Philosophie der Wissenschaft

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Es könnte deshalb plausibler sein, die Veränderungen in der Auffassung des Wissens und seiner Begründbarkeit weg von einem Buchwissen hin zum Erfahrungswissen nicht durch den besseren Erfolg des letzteren zu erklären, sondern durch eine neue Definition von Erfolg, die mit der neuen Orientierung des Wissens an der Sinneserfahrung untrennbar verbunden war. Das alte Wissen wies sich im Grunde überhaupt nicht dadurch aus, dass es Erfolge in der Veränderung und Verbesserung der Welt des Menschen ermöglichte. Es fand seine Beglaubigung vielmehr schon darin, dass es sich auf den Willen Gottes, wie er in als heilig angesehenen Büchern niedergeschrieben war, und auf rein vernunftgegründete Argumentationen stützte, wie sie von den scholastischen Philosophen und Theologen auf der Grundlage des aristotelischen Denkens ausgearbeitet worden waren. Ein Erfolg des Wissens in unserem Sinne war in dieser Konzeption des Wissens überhaupt nicht vorgesehen, sondern ein solcher Erfolg wurde durch Kriterien bestimmt, die im Denken der Wissenschaft heute überhaupt nicht mehr vorkommen.

1.3Wissen und wissenschaftliches Erklären

Die Wissenschaft beendet den Regress des Begründens, indem sie ihr Wissen durch seinen Bezug auf die Erfahrung ausweist, weshalb neuzeitliche Wissenschaft gleichbedeutend ist mit empirischer Wissenschaft. Diese Minimaldefinition von Wissenschaft im Sinne von ‚science‘ wird heute nur an dem Rand der Wissenschaft nicht als selbstverständlich angesehen, wo die sog. ‚string theory‘ sich in der theoretischen Physik berechtigt sieht, ein kosmologisches Modell zu entwerfen, dessen Aussagen prinzipiell keine empirische Bestätigung oder Widerlegung zulassen. Eine solche ‚nicht-empirische‘ Wissenschaft wird überall sonst als ein Begriff angesehen, der dem eines ‚schwarzen Schimmels‘ gleicht. Möglicherweise ist der Hinweis nicht überflüssig, dass dies natürlich auch für die Quantenphysik und die Relativitätstheorie gilt. Die erfahrungsgeleitete Wissenschaft begründet ihr Wissen ‚letztlich‘ durch den Kontakt unserer Sinne mit der Welt, also durch Wahrnehmung. Ihre Grundlage ist die Annahme, dass unsere fünf Sinne in der Wahrnehmung eine solche Beziehung zur Welt aufnehmen, dass wir eine Grundlage für solche Aussagen und Aussagensysteme über sie finden, die der Definition von ‚Wissen‘ genügen.

Wir haben zu Beginn dieses Kapitels einen einfachen Begriff von ‚Wissenschaft‘ als ‚science‘ skizziert, der auf weite Akzeptanz Anspruch erheben kann, um diesen Begriff dann mit Blick auf die Philosophie der Wissenschaft durch denjenigen des ‚Wissens‘ zu erläutern und im ‚Begründen‘ zentrieren zu lassen. Auf dieser Grundlage können wir das Problem, das sich einer Wissenschaftsphilosophie stellt, nun dadurch erläutern, dass wir das Begründen in den Zusammenhang des Begriffs des Wissens zurückstellen. Dazu müssen wir einige Beziehungen zwischen dem ‚Begründetsein‘, dem ‚Für-wahr-halten‘ (Glauben) und dem ‚Wahrsein‘ als den Elementen des Wissens verdeutlichen.

Das Wissen der Wissenschaft liegt in der Form von Sätzen und Zusammenhängen von Sätzen vor, für die Geltung beansprucht wird. Niemand kann behaupten, über wissenschaftliches Wissen zu verfügen, wenn er es nicht sprachlich zum Ausdruck bringen kann. Ein solches Wissen muss also selbst als ein Teil der Welt darstellbar sein, sei es auf Papier oder anderen Materialien, mithilfe elektrochemischer Zustandsveränderungen auf einem Bildschirm oder als akustische Ereignisse in der gesprochenen Sprache. Als wissenschaftliches muss das Wissen mithilfe von Objekten in der Welt repräsentierbar sein. Eine solche Repräsentation muss es erlauben, das Wissen zu reproduzieren. Die Reproduktion muss nach zwei Richtungen möglich sein: zum einen muss sich das Wissen aufbewahren lassen, so dass es mithilfe von Objekten in der Welt, die als Zeichen fungieren, im Prinzip jederzeit als Wissen in einem Subjekt des Wissens wiederhergestellt werden kann; zum anderen muss es sich übertragen lassen, so dass andere Menschen es durch das Verstehen von Zeichen als ihr eigenes Wissen ansehen können, obwohl sie es nicht selbst erzeugt oder gewonnen haben. Ein wissenschaftliches Wissen muss dauerhaft sein und es muss intersubjektiv gelten.

Auf diese Weise stellt es sich als eine besondere Form des Erklärens dar. Eine wissenschaftliche Erklärung unterscheidet sich also von alltäglichen Erklärungen. Für eine wissenschaftliche Erklärung genügt das subjektive Gefühl nicht, dass etwas für den Augenblick und die gegebene Situation befriedigend klar geworden ist. Eine wissenschaftliche Erklärung soll also nicht nur (1) für gerade den oder die Menschen gelten, denen (2) hier und (3) jetzt in der gegebenen Situation etwas so klar wird, dass es ihnen genügt. Sie soll vielmehr (a) für alle Menschen und (b) überall und (c) immer gelten. Sie soll nicht ein bestimmtes Gefühl beschreiben und sie soll nicht den Zustand eines bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation angeben.

Solche Erklärungen sind nicht beliebig durch andere Erklärungen ersetzbar. Im Alltag können wir die beklagenswerte Tatsache, dass der Champagner zu warm ist, wahlweise dadurch erklären, dass er zu lange auf dem Tisch stand, oder, wenn wir der Unzufriedenheit mit den schlechten Leistungen des Hauspersonals Ausdruck geben wollen, auch dadurch, dass der Butler nachlässig war. Natürlich sind diese beiden Erklärungen kompatibel. Aber für eine Alltagserklärung kommt es nur darauf an, dass ein ausreichendes Gefühl für das Klarwerden eines Ereignisses oder eines Phänomens entsteht, und dafür können wir zwischen der einen und der anderen Erklärung (und sicher noch vielen anderen) wählen. Es gibt hier eigentlich keine richtigen und falschen Erklärungen, sondern eine Erklärung gelingt, wenn sie uns das befriedigende Gefühl des genügenden Klarwerdens verschafft, und sie misslingt, wenn sie uns in dieser Hinsicht unbefriedigt lässt.

Wissenschaftliche Erklärungen sind also deshalb nicht beliebig ersetzbar durch andere Erklärungen, weil ihr Gelingen nicht durch das Kriterium der Erzeugung eines subjektiven Gefühls oder Zustandes beim Adressaten der Erklärung (der auch derjenige selbst sein kann, der die Erklärung gibt) bestimmt wird. Es mag viele Menschen geben, deren subjektiver Erklärungsbedarf dadurch befriedigt wird, dass der im Vergleich zu Menschen, die schon länger in Deutschland leben, geringere Bildungserfolg von Migranten auf genetische Faktoren zurückgeführt wird. Die wissenschaftliche Erklärung dagegen, welche die Ursache für diese Tatsache im vergleichsweise geringeren Bildungsstand der Herkunftsfamilien erkennt und weiß, dass der Bildungsstand der Eltern der wichtigste Faktor für die Prognose von Bildungserfolg darstellt, mag für eben diese Menschen gerade keine befriedigende Erklärung liefern, d. h. sie versetzt sie nicht in den entsprechenden Zustand, in dem sie ein Gefühl des ‚Klarwerdens‘ bzw. des ‚Erklärtseins‘ erleben. Aber solche Beispiele lassen sich auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft finden. Wer die kontraintuitive Idee eines Raum-Zeit-Kontinuums zum Besten gibt und dafür – wissenschaftlich korrekt – die Relativitätstheorie als Erklärung heranzieht, wird bei den meisten Menschen keinen Zustand des ‚Klarwerdens‘ mit dem Gefühl einer zufriedenstellenden Erklärung erreichen.

Diese fundamentalen Ansprüche an eine wissenschaftliche Erklärung, mit der wissenschaftliches Wissen sich von anderem und nicht wissenschaftlich erklärendem Wissen unterscheidet, werden in der Wissenschaft auf verschiedene Weise eingelöst. Hauptsächlich lassen sich vier verschiedene Typen der wissenschaftlichen Erklärung unterscheiden:

1) Die deduktiv-nomologische Erklärung, bei der die Ereignisse aus einem allgemeinen Gesetz abgeleitet werden. Der Erklärungserfolg hängt hier von der Geltung deterministischer Gesetze und von der richtigen Subsumtion einzelner Ereignisse ab. Es ist allerdings nicht richtig zu sagen, dass damit kausale Erklärungen vorgenommen werden. Eine kausale Erklärung beruht auf einem Unterschied in der Zeit nach früher und später, weshalb sie nur auf irreversible Vorgänge anzuwenden ist. Dagegen spielt die Verlaufsrichtung bei sehr vielen deterministischen Vorgängen wie etwa in der klassischen Mechanik oder Elektrodynamik keine Rolle. Für eine solche Erklärung hat es keine begründende Bedeutung, ob das Sonnensystem aus einem Materiewirbel entstanden ist, oder ob sich das Sonnensystem in den Materiewirbel zurückentwickelt. Man kann also deduktiv-nomologische Erklärungen nicht einfach mit Kausalerklärungen gleichsetzen. In der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts galten deduktiv-nomologische Erklärungen lange Zeit als die Standardform wissenschaftlicher Erklärungen.

2) Man kann gegen eine solche Auffassung jedoch auf das – ältere – Verfahren der kausalen Modellierung verweisen. Dabei muss für die Erklärung eines Ereignisses nicht unbedingt ein einzelnes anderes Ereignis herangezogen werden, das die Ursache des ersteren ist. Eine Kausalerklärung kann erheblich komplexere Formen annehmen, wenn einzelne Faktoren identifiziert werden, die nur ‚kausal relevant‘ sind. Das entspricht der Alltagserfahrung, dass die meisten Ereignisse auf eine sehr komplizierte Weise Bedingungen erfordern, um überhaupt zustande zu kommen. Eine kausale Modellierung versucht dann ein solches Gefüge von Bedingungen aufzufinden, in dem die einzelnen Faktoren kausal relevant sind. Eine Kausalerklärung muss also nicht monokausal vorgehen, sondern kann ganz unterschiedliche deterministische und sogar probabilistische Gesetzmäßigkeiten heranziehen. Um eine Lawine auszulösen, müssen sehr viele verschiedene Faktoren zusammenkommen.

3) Darüber hinaus gibt es in der Wissenschaft aber auch probabilistische Erklärungen, die man in manchen Fällen als Spezialform von deduktiv-nomologischen Erklärungen auffassen kann. Aber erklärt werden kann auch mithilfe von statistischen Zusammenhängen, bei denen man nicht von Gesetzlichkeit und Kausalität sprechen kann. Dabei werden zur Erklärung Korrelationen herangezogen. Ein Beispiel dafür stellt der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs dar, der grundsätzlich probabilistischer Natur ist, obwohl über die Kausalzusammenhänge Theorien bekannt sind, die aber weder im deduktiv-nomologischen noch im kausalen Sinne zur Erklärung ausreichen können. Mit einem probabilistischen Gesetz kann kein einzelnes Ereignis vorausgesagt werden, sondern es lassen sich nur Ereignisse für statistische Gesamtheiten prognostizieren.

 

4) Schließlich kann als Erklären in der Naturwissenschaft aber auch ein Verfahren bezeichnet werden, das zu einer Vereinheitlichung der Theorie führt. Das Erklären gilt dann als gelungen, wenn ein Ereignis in eine einheitliche und umfassende Theorie eingebettet werden kann. Etwas ist dann erklärt, sobald man es in einen umfassenden und kohärenten Wissenshorizont stellen kann. Das setzt natürlich voraus, dass diese ‚Grand Theory‘ selbst als gut bestätigt gilt und ihre wissenschaftliche Erklärungsfähigkeit nicht bezweifelt werden kann.

1.4Das Erklären und die Welt

Die Wissenschaft erklärt und diese Erklärungen können nach verschiedenen Modellen ablaufen. Aber die Wissenschaft erklärt uns auch die Welt, d. h. die Erklärungen und der dadurch erreichte subjektive Zustand der Befriedigung durch Erklärungen sind nur wissenschaftlicher Natur, wenn sie von der Welt gelten, über die Welt etwas aussagen, und die Welt intersubjektiv geltend beschreiben. Damit stellt sich die Frage, was es denn genauer bedeutet, dass die Wissenschaft uns (a) die Welt beschreibt, wie sie ist, und uns (b) die Ereignisse der Welt erklärt. Wie kommen wir in der Wissenschaft also zur Welt? ‚Wissenschaft‘ ist offenbar ein Zusammenhang von Aussagen/Sätzen/Behauptungen über die Welt. Dieses ‚über‘ müssen wir aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive also genauer untersuchen, wenn wir den Wissensanspruch der empirischen Wissenschaft (‚science‘) verstehen wollen. Es könnten sich folgenreiche Probleme daraus ergeben, dass ‚die Welt‘ kein Zusammenhang von Aussagen/Sätzen/Behauptungen ist, und hier können die Philosophen bei den Forschern aus den empirischen Wissenschaften auf Zustimmung hoffen. Aber aus philosophischer Perspektive stellt sich darüber hinaus die Frage, was es denn heißen solle, dass die Aussagen und Gesetze der Wissenschaft sich in der Weise des ‚über‘ oder auch des ‚von‘ auf die Welt beziehen.

Der Umgang mit dieser Frage wird seit langer Zeit durch die Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Wahrheitstheorien geprägt. In der traditionellen oder klassischen Theorie wird ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung zwischen einem wissenschaftlich behaupteten Sachverhalt und seinem wirklichen Bestehen in der Welt aufgefasst. Eine solche Theorie stößt sehr bald auf das Problem, wie denn ein sprachlich ausgedrückter und damit mental existierender Sachverhalt mit einem Ausschnitt der wirklichen Welt ‚übereinstimmen‘ könne. Wie kann die Sprache denn so zur Welt kommen, dass die Welt sich in ihr darstellen lässt? Dieses ungelöste Problem führte zur Ausarbeitung radikal anderer Auffassungen von Wahrheit. Etwa wurde vorgeschlagen, um eine Aussage als ‚wahr‘ bezeichnen zu dürfen, könne es schon ausreichen, dass eine ausreichende Kohärenz zwischen ihr und dem bereits geltenden Wissen sowie den sprachlich beschreibbaren Beobachtungen im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung nachgewiesen werden könne. Wichtiger aber ist in der Gegenwart des philosophischen Denkens eine andere Auffassung geworden. Ihr zufolge kann es für die Behauptung der Wahrheit des wissenschaftlichen Wissens genügen, dass innerhalb der Wissenschaft ein Konsens über die Richtigkeit von Beschreibungen und Gesetzen besteht.

Eine Spezialform einer Konsenstheorie entsteht dann, wenn wir nicht einen wirklichen, sondern einen vernünftigen Konsens verlangen, um von ‚Wahrheit‘ reden zu können. Wir verlangen von wissenschaftlichen Aussagen dann nur, sie müssten vernünftig akzeptierbar sein und ihre Geltung hängt davon ab, dass sie eine vernünftig begründete Zustimmung finden. In der Regel geht es dabei um die Zustimmung derjenigen Wissenschaftler, die im gleichen Spezialgebiet arbeiten. Wissenschaftliche Aussagen gelten in diesem Fall also deshalb, weil sie für die ‚scientific community‘ akzeptabel sind, weil in ihr nicht per Abstimmung über die Akzeptanz von Theorien entschieden wird, sondern weil sie das Ergebnis vernünftiger Argumentationszusammenhänge darstellen.

Das schließt die Notwendigkeit von Kohärenz jedoch nicht aus, denn die vernünftige Abwägung bezieht sich vor allem auf die Frage, ob sich neue Theorien an das anschließen lassen, was bereits in gerade dieser Gemeinschaft der Wissenschaftler als geltend anerkannt ist. Es kommt nur selten vor, dass eine zunächst nicht anschließbare Theorie mithilfe umfangreicher Änderungen im bisherigen Wissensbestand akzeptiert wird. Müsste der bisherige Wissensbestand aber als vollständig falsch gelten, um eine neue Theorie akzeptieren zu können, so würde kein Wissen mehr vorhanden sein, um die vernünftige Akzeptierbarkeit einer neuen Theorie überprüfen zu können. Die newtonsche Mechanik koexistiert mithilfe einer Korrektur ihres Anwendungsbereiches auch mit der Quantenmechanik und subatomare Strukturen werden mithilfe der alten Begriffe von ‚Wellen‘ und ‚Partikeln‘ verstanden, obwohl keiner der beiden zu ihrer Beschreibung ausreicht.

Wenn wir für wissenschaftliche Aussagen beanspruchen, sie könnten/müssten ‚wahr‘ sein, dann können wir den zunächst als selbstverständlich angenommenen Weltbezug der Wissenschaft offenbar in radikal unterschiedlichen Weisen auffassen. Folgen wir einer Konsenstheorie, so gibt es keine Möglichkeit, sich gegen die herrschende Meinung abzusetzen und zu behaupten, ein Satz sei wahr, auch wenn alle anderen ihm nicht zustimmen. Eine solche Möglichkeit wird jedoch vor der Auffassung bewahrt, wissenschaftliche Aussagen müssten ‚wahr‘ im Sinne einer Übereinstimmung mit der Welt sein. Hier bleibt es im Prinzip immer offen, ob sich nicht vielleicht alle irren, die der gerade herrschenden wissenschaftlichen Theorie über ein bestimmtes Sachgebiet folgen, und eventuell gerade die Auffassung Geltung beanspruchen könne, die von allen Wissenschaftlern zu einer bestimmten Zeit abgelehnt wird. Vergleichbar ist die Lage dann, wenn wir vernünftige und nicht nur tatsächliche Zustimmung verlangen. Auch dann bleibt stets die Möglichkeit offen, dass sich alle irren, die sich einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie verschrieben haben, und dass der eine, der eine andere Auffassung vertritt, insofern recht hat, als seine Theorie mit besserem – weil vernünftigerem – Recht Geltung beanspruchen kann.

Allerdings sind die Argumentationsstrategien in den beiden Fällen unterschiedlich. Verlangen wir, dass wissenschaftliche Aussagen ‚wahr‘ sein sollen, so müssen wir deren Übereinstimmung mit der Realität/der Welt nachweisen, und damit geraten wir in alle Probleme, die mit einer solchen Forderung verbunden sind. Grundsätzlich müssen wir eine Antwort auf die Frage haben, wie denn die Dinge und die Sachverhalte in der Welt in unsere sprachlichen Aussagen über die Welt kommen. Wir müssen uns der ‚Antinomie des Realismus‘ entledigen, d. h. des Problems, dass die Welt in einer realistischen Konzeption als von unserem Geist, unserem Denken und unserer Sprache unabhängig aufgefasst wird, wir aber gleichzeitig doch über einen so merkwürdigen Kontakt mit ihr verfügen, der eine kognitive Beziehung enthält, die uns ein Wissen von der Welt erlaubt.1 Die Welt muss also so sein, dass sie in sich das Potential enthält, in unserem Denken und unserer Sprache beschrieben zu werden, was eine vor aller Erfahrung anzunehmende Möglichkeitsbedingung des wissenschaftlichen Wissens von der Welt einschließt. Nur dann kann sich unser Denken sprachlich so zum Ausdruck bringen, dass sich darin die Welt selbst darstellen kann.

Hegel hatte dieses Problem von der Welt her gedacht so auf den Punkt gebracht: das ‚Absolute‘ muss bei uns sein wollen, wenn wir eine solche Auffassung durchführen wollen. Das Problem dabei ist offenbar, dass wir mit einer solchen Konzeptualisierung des Sich-zur-Sprache-Bringens der Welt in unseren Sprachen beträchtliche metaphysische Verpflichtungen eingehen müssen, die wir vermutlich nicht ohne Weiteres auf uns nehmen werden. Von der Sprache her gedacht hat Ludwig Wittgenstein im ‚Tractatus logico-philosophicus‘ ausführlich dargelegt, wie wir uns eine Sprache denken müssen, in der die Welt und ihre Sachverhalte sich selbst zum Ausdruck bringen können. Das dabei entstehende Problem, ob unsere wissenschaftliche Sprache dieser idealen Sprache entspricht oder entsprechen kann, hat Wittgenstein in seinem späteren Werk ‚Philosophische Untersuchungen‘ eingehend erörtert, und das Ergebnis war negativ. Unsere Sprachen sind durchaus nicht so, dass wir uns eine solche Angepasstheit an die Welt als solche vorstellen könnten, und wollten wir eine Sprache entsprechend konstruieren, damit sie diese Bedingung erfüllt, so würden wir sie nicht mehr verstehen, denn sie würde gegen fundamentale Voraussetzungen der Verwendung der Sprache zur Verständigung verstoßen.

In dieser Lage könnten wir also doch versucht sein, uns mit der rationalen Akzeptierbarkeit unserer wissenschaftlichen Aussagen zu bescheiden, die gegenüber einer bloßen Konsenstheorie den Vorteil hat, dass stets die Möglichkeit offen gehalten wird, dass jeder faktische Konsens in der Gemeinschaft der Wissenschaftler sich als falsch herausstellen könnte. Aber in diesem Fall können wir das wissenschaftliche Wissen gegenüber anderen Wissensformen nicht mehr mit einer besseren Einsicht in unsere Beziehungen zur Welt rechtfertigen. Allerdings können wir auch auf der Grundlage der Behauptung, wissenschaftliche Aussagen könnten sich nur durch ihre Übereinstimmung mit Sachverhalten in der Welt ausweisen, nicht auf das Argumentieren und damit auf das Gründegeben verzichten. In der Wissenschaft müssen für jede Behauptung über eine bessere Einsicht Gründe angegeben werden. Darin verwandelt sich die vermeintlich bessere ‚Einsicht‘ in die Welt auf jeden Fall in ein Argumentieren. Das gilt auch dann, wenn der Verteidiger einer nach seiner Vermutung besseren Einsicht eigentlich für die Wahrheit seiner Weisheit nur seine exklusive Beziehung zur Welt, wie sie an sich selbst ist, heranziehen wollte. In der Wissenschaft transformiert sich seine Vorstellung von selbst, indem sie Wirklichkeit nur durch den Eintritt in das Bemühen um rationale Überzeugung gewinnt.

Auf dieser Grundlage kann die Wissenschaftsphilosophie etwa gegen eine evolutionäre Auffassung des Wissens darauf verweisen, dass die Erklärungsansprüche der Naturwissenschaften sich nicht nur durch Anpassungserfolge und damit durch die biologische Selbsterhaltung ausweisen. Sie sind Leistungen eines sprach- und vernunft-begabten ‚Tieres‘, das zugleich ein ‚politisches‘ Lebewesen ist, weil es mit anderen Menschen zusammenlebt und mit ihnen Wissen erwirbt. Es lebt im Raum der Gründe, wo es anderen gegenüber nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Wissen begründet. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützen sich deshalb keinesfalls nur auf die Beziehung des Menschen zur Natur, sondern ebenso auf die Begründungszusammen-hänge zwischen Menschen. Der Mensch ist ein Wesen mit Gründen, die er in seinen Handlungen realisiert, und diese Gründe verweisen auf ein Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit anderen sich selbst verstehenden Wesen. Wissen, wie die Naturwissenschaft es beansprucht, ist also nur in einem sozialen Raum möglich, in dem der Mensch als ein soziales Lebewesen lebt.

Wenn wir also Gründe geben, um uns für oder gegen eine bestimmte wissenschaftliche Theorie zu entscheiden, so halten wir uns nicht einfach an die ‚Sachen an sich‘, sondern an einen Prozess des Gründegebens, der im Dialog bzw. im Gespräch zwischen Menschen stattfindet. Wir halten uns dabei auch nicht an eine Vernunft an sich, die unabhängig vom Dialog irgendwo in der Welt herumliegen würde und uns sagen könnte, was für uns ‚Gründe‘ sind. Das soll keineswegs heißen, dass die Vernunft keine Rolle spielt. Aber wir müssen auf den Begriff der ‚Vernunft‘ den gleichen Gedanken anwenden wie auf den Begriff der ‚Wahrheit‘. Dann können wir nicht sagen, es gebe so etwas wie ‚Vernunft‘, wie es Katzen, Verkehrshindernisse oder Überschwemmungen gibt. Es ist nicht etwas ‚da draußen in der Welt‘, sondern es handelt sich um einen Begriff, der mit Gründen und Gegengründen bestimmt wird. Der Begriff der ‚Vernunft‘ erhält gerade durch diesen Prozess des Begründens eine gute Bestimmung, die freilich wieder mit Gründen in Frage gestellt werden und mit Hilfe von anderen Gründen gestützt werden kann.

 

Wie geht dieser Prozess des Dialogs zwischen Menschen vor sich, in dem wir begründen? Üblicherweise versuchen wir dabei andere Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich unserer eigenen Auffassung anschließen sollen, und die anderen gehen genauso vor, d. h. sie versuchen, für ihre Gedankengänge bei uns zu werben. Das hört sich sehr einfach an, aber diese Beschreibung des Vorgangs des Begründens enthält eine wichtige Grundsatzentscheidung darüber, wie wir das Begründen auffassen wollen. Wenn dieser Dialog so vor sich geht, dann gibt es keine letzte Instanz für die Entscheidung darüber, was als ‚begründet‘ und was als ‚unbegründet‘ oder als ‚nicht ausreichend begründet‘ gelten soll. Man könnte auch sagen: es gibt keine letzte Instanz außerhalb des Dialoges selbst. Wenn wir im Dialog zu einer Definition – allgemein: zu einer Einigung über ein bestimmtes Verständnis – gekommen sind, so gilt sie.

Natürlich kann diese Einigung immer wieder revidiert werden. Etwa können andere Teilnehmer zu diesem Dialog kommen und andere Gründe und Gegengründe vorbringen. Es gibt Teilnehmer, die neue Erkenntnisse vorbringen, d. h. sich auf bestimmte bereits als geltend anerkannte Teile des Wissens stützen. Dann kann der Prozess des Begründens neu einsetzen. Es kann auch sein, dass einem Teilnehmer etwas Neues einfällt, was dazu führt, dass die diskutierte Angelegenheit in einem ganz neuen Licht gesehen wird und der Prozess des Begründens neu beginnen kann. Wie ein solcher Prozess des Begründens ganz genau aussieht, kann man im Grunde vorher nie genau wissen. Aber die Begründung endet nie bei einer ‚Sache selbst‘ oder bei einem Machtspruch einer Instanz, die ‚die Vernunft‘ genannt werden könnte und unabhängig von diesem Prozess des Begründens besteht. Wir können also den folgenden Begriff der Vernunft formulieren: als Vernunft können wir eben dieses Geschehen der Begründung in einem offenen und dialogischen Prozess zwischen sprachfähigen Lebewesen auffassen.

1.5Vorschau: Wissenschaft und Wissenschaftsphilosophie

Wir haben mit einem einfachen und weithin akzeptablen Begriff von Wissenschaft begonnen und daraus einige Probleme entwickelt, die nicht mehr selbst als wissenschaftlich bezeichnet werden können. Sie betreffen in erster Linie das Begründen, ohne das wir keinen Begriff von Wissen formulieren können. Wissenschaft beansprucht, den Regress des Begründens stoppen zu können. Empirische Wissenschaft beansprucht, diesen Regress durch die Berufung auf Erfahrung als sinnliche Wahrnehmung beenden zu können. Damit hat es die Wissenschaftsphilosophie zunächst mit dem Problem der Wahrnehmung zu tun, d. h. mit der Frage, ob und wie das sinnliche Wahrnehmen zur begründenden Grundlage für das Wissen der empirischen Wissenschaft werden kann. Mit dieser Frage beschäftigen wir uns im 2. und 3. Kapitel. In ersterem geht es um die Frage, wie das Wahrnehmen zum Begründen werden kann und was das für den Anspruch der Wissenschaft bedeutet, Aussagen und Theorien über die Welt machen zu können, wie sie wirklich ist. In letzterem wird die Frage nach dem Wahrnehmen in Bezug auf das Experiment gestellt, das heute als die entscheidende Instanz für die Begründung wissenschaftlichen Wissens gilt.

Von den unter den Titeln ‚Wahrnehmung‘ und ‚Experiment‘ aufgeworfenen Fragen führt der gedankliche Weg notwendig auf die Problematik des Zusammenhanges von Sprache, Bedeutung und Welt. Unsere fragmentarische Untersuchung einer weitgehend akzeptablen Beschreibung von Wissenschaft zeigte bereits eine durchgehende Problematik, auch wenn wir sie nicht immer explizit ausgeführt haben. Es ist das Problem Sprache und Welt, das die wissenschaftsphilosophische Frage nach der Erklärbarkeit der Welt in der Wissenschaft (‚science‘) seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entscheidend bestimmt. Sollen wissenschaftliche Feststellungen und Theorien die ‚Welt‘ und Sachverhalte in ihr so beschreiben können, dass sich darin nicht subjektive Vorstellungen und Gedanken der Wissenschaftler darstellen, sondern objektive und universell geltende Gesetze, dann muss die wissenschaftliche Sprache die Möglichkeit einer solchen Darstellbarkeit der Welt in sich selbst enthalten. Dieses Problem wurde rasch das Zentrum der Frage nach dem Geltungsstatus der Wissenschaft. Die Wendung der Philosophie zur Sprache (‚linguistische Wendung‘) bot zur gleichen Zeit die Grundlage für eine solche philosophische Auffassung der Wissenschaft, und die folgende Wendung zum sozialen Zusammenhang unseres Denkens, Wissens und Handelns (‚pragmatische Wendung‘) verstärkte diese Richtung des Denkens weiter. Umgekehrt war es gerade die Untersuchung der Fähigkeit einer wissenschaftlichen Sprache, die szientifischen Ansprüche auf Darstellbarkeit der Welt in der Sprache zu erfüllen, die wesentlich zu jener Wendung zur Sprache und nachfolgend zur Wendung zur Pragmatik der Sprachverwendung beigetragen haben.

Wir untersuchen dieses Problem von Sprache und Welt im Folgenden anhand der leitenden Fragestellung, wie Wörter und Sätze einer Sprache ihre Bedeutung erhalten (4. Kapitel). Das hat den Vorteil, dass auf diese Weise die Beziehung der wissenschaftlichen Sprache zur Welt dort deutlich wird, wo wir beanspruchen, die Welt zur Sprache zu bringen. Auf der Ebene von Wörtern oder auch Sätzen als sprachlicher Ereignisse, die wie andere Gegenstände auch in der Welt vorkommen, sei es in der Gestalt von Tinte oder Druckerschwärze auf Papier oder elektrochemischer Vorgänge auf einem Bildschirm oder akustischer Ereignisse in der gesprochenen Sprache, können wir offenbar noch nicht nach einer solchen Beziehung fragen. Erst wenn wir solche Gegenstände als Zeichen auffassen, gewinnen wir eine sprachliche Beziehung zur Welt und zu uns selbst. Damit ist aber auch schon das Problem der Bedeutung gegeben, weil die Zeichen uns nicht von sich her sagen, wofür sie Zeichen sind. Wir müssen sie deshalb erklärt bekommen.

Das kann etwa dadurch geschehen, dass wir für die Erscheinung eines bestimmten Tieres das akustische Ereignis ‚Hase‘ zu verwenden lernen. Wir werden sehen, dass ein Verständnis von Bedeutung nach diesem Muster viel zu kurz greift, um die Beziehung der Sprache zur Welt aufklären zu können. Das zeigt sich bei Wörtern für ‚intangible‘ Gegenstände wie Liebe, Hass, Wohlwollen, Furcht, es zeigt sich aber auch bei Wörtern wie ‚Universität‘, ‚Staat‘, ‚Wirtschaft‘ oder ‚Attraktivität‘. Hier müssen wir erklären, was sie bedeuten, d. h. andere Wörter an ihre Stelle setzen. Damit wird aber angenommen, dass wir verschiedene Wörter austauschbar gebrauchen können. Das ist ebenfalls die Annahme bei einer Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen. Die Zeichen ‚Hase‘ und ‚hare‘ können wir ebenso identisch gebrauchen wie ‚Hass‘ und ‚hatred‘. Was ist dieses Identische? Nun, so pflegen wir zu sagen: ihre Bedeutung. Wie wir die Bedeutung aber näher verstehen können, und wie wir damit das Verhältnis von Sprache und Welt näher aufklären können, das stellt eines der Probleme dar, das die Philosophie seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Atem hält.

Wenn es mithilfe der Frage nach der Bedeutung gelungen ist, die Problematik der Frage nach dem zu verstehen, wovon die wissenschaftliche Sprache handelt, dann können wir besser informiert auf die Frage zurückkommen, die sich in dieser einleitenden Reflexion auf den Begriff der Wissenschaft schon sehr deutlich meldete. Wie geht die Wissenschaftsphilosophie auf ihrem gegenwärtigen Stand mit der Frage nach dem Realismus in Bezug auf wissenschaftliche Aussagen und Theorien um? Dieser Stand ist offenbar fundamental durch die Reflexion auf Bedeutung in der Sprache geprägt. Wir werden sehen, wie sich aus dieser Perspektive das sog. ‚Realismus-Problem‘ in Bezug auf die empirische Wissenschaft darstellt (5. Kapitel).