Philosophie der Wissenschaft

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Es sollte bereits jetzt deutlich sein, dass die Philosophie der Wissenschaft kein Konkurrenzunternehmen zur Wissenschaft darstellt. Sie will also auf keine Weise ein ‚besseres‘ Wissen von der Welt entwickeln oder auch nur beschreiben, wie ein solches besseres Wissen auszusehen hätte. In der Regel geht sie davon aus, dass die Wissenschaften uns das gegenwärtig ‚beste‘ Wissen über die Welt zur Verfügung stellen. Aber sie belässt es nicht dabei, sondern stellt die Frage, was ein solcher Superlativ denn bedeuten solle, m. a. W.: nach welchen Kriterien sagen wir, es handle sich bei der Wissenschaft um das ‚beste‘ verfügbare Wissen? Wenn wir darauf antworten, es sei deshalb das ‚beste‘ Wissen, weil wir damit am erfolgreichsten in der Welt solche Zwecke erreichen können, die uns Vorteile bringen, so stellt die Philosophie der Wissenschaft eine andere Frage: was bedeutet dabei ‚erfolgreich‘ und sogar ‚erfolgreicher‘ als andere Ansprüche auf Wissen wie etwa aus älteren Wissensformen wie Erkenntnis aus reiner Vernunft, Interpretation heiliger Schriften oder auch aus Wissensansprüchen, die auch heute noch im Rahmen von Esoterik und sog. ‚alternativen‘ Erkenntnissen etwa in der Medizin auftreten? Und dann stellt sich die weitere Frage, in welchem Zusammenhang dieses Kriterium des Erfolgs mit dem Bezug der Wissenschaft zur Realität – also zur Wirklichkeit unserer Erfahrung – steht, man könnte auch sagen: mit dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft.

Die Philosophie der Wissenschaft will auch nicht den Wissenschaftlern vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben und wie sie ‚gute‘ von ‚schlechter‘ Wissenschaft unterscheiden können. In der Regel sind Wissenschaftler relativ intelligente Menschen und können solche Fragen unter sich regeln. Mit dem Entwerfen von Vorschriften für ‚richtiges‘ Arbeiten in den Wissenschaften geben sich wohl noch einige Wissenschaftstheoretiker im engeren Sinne ab, während die Philosophie der Wissenschaft davon Abstand hält. Sie beschäftigt sich stattdessen mit ‚Wissenschafts-reflexion‘, d. h. sie verlässt die Haltung der Wissenschaft, die in Richtung der Dinge und Ereignisse in der Welt abzielt, und wendet sich zurück auf eben das Tun der Wissenschaft selbst. Dazu gehört zunächst die Rekonstruktion dessen, was Wissenschaftler tun, und an dieser Stelle wird noch sehr wenig bis überhaupt keine Philosophie eingesetzt, anders gesagt: eine empirische Beschreibung von Wissenschaft ist zwar eine wichtige Grundlage für die Philosophie der Wissenschaft, aber sie ist selbst noch keine Philosophie.

Wo die Philosophie beginnt, beschrieb Wilfrid Sellars so: „The ideal aim of philosophizing is to become reflectively at home in the full complexity of the multi-dimensional system in terms of which we suffer, think, and act.“2 Das entscheidende Wort für die Unterscheidung der Philosophie von anderen Formen des Denkens, Wissens oder der Überzeugungen über die Welt und das Leben der Menschen hat Sellars selbst kursiv setzen lassen: ‚reflectively – auf eine reflektierte Weise‘. Mit der Welt bekannt sein können wir offenbar auch auf andere Weise, etwa durch das Wissen der Naturwissenschaft, mithilfe unserer Alltagsüberzeugungen, mit denen wir in der Regel ganz gut zurechtkommen, oder auch auf der Grundlage von umfassenden Zusammenhängen von Gedanken über die Welt, wie wir sie in religiösen Systemen finden können. Aber keine dieser Wissens- und/oder Glaubensformen genügt dem Kriterium ‚reflektiv‘, das Sellars für die Philosophie reserviert.

Ein sehr allgemeines Verständnis für dieses Kriterium könnte so beschrieben werden. In der Wissenschaft ebenso wie in Systemen von Glaubensüberzeugungen geht es um Beschreibungen und Erklärungen für die Welt der Tatsachen bzw. der Dinge – was sie sind, wie sie sind, warum sie so sind, und auf welche Weise wir sie am besten nach unseren Wünschen beeinflussen können. In der Philosophie dagegen wird ‚zurück-beugend‘ – ‚reflektiert‘ wörtlich übersetzt – gedacht, d. h. das hier gesuchte Wissen bezieht sich auf eben die Beschreibungen und Erklärungen für die Welt der Tatsachen und Dinge, über die wir in der Wissenschaft ebenso wie in Systemen von Glaubensüberzeugungen und im alltäglich-lebensweltlichen Wissen Auskunft gewinnen wollen. Das philosophische Wissen bezieht sich also auf die begrifflichen und gedanklichen Mittel, mit denen wir nach einem ‚direkten‘ Wissen von der Welt streben. Man könnte die Unterscheidung deshalb auch mithilfe der Ausdrücke ‚intentio recta‘ und ‚intentio obliqua‘ beschreiben. Die erstere Intention richtet sich direkt auf die Dinge und Tatsachen, die letztere dagegen auf die Gedanken und Begriffe, mit denen wir uns in der intentio recta auf die Welt beziehen.

Auf dieser Grundlage lässt sich der gegenwärtige Stand des Denkens der Wissenschaftsphilosophie gut anhand der Unterscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus verdeutlichen, wie ihn Ian Hacking formuliert: „Der wissenschaftliche Realismus besagt, dass die von richtigen Theorien beschriebenen Gegenstände, Zustände und Vorgänge wirklich existieren.“3 Der ‚wissenschaftliche Realismus‘ erhebt also einen bestimmten Anspruch. Die ältere Wissenschaftsphilosophie hätte diesen in einem Satz formulierten Anspruch nach seinem Aussagewert aufgefasst und für diese Position oder für die entgegengesetzte Position des Anti-Realismus oder ‚Idealismus‘ argumentiert. Auf dem gegenwärtigen Stand dagegen wäre ein solches Argumentieren hoffnungslos veraltet.

Der neue Zugang zu einer solchen Position, wie Hacking sie hier beschreibt, stützt sich vielmehr auf ein Argumentieren, das sich auf die verwendeten Begriffe ‚wirklich‘ und ‚existieren‘ und auf ähnliche Ausdrücke wie ‚wirklich richtig‘ oder ‚wahr‘ oder ‚es gibt‘ richtet. Was ist damit gemeint und was meinen wir, wenn wir uns mit diesem Meinen auf ‚die Welt‘ beziehen? Natürlich würde die Position eines Anti-Realismus die gleiche Behandlung vonseiten der modernen Wissenschaftsphilosophie erfahren. Was soll es heißen, dass es so etwas wie Elektronen ‚nicht gibt‘ oder dass sie nicht ‚etwas Wahres‘ darstellen? Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Positionen wäre deshalb eine Position, die heute nicht mehr eingenommen werden kann. Wohl aber kann man danach fragen, wie solche Ausdrücke wie ‚richtig‘, ‚wahr‘, ‚existieren‘ oder ‚es gibt‘ verwendet werden, was zwischen einem Sprecher, der solche Ausdrücke verwendet, und seinem Zuhörer geschieht, welche Ansprüche damit erhoben werden, wie man auf sie reagiert und wie man die erhobenen Ansprüche einlöst.

Wenn Wissenschaftler also behaupten, die Welt sei genau so, wie die Naturwissenschaft – und in erster Linie die Physik – es uns erklärt, und hinzufügen, es gebe das alles, von dem die Physik sagt, ‚Das gibt es‘, und betonen, das sei alles wirklich so, wie die Gesetze der Physik es beschreiben, dann ist das aus der Perspektive der Wissenschaftsphilosophie gar nicht so falsch. Also steht die Naturwissenschaft doch in Kontakt mit der Welt, wie sie an sich ist, und erklärt uns, wie die Wirklichkeit von Anbeginn der Zeit und bis in alle Ewigkeit hin war, ist und sein wird? Äh, jein. Der Philosoph muss auch an dieser Stelle den Spielverderber spielen, ohne aber einfach widersprechen zu können – er kann nur und immer wieder die lästige Antwort geben, die man eigentlich von Juristen erwartet: ‚Das kommt darauf an‘. Und worauf kommt es an? Nun, natürlich darauf, wie man solche Ausdrücke wie ‚es gibt‘ und ‚es ist‘ und ‚wirklich‘ und ähnliche versteht.

Wenn die Philosophie ‚Reflexion‘ ist und sich damit weder mit der empirischen Wirklichkeit (direkt) befasst noch Begriffsanalyse ist, so ist sie eine Erweiterung des Denkhorizontes der Wissenschaft und ihrer Theoriebildung über die ‚Welt‘. Ist sie damit ‚wahrer‘? Ist sie damit ‚näher‘ an der Wirklichkeit? Nein, denn natürlich gilt für sie das Gleiche wie für die Wissenschaft selbst. Wissenschaft ist grundsätzlich die (Selbst-)Explikation eines bestimmten Denkhorizontes. Nichts anderes ist die Philosophie, die ihre Geschichte hat und diese Geschichte expliziert. Die Philosophie kann die Naturwissenschaften nicht erkenntnistheoretisch ‚fundieren‘, sondern nur auf sie reflektieren und sie damit aufklären – was wiederum eine Aufklärung nur für jemanden darstellt und nicht für jedermann, d. h. ihre Akzeptanz ist denkgeschichtlich voraussetzungsvoll. Aber die Reflexion gehört zu einem vollständigen Verständnis dessen, was in der Wissenschaft geschieht. Durch die wissenschaftsphilosophische ‚intentio obliqua‘ kann eine Aufklärung über den Status dieser Erkenntnis gewonnen werden. Für das menschliche Selbstverständnis ist es gerade heute in der Zeit des Vordringens der reflexionslosen Gehirnforschung in die Formung der Art, wie wir uns selbst aufzufassen haben, entscheidend, wie wir Wissenschaft, also das Wissen in der ‚intentio recta‘, aufzufassen und zu verstehen haben. Alternative Wissensformen wie Glaubenssysteme können daraus ihren Standort besser bestimmen und erkennen, wie weit sie durch Wissenschaft bedroht werden oder vielleicht auch nicht.

1Der Ausdruck ‚Antinomie des Realismus‘ stammt von Hilary Putnam (The Dewey Lectures 1994: Sense, Nonsense, and the Senses: An Inquiry into the Powers of the Human Mind, in: Journal of Philosophy 91/1994, S. 445–517, S. 456). In diesen Vorträgen beschreibt Putnam das Problem auch so, dass wir uns eine Welt vorstellen müssten, „in which there are, as it were, ‚noetic rays‘ stretching from the outside into our heads“. (Putnam, a. a. O., S. 461) Putnams eigener Vorschlag zur Auflösung dieser Antinomie bestand übrigens in dem Vorschlag „zum natürlichen Realismus des einfachen Mannes“ zurückzukehren, also mit Hegel gesprochen, zum natürlichen Bewusstsein, und es dabei bewenden zu lassen (Putnam, The Threefold Cord: Mind, Body, and World, New York 1999, S. 15).

 

2Sellars, W., The Structure of Knowledge, in: Castaneda, H.-N., Hg., Action, Knowledge, and Reality, Indianapolis 1975, S. 295–347, S. 295.

3Hacking, I., Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 43.

2Wahrnehmung in der empirischen Wissenschaft

2.1Beobachtung, Induktion und Deduktion

2.1.1Beobachtung als Kontakt zur Wirklichkeit

Die Auffassung von Wissenschaft war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie geprägt von der Vorstellung, dass unsere Kenntnis von der Welt ursprünglich aus der Erfahrung stammt und dass die Wissenschaft ihre Aussagensysteme ‚letztlich‘ durch deren Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung begründen muss. In der Wissenschaft und mehr noch im alltäglichen Bewusstsein außerhalb des philosophischen Denkens ist diese Vorstellung immer noch sehr lebendig und selbstverständlich. Dass die sinnliche Wahrnehmung bloß als solche diese Leistung nicht erbringen kann, ist aber seitdem zumindest in der Philosophie der Stand des Wissens. Diese Einsicht geht in erster Linie auf die unlösbaren Probleme zurück, die aus der Behauptung entstehen, sprachliche Aussagensysteme durch außersprachliche Erfahrungen begründen zu können.

Als ‚Empirismus‘ können wir also grundsätzlich die Behauptung verstehen, dass wir zu unseren wissenschaftlichen Theorien über die Welt nur im Ausgang von den Informationen gelangen können, die uns durch unsere Sinne gegeben werden. Damit ist auch bereits das zentrale Problem angegeben, mit dem eine jede Wissenschaftskonzeption umgehen können muss, die sich als empiristisch versteht, d. h. die Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft auffasst. Wie kommen wir vom Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten zu Newtons Gravitationsgesetz, zur Quantenphysik, zur Relativitätstheorie und zum gerade geltenden Atommodell, das uns die kleinsten Bausteine der Welt als ein Sammelsurium von Partikeln vorstellt, die sich selbst nach den Gesetzen der klassischen Physik höchst sonderbar benehmen? Wie kommen wir von einer Wahrnehmung vom Typ ‚Dies ist rot‘ zur Wissenschaft, wenn sich unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse doch nicht darauf beschränken, uns die Farben der Welt zu beschreiben, sondern in der Form allgemein geltender Gesetze verfasst sind? Die neuzeitliche – und d. h. mathematische – Naturwissenschaft ist geradezu der Versuch, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht wahrnehmen, obwohl diese Beschreibung doch Strukturen angeben soll, welche dem Wahrgenommenen zugrunde liegen.

Die Verbindung des neuzeitlichen Gedankens einer Wissenschaft von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen mit dem Gedanken einer Wissenschaft auf der Basis von Beobachtung und Wahrnehmung ist für unser Verständnis von Wissenschaft immer noch von zentraler Bedeutung. Natürlich besteht die Wissenschaft nicht nur aus Beobachtungen und aus solchen Behauptungen über die Welt, die sich direkt auf Beobachtungen stützen oder sich aus ihnen ableiten lassen. Aber es gehört doch zum Selbstverständnis der Methode dessen, was wir heute als Wissenschaft bezeichnen, dass sich ihre Erkenntnisse zumindest ‚letztlich‘ durch Beobachtungen ausweisen müssen, also nicht durch Interpretationen von heiligen Schriften, durch Eingebungen besonders erleuchteter Individuen, durch göttliche Offenbarungen oder vielleicht durch die Phantasien hochgradig selbstbewusster oder sogar größenwahnsinniger Wortjongleure.

Dass die neuzeitliche Wissenschaft mit dem Anspruch begann, uns über die Dinge und Ereignisse in der wirklichen Welt gerade mithilfe von Beobachtungen aufklären zu können, ist natürlich kein Zufall und keine Willkür. Ob mit diesem Anspruch alles gesagt ist, was es über die Beziehung der Wissenschaft zur Welt der Dinge und Ereignisse zu sagen gibt, ist allerdings eine andere Frage, mit der wir uns eingehend beschäftigen werden.

Zunächst aber gibt es drei plausible Gründe für die ausgezeichnete Stellung von Beobachtungen für den Bezug der Wissenschaft zur wirklichen Welt. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass der Ausdruck ‚Beobachtung‘ sich natürlich nicht nur auf das bezieht, was wir sehen können, obwohl wir dieses Wort in unserer Sprache in der Regel für das bewusste Wahrnehmen mithilfe des Sehsinnes gebrauchen. Gemeint ist aber das Wahrnehmen der Welt durch die Sinne allgemein, nicht nur durch das Sehen. Wenn wir von der Beobachtung als derjenigen Stelle sprechen, an dem die Wissenschaft den ‚Kontakt‘ mit der Wirklichkeit herstellt, so kann es sich prinzipiell um Sehen, Hören, Tasten, Riechen oder Schmecken handeln, auch wenn man zugeben muss, dass die beiden letzten Sinne sicher eine geringere Bedeutung für die Wissenschaften spielen, außer natürlich für die Chemie.

Der erste Grund für die Plausibilität des Sichverlassens auf Beobachtungen ist natürlich die uns allen mehr oder weniger selbstverständliche Vorstellung, dass wir auf diese Weise in einen unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit kommen. Unmittelbar ist die sinnliche Wahrnehmung nach dieser Vorstellung, weil sie nicht beeinflusst wird durch schon ausgearbeitete Theorien über das, was sich in der Welt ereignet, durch die Strukturen der Sprache, die wir zu verwenden gelernt haben, durch die Gewohnheiten des Denkens, wie sie sich in vielen Jahrhunderten angesammelt haben, und durch die Meinungen und Vorstellungen anderer Menschen. Was wir beobachten, das haben wir so vor uns, wie es wirklich ist, und nicht so, wie es bereits durch eine ‚Mitte‘ gegangen ist und dadurch ‚vermittelt‘ und verändert wurde. Wir haben damit einen direkten und unverfälschten Zugang zur Wirklichkeit, wie sie durch einen physischen Kontakt mit den Außenflächen unseres Körpers auf uns einwirkt – über die Netzhaut, das Trommelfell, die Haut, die Zunge und die Nase.

Den zweiten Grund für eine solche Plausibilität der besonderen Bedeutung des Beobachtens können wir in der ‚Widerständigkeit‘ von Beobachtungen sehen, die uns glauben lässt, sie müssten auf die Wirklichkeit selbst zurückgehen. Es ist nur in Ausnahmefällen leicht, einen Irrtum im Beobachten aufzufinden, und wenn, dann gelingt das nur durch andere Beobachtungen. Das gilt etwa für einen geraden, aber im Wasser abgewinkelt aussehenden Stab, den wir auch im Wasser durch Tasten als weiterhin gerade wahrnehmen können. In der Regel können wir unseren Sinnen aber vertrauen. Das gilt vor allem dann, wenn uns die verschiedenen Sinne solche Beobachtungen liefern, die sich problemlos zusammenfügen. Wenn etwas aussieht wie ein Stinktier, sich anfühlt wie ein Stinktier, und auch noch riecht wie ein Stinktier, dann wird es wohl ein Stinktier sein. Wir können Wahrnehmungen in den meisten Fällen auch leicht mit gleichem Ergebnis wiederholen oder doch leicht einsehen, dass sie nun anders sind, weil sich die Umstände verändert haben – der Himmel ist tagsüber ohne Wolken blau, der bewölkte Himmel ist grau, und nachts beobachten wir den schwarzen Himmel. Beobachtungen neigen also dazu, kohärent und stabil zu sein, und können auch deshalb eine gute Grundlage für wissenschaftliche Beschreibungen der Welt liefern.

Der dritte Grund dafür, dass das Sichverlassen auf Beobachtungen gemeinhin als letzte Instanz für den Wirklichkeitskontakt der Wissenschaft gilt, geht darauf zurück, dass wir in der Wissenschaft Auskünfte über die Welt zu finden hoffen, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten. Wir könnten das so ausdrücken: wissenschaftliche Erkenntnisse sollen ‚intersubjektiv‘ gelten. Beobachtungen erfüllen diese Forderung, weil sie für alle Beobachter in gleicher Weise zugänglich sind. Dass der Himmel jetzt (wolkenlos und am Tage) blau ist, kann jeder sehende Mensch bestätigen, ebenso wie jeder durch Tasten runde von spitzen Formen unterscheiden kann und bei normalem Gehör angeben kann, welcher von zwei Tönen höher und welcher tiefer ist.

Diese drei Gründe lassen es plausibel erscheinen, dass gerade Aussagen über Beobachtungen als die „checkpoints of science“ – die Kontrollstellen der Wissenschaft – gelten sollen.4 Solche Beobachtungssätze werden oft auch als ‚Protokollsätze‘ bezeichnet, womit gemeint ist, dass sie ein Protokoll dessen darstellen, was wirklich abläuft, wenn wir in Kontakt mit der Wirklichkeit stehen. In Sätzen, die sich nur durch und ausschließlich durch Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken beglaubigen, können wir intersubjektiv übereinstimmen, ohne dass so etwas wie Theorie darauf Einfluss hat. Wir können uns damit von persönlich gefärbten Urteilen befreien, mit denen sich Menschen voneinander unterscheiden, wie etwa beim Sehen das Urteil ‚Dieses Bild ist schön‘ oder beim Hören ‚Dieser Ton klingt angenehm‘ oder beim Schmecken ‚Dieses Gericht ist köstlich‘. Hier kommen Meinungen ins Spiel, ebenso wie Gewohnheiten oder das, was wir zu sagen gelernt haben.

Von dem Unterschied zwischen spitzen und runden Formen, von der Farbe des wolkenlosen Himmels bei Tageslicht und von der relativen Höhe zweier Töne dagegen kann sich jede mit normalen Sinnen ausgestattete Person überzeugen. Deshalb können wir Beobachtungs- oder Protokollsätze verwenden, um Erkenntnisse als wissenschaftlich in dem Sinn auszeichnen zu können, dass sie sich auf unbezweifelbare Weise auf die Wirklichkeit beziehen. Wer es nicht glaubt, dem können wir die Grundlagen für solche Erkenntnisse zeigen, weil es sich um Daten handelt, die zumindest ‚prinzipiell‘ für alle Beobachter zugänglich sind. Zumindest unter ‚Normalbedingungen‘ können Beobachtungssätze sich also nach dieser Vorstellung so auf die Wirklichkeit beziehen, dass Menschen sie ganz unabhängig von ihrem Vorwissen, von ihrer Kultur und ihrer Sprache verwenden können. Wenn die Beobachter verschiedene Sprachen sprechen, so können solche Sätze problemlos ineinander übersetzt werden, weil die Sinne der Beobachter so sind, dass sie unter gleichen Bedingungen das Gleiche wahrnehmen. Weichen die Beobachtungen verschiedener Menschen voneinander ab, so geht das entweder darauf zurück, dass sie verschiedene Dinge wahrnehmen, oder darauf, dass die Normalbedingungen der Wahrnehmung nicht erfüllt sind, etwa weil die Lichtverhältnisse nicht normal sind oder die Sinnesorgane bzw. das Nervensystem nicht so funktionieren, wie es in der Regel der Fall ist.

Der Ausdruck ‚Daten‘ für das, was wir durch Beobachtung gewinnen, ist hier noch unter einem anderen Aspekt aufschlussreich. Es handelt sich um den Plural von ‚datum‘, was wörtlich heißt: ‚das Gegebene‘. Durch die Beobachtung, also die Wahrnehmung durch die Sinne, erhalten wir nach dieser Auffassung, welche die Vorstellung von der Wissenschaft auch heute noch für viele Menschen innerhalb und außerhalb der Forschung prägt, also etwas, das uns gegeben ist. Damit werden die aus der Beobachtung bezogenen Daten in einen Gegensatz zu dem ‚Gemachten‘ gestellt. Als gemacht wird in dieser Vorstellung dasjenige bezeichnet, das wir hinzutun, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Dabei handelt es sich vor allem um unsere Meinungen, unsere Kultur, um sprachliche Prägungen, aber auch um Hypothesen als – noch – nicht durch Beobachtung gehärtete wissenschaftliche Theorien. Solche ‚bloßen Theorien‘ im Sinne dessen, was unsere Gehirne, unsere Phantasien und unsere Traditionen machen, werden in einer Vorstellung von der Wissenschaft als letztlich auf Beobachtung beruhend dem gegenübergestellt, was uns ohne unser Zutun und damit ohne unsere Formung gegeben ist.

Man könnte also geneigt sein, das Unternehmen der Wissenschaft gemäß dieser Vorstellung als eine Ausweitung unserer sinnlichen Erfahrung aufzufassen. Bei den wichtigsten Denkern des sog. ‚Logischen Empirismus‘ hieß das so: „Es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruht. Hiermit ist die Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen.“5 Allerdings sind wir in diesem Fall verpflichtet, einige einfache Tatsachen über das, was heute Wissenschaft genannt wird, mit jener Vorstellung von einem Kontakt mit der Welt über die Beobachtung – also über die sinnliche Wahrnehmung – vereinbar zu machen.

Es ist eine solche Tatsache, dass Wissenschaft nicht aus Aussagen über einzelne Beobachtungen besteht. Dass ich jetzt hier ‚rot‘ wahrnehme, weil ich für die Koffeinzufuhr eine rote Tasse benutze, ist kein Bestandteil einer wissenschaftlichen Theorie, auch dann nicht, wenn ich diese Wahrnehmung in einem Beobachtungs- oder Protokollsatz von der Form ‚Hier jetzt Rot‘ oder ‚Ich sehe jetzt hier rot‘ äußere. Es ist auch kaum vorstellbar, wie man von solchen Sätzen zu wissenschaftlichen Aussagen kommen könnte. Auch bei einer ziemlich primitiven Aussage wie ‚Alle Raben sind schwarz‘ ist der Zusammenhang mit Beobachtungsaussagen wie ‚Hier jetzt Schwarz‘ keineswegs offenkundig. Hier haben wir aber wenigstens eine Aussage, die sich widerlegen lässt, wenn wir einen Raben beobachten, der nicht schwarz ist, und darin könnte man einen Kontakt zur Wirklichkeit über jenen physischen Kontakt mit den Außenflächen unseres Körpers erkennen, der die Beobachtung so wichtig für die Wissenschaft macht. Dies geschieht hier offenbar über die Netzhaut, deren Reizung in diesem Fall im Gehirn eine Wahrnehmung entstehen lässt, die wir nicht als ‚schwarz‘ bezeichnen, obwohl wir diese Wahrnehmung auf einen ‚Gegenstand‘ in der Welt beziehen, den wir ‚Rabe‘ nennen.

 

Aber die Sicherheit, es sei die Beobachtung, die uns den Kontakt mit Wirklichkeit verschafft und damit sicherstellt, dass die Wissenschaft uns über Ereignisse in der wirklichen Welt aufklärt, verliert sich bald völlig, wenn wir in wissenschaftlichen Aussagen solche Begriffe finden, die sich auf keine Weise auf Beobachtung beziehen – einfach deshalb, weil sie sich auf etwas beziehen, das nicht beobachtbar ist. Das gilt bereits für die vielen Begriffe, mit denen man im Physikunterricht so einfach hantierte, ohne sich etwas dabei zu denken, wie Kraft, schwere Masse, Beschleunigung, Gravitation, elektrische Ladung, Elektron, Positron, Gammastrahlen, Radiowellen. Man bezeichnet Begriffe, die in der Wissenschaft vorkommen, ohne zur Beschreibung von Beobachtungen zu dienen, als ‚Theoriebegriffe‘ im Unterschied zu Beobachtungsbegriffen. Man könnte auch sagen, es handle sich um ‚gemachte Begriffe‘, weil sie keinen Bezug auf etwas Gegebenes enthalten, wie dies nach der hier skizzierten Vorstellung von Wissenschaft für diejenigen Begriffe gilt, die sich auf das beziehen, was in der sinnlichen Wahrnehmung ‚gegeben‘ ist.

Dieses Problem lässt sich vielleicht auflösen, wenn man in der Wissenschaft neben den Beobachtungsbegriffen und den damit möglichen Beobachtungs- bzw. Protokollsätzen auch noch die logische Analyse von Sätzen zulässt. Das ist der Grund, warum die wichtigste wissenschaftstheoretische Richtung des 20. Jahrhunderts (zumindest aber der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts), die heute noch weithin das Verständnis von Wissenschaft prägt, sich nicht als ‚Empirismus‘ bezeichnete, sondern als ‚Logischer Empirismus‘. Solche Sätze, die theoretische Begriffe enthalten, können dann durch logische Analyse auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes zurückgeführt werden.6 Wir könnten auch sagen: sie müssen übersetzt werden können in solche Sätze, die nur und ausschließlich Beobachtungsbegriffe enthalten.

Ein ganz einfaches Beispiel dafür wäre der Begriff ‚wasserlöslich‘, der ein theoretischer Begriff ist, weil er ein Dispositionsbegriff ist, d. h. er gibt eine potenzielle Eigenschaft an, die nicht unmittelbar beobachtbar ist. Dass ein Stück Würfelzucker wasserlöslich ist, sieht man ihm nicht an, denn es hat diese Eigenschaft auch dann, wenn es nicht in den Kaffee gegeben wird. Aber hier gelingt es relativ leicht, diesen theoretischen Begriff in Beobachtungsbegriffe zu übersetzen. Wir könnten etwa sagen: dieser Gegenstand ist genau dann wasserlöslich, wenn unter bestimmten Bedingungen beim Eintauchen in Wasser eine bestimmte Veränderung an ihm zu beobachten ist, die wir als ‚Auflösung‘ bezeichnen. Wir können dann in allen wissenschaftlichen Zusammenhängen den theoretischen Begriff ‚wasserlöslich‘ durch eine zwar kompliziertere, aber immer noch verständliche Bedingungskonstellation ersetzen, in der nur noch Beobachtungsbegriffe vorkommen.

