Das Biest in Dir

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»Es handelt sich jedoch nicht um irgendjemanden«, fuhr der Großmeister mit geheimnisvoller Stimme fort. »Auf den jungen Mann, der sich für die nächsten Jahre an deiner Seite befinden wird, trifft womöglich eine alte Prophezeiung zu. Das hat dich im Moment allerdings nicht zu beschäftigen. Ob die Vorhersage wahr ist oder nicht, wird sich dem Hohen Rat im Laufe seiner Ausbildung noch eröffnen. Sieh du nur zu, dass aus ihm ein tadelloser Krieger wird. Bist du damit einverstanden?«

»Ja, na...natürlich«, antwortete Skal sogleich hocherfreut und wusste seine zweite Chance mehr zu schätzen, als ein jeder von ihnen auch nur ahnen konnte. Die warnende Stimme in seinem Hinterkopf hatte er inzwischen längst zum Schweigen gebracht und war erpicht darauf, seinen neuen Schüler kennenzulernen. Obwohl natürlich kein anderer die Lücke in seinem Herzen jemals würde schließen können, die Cedryk hinterlassen hatte. Den Gedanken daran, dass es dieses Mal etwas geben könnte, das ihn daran hindern würde, die Ausbildung des Jungen erfolgreich zu beenden, verdrängte er geflissentlich. Für Selbstzweifel war jetzt einfach kein Platz mehr.

»Dein neuer Schützling ist erst vor wenigen Augenblicken angekommen. Farjez wird dich nun zu ihm führen«, meinte Asthirad in einem Tonfall, der das Gespräch für beendet erklärte. Skal erhob sich und neigte das Haupt in einer respektvollen Geste. Als er sich gerade umdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, erhob jedoch ein anderer Großmeister des Rates, den er noch nie zuvor gesehen hatte und dessen Namen er auch nicht wusste, die Stimme.

»Und Skal, es wäre schön, wenn Darius sich bei dir ein wenig länger halten würde als Cedryk.«

Skal sah dem Mann nur stumm in die Augen und nickte. Bei der Gelegenheit bemerkte er anhand der muschelförmigen Ohren, dass es sich bei ihm um einen der wenigen Menschen im Rat handelte. Einen Atemzug später drehte er sich wortlos um und verließ den Raum.

Darius hieß sein Schüler also.

Und Skal, es wäre schön, wenn Darius sich bei dir ein wenig länger halten würde als Cedryk. Dieser Satz ging dem Iatas nicht mehr aus dem Kopf, während er geistesabwesend den Weg in die Eingangshalle einschlug. Er war ihn schon so oft gegangen, dass seine Füße in den Fluren, die mehr einem Labyrinth als einer Burg ähnelten, von ganz alleine wussten, wohin sie sich zu wenden hatten. Skal war sich in diesem Moment sicher, dass dem Mann die eine Stimme gehörte, die bei der Abstimmung gegen ihn gewesen war.

Ahnte er womöglich etwas?

Die Ausbildung beginnt

Ungeduldig wartete Darius in dem kleinen Raum auf seinen neuen Meister. Der alte Farjez, der ihn die ganze Zeit über schweigend die Treppen hinaufgeführt und auf keine seiner Fragen geantwortet hatte, machte die Sache nicht unbedingt erträglicher. Unablässig gingen Darius die letzten Worte von Ramir durch den Kopf. Mit der anfänglichen Euphorie, die er in den letzten Tagen verspürt hatte, war es inzwischen vorbei. Auch von dem Essen auf dem Tisch hatte er nichts angerührt. Der Appetit war dem jungen Mann gründlich vergangen.

So langsam fragte er sich, ob er wirklich hierher gehörte. Ja, er war ein durchaus fähiger Kämpfer, da wo er herkam. Jedoch nicht mehr als ein Tagedieb und Straßenschläger. War vielleicht alles nur ein Irrtum? Waren Aaron und Ramir möglicherweise gar nicht auf der Suche nach ihm, sondern jemand ganz anderem? War alles nur eine Verwechslung und er saß hier, während ein anderer, zu dem dieses Leben viel besser passen würde, seiner Chance beraubt war? So würde es wohl sein, denn er konnte sich selbst beim besten Willen nicht als Iatas sