch durch jede Beobachtung eines nicht schwarzen Dinges, das kein Rabe ist. Die Beobachtung einer weißen Katze bestätigt demnach den Satz ‚Alle Raben sind schwarz‘. Das klingt absurd, aber bisher hat noch niemand nachgewiesen, dass dieses Argument falsch ist.



Aber wir waren ja bereits davon überzeugt, dass sich Aussagen über allgemeine Zusammenhänge nicht dadurch als wahre Beschreibungen der wirklichen Welt nachweisen lassen, dass wir aus ihnen einzelne Beobachtungen ableiten und diese auch wirklich machen. Aus ‚Alle Raben sind schwarz‘ können wir zwar ableiten, dass wir nur schwarze Raben beobachten können sollten, aber jede einzelne Beobachtung eines schwarzen Raben macht jene Aussage nicht ‚wahrer‘. Natürlich gibt es für dieses Problem eine Lösung, die sogar ganz einfach ist, und vermutlich ist jede Leserin und jeder Leser schon von selbst darauf gekommen. Ursprünglich galt diese Lösung allerdings als eine wirkliche Innovation im Zusammenhang der Probleme mit einer Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen durch Beobachtungen und damit durch unsere Erfahrung mit den Dingen und Ereignissen in der wirklichen Welt.



Wenn wir schon Aussagen über allgemeine Zusammenhänge wie zwischen den Raben und der schwarzen Farbe oder zwischen der Anziehungskraft, die ein Körper gegen einen andern ausübt, und deren schweren Massen und ihrem Abstand voneinander nicht durch einzelne Beobachtungen bestätigen können, so können wir doch etwas bescheidener sein. Wir könnten zumindest versuchen, solche Aussagen zu widerlegen, indem wir nach Ereignissen suchen, die mit diesen Aussagen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Wenn gelten soll, dass alle Raben schwarz sind, so können wir diese Behauptung vielleicht nie bestätigen, aber wir können doch ein Verfahren angeben, das sie endgültig und restlos widerlegen würde. Dazu muss es uns nur gelingen, einen einzigen Raben aufzufinden, der nicht schwarz ist. Niemand kann dann noch behaupten, dass alle Raben schwarz sind, höchstens, dass die meisten Raben schwarz sind, aber das war ja gerade nicht gemeint, und in wissenschaftlichen Aussagen geht es um Sicherheit und Gewissheit, und nicht um Sätze mit ‚bisweilen‘ und ‚gelegentlich‘ oder ‚vielleicht‘, die man in der schönen Literatur ohne weiteres akzeptieren könnte.



Wir können also zwar nicht aus der Wahrheit solcher Beobachtungen, die sich als Konsequenz einer wissenschaftlichen Aussage oder Theorie ergeben, auf die Wahrheit der Theorie zurückschließen. Aber wir können aus der Unwahrheit einer solchen Beobachtung, die notwendig aus einer Theorie folgt, auf die Unwahrheit dieser Theorie schließen. Man nennt dies das ‚Falsifikationsprinzip‘ – die Unwahrheit einer Theorie stellen wir dadurch fest, dass wir versuchen, aus ihr solche Beobachtungen abzuleiten, die sich in der Erfahrung als falsch herausstellen. Statt nach möglichst vielen schwarzen Raben zu suchen, um die Aussage ‚Alle Raben sind schwarz‘ zu bestätigen, empfiehlt dieses Prinzip also, intensiv nach nicht-schwarzen Raben zu suchen, denn wenn wir hier erfolgreich sind, dann können wir jene Aussage aufgeben, da sie sich als falsch erwiesen hat.

 



Dieses Prinzip hat aber eine schwerwiegende Konsequenz: es kann nie wirklich bestätigte und damit ‚wahre‘ Theorien geben. Die Wissenschaft besteht nach dieser Auffassung über die Bedeutung der Beobachtung und damit der Erfahrungen, die wir mit der Welt machen, betreffend den Bezug wissenschaftlicher Behauptungen zu eben dieser Welt lediglich aus noch nicht falsifizierten Aussagen und Theorien. Auch bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die uns unerschütterlich erscheinen, so dass sich niemand mehr vorstellen kann, sie könnten falsch sein, können wir nicht ausschließen, dass irgendwann und irgendwo und von irgendwem solche Beobachtungen gemacht werden, die nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen, die aus ihnen abgeleitet werden können. In diesem Fall müssten wir unsere Theorie verändern, aber ohne behaupten zu können, die veränderte und damit neue Theorie stellte nun endlich wahre Beschreibungen der Welt und der Dinge und Ereignisse in ihr dar. Der Unterschied ist nur der: die alte Theorie hat sich als falsch erwiesen, während das für die neue Theorie bis jetzt nicht der Fall ist.



Karl Popper hatte die Möglichkeit der ‚Falsifizierbarkeit‘ geradezu als Kriterium dafür ausgezeichnet, dass wir es überhaupt mit einer wissenschaftlichen Aussage oder Theorie zu tun haben. Eine Aussage oder ein Zusammenhang von Aussagen gehört nur dann zu den empirisch-wissenschaftlichen Aussagen bzw. Theorien, wenn aus ihr oder ihm solche Beobachtungen abgeleitet werden können, die prinzipiell die Möglichkeit bieten, mithilfe unserer Erfahrungen mit der Welt als falsch nachgewiesen zu werden. Das muss allerdings nicht heißen, dass als ‚wissenschaftlich‘ nur solche Theorien bezeichnet werden dürften, die immer noch nicht widerlegt sind, obwohl Heerscharen von Forschern viele Jahre lang emsig damit beschäftigt waren, solche Beobachtungen zu finden, die mit den aus einer Theorie ableitbaren Beobachtungen nicht übereinstimmen. Das Zauberwort ist hier ‚prinzipiell‘ – entscheidend ist nicht, dass solche Versuche schon gemacht wurden (vielleicht gibt es zurzeit nur noch nicht die experimentellen Möglichkeiten), sondern dass die Theorie überhaupt dazu fähig ist, widerlegt zu werden. Ihre Widerlegungsfähigkeit erteilt einer Theorie also die Würde, als wissenschaftlich bezeichnet zu werden.



Wir haben uns nun einen Eindruck von der im alltäglichen Verständnis und weitgehend auch im Selbstverständnis von Wissenschaftlern mehr oder weniger deutlich noch vorherrschenden Vorstellung über die Bedeutung von Wahrnehmung und Beobachtung für wissenschaftliche Feststellungen verschafft. Wir haben auch die grundlegenden Probleme gesehen, die in Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Induktion und Deduktion entstehen. Schließlich haben wir die Begrenztheit der naheliegenden Verwendung der Deduktion mithilfe des Prinzips der Falsifizierung skizziert und damit Zweifel an der Notwendigkeit von Wahrnehmung und Beobachtung für die Wissenschaft gesät.



Wir werden nun die Grundlegung der empirischen Wissenschaft bei David Hume darstellen, der für diese damals neue Auffassung von Wissenschaft gute Gründe entwickelt hat, der aber auch schon die Grenzen des Empirismus gesehen hat. Damit unterscheidet er sich deutlich von Francis Bacon, der gerne als der Begründer der empirischen Wissenschaft angesehen wird, und er unterscheidet sich von John Locke, der zu mentalen Gegenständen namens ‚ideas‘ greifen musste, um die Mitteilbarkeit von Erkenntnissen verständlich machen zu können. Wir begeben uns mit der Wissenschaftsphilosophie des Empirismus an den gedanklichen Anfang dessen, was heute als empirische Wissenschaft bezeichnet wird.





2.2Die Grundlagen des Empirismus







2.2.1Eindrücke und Vorstellungen als Basis des Wissens





Am Anfang der modernen Wissenschaft stand eine Überlegung, nach der nur noch die sinnliche Wahrnehmung die Grundlage für unser Wissen von der Welt und dem, was sich in ihr ereignet, darstellen kann. Dieser Gedanke ist bis heute mit dem Namen von David Hume verbunden. Er fasste im 18. Jahrhundert den Beginn unseres Wissens über die Welt so auf: es beginnt in dem, was er allgemein als ‚Perzeptionen‘ bezeichnete (perceptions). Darunter verstand er zunächst Wahrnehmungen – aber nicht nur. Zu den Perzeptionen und damit zu den Ausgangspunkten unseres Wissens gehörten nach seiner Auffassung auch Gedanken, aber auch Wünsche und Gefühle. Man könnte also auch sagen: Perzeptionen sind all das, von dem wir wissen, dass es irgendwie in unsere