Eine solche Übersetzung bzw. logische Analyse von theoretischen Begriffen in Beobachtungsbegriffe wirft allerdings eine ganze Menge von Problemen auf. Das fängt damit an, dass in der Regel stets mehrere Verfahren angegeben werden können, um einen theoretischen Begriff in Beobachtungsbegriffe zu übersetzen. Damit ist er aber nicht mehr eindeutig mithilfe von Beobachtungen zu definieren. Und das endet noch nicht bei der Schwierigkeit, solche Übersetzungen bzw. logische Analysen auch dort noch durchzuführen, wo die Beobachtungen nicht mehr mit den ‚unbewaffneten‘ Sinnen vorgenommen werden können, sondern nur noch mit Geräten, die nur funktionieren, weil für ihre Konstruktion eine Unmenge von theoretischen Begriffen und theoretischen Sätzen herangezogen wurde. Ein gutes Beispiel ist das Elektronenmikroskop. Hier stellt sich durchaus die Frage, ob man überhaupt noch von Beobachtung in einem Sinn sprechen kann, wie er für die Vorstellung eines ‚Kontaktes‘ mit der Wirklichkeit über sinnliche Wahrnehmungen grundlegend ist.

Hier soll es zunächst genügen, dass auch eine Wissenschaft, die den Kontakt mit der Welt über Beobachtung und damit durch etwas ‚Gegebenes‘ und nicht bereits durch Theorien Gemachtes herstellen will, zumindest eine Zutat akzeptieren muss, die nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, nämlich die Logik, die der logischen Analyse von theoretischen Begriffen in Richtung einer Auflösung in Beobachtungsbegriffe zugrunde liegt. Logische Relationen lassen sich bekanntlich weder sehen, noch hören, ertasten, schmecken oder gar riechen. Wenn wir Bertrand Russells Grundlegung der Mathematik in der Logik folgen, wie er sie in den ‚Principia Mathematica‘ ausgearbeitet hat, dann können wir auch das Mathematische in der ‚mathematischen Naturwissenschaft‘ als das auffassen, was wir nicht aus den Sinnen entnehmen und doch als Teil der Wissenschaft und in der theoretischen Physik sogar als deren zentralen Teil akzeptieren. Der Grundsatz des klassischen Empirismus – ‚Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu‘ – muss wohl doch modifiziert werden.

Betrachten wir die Forderung nach Beobachtung und Wahrnehmung als Grundlage von wissenschaftlichen Feststellungen noch aus einer anderen Perspektive. Nach einer ‚empiristischen‘ Auffassung von Wissenschaft muss eine Theorie eine zutreffende Beschreibung von einer Wirklichkeit darstellen, und zwar so, wie diese Wirklichkeit unabhängig von dieser Theorie besteht. Es darf sich also nicht um eine Theorie handeln, die das beschreibt, was nur wegen ihr selbst besteht, etwa darf eine Messung nicht Artefakte messen, also solche Daten liefern, die gerade durch das Messverfahren erzeugt wurden. Das klingt zunächst sehr vernünftig. Die Schwierigkeit daran ist eigentlich nur, dass wir es bei einer solchen Forderung nicht belassen können, sondern dieses ‚Zutreffen‘ oder diese ‚Richtigkeit‘ der Beschreibung auf Verlangen auch anderen Menschen nachweisen müssen. Für eine empiristische Wissenschaftsauffassung mit dem Fokus auf dem Wahrnehmungskontakt mit der Wirklichkeit entstehen daraus eine Menge Probleme, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen werden.

Sehen wir uns vorgreifend noch eine Problemquelle an. Zunächst müssen wir offenbar zwei Phänomene vor uns haben, um sie miteinander vergleichen zu können: zum einen die Theorie (was keine Schwierigkeit ist, da sie in sprachlicher und vielleicht auch mathematischer Form vorliegt) und zum anderen die Wirklichkeit, wie sie durch keine Theorie beeinflusst wird. Man könnte unmittelbar einwenden: wenn wir die Wirklichkeit auch ohne Theorie so erkennen können, wie sie an sich (und ohne Beeinflussung durch die Theorie) ist, wozu brauchen wir dann noch die Theorie? Genau diesen Einwand müssen wir aber machen, wenn wir die Theorie mit der Wirklichkeit vergleichen wollen. An dieser Stelle beginnen die verschiedenen Konzeptionen einer empiristischen Wissenschaftstheorie mit ihrer Arbeit. Sie stehen im Grunde alle einem zentralen Problem gegenüber: Mittel und Wege finden, durch die wir die Wirklichkeit so wahrnehmen können, wie sie ohne die Theorie ist, damit wir die letztere dann mit der Wirklichkeit vergleichen können, um sagen zu können, ob sie richtig oder falsch ist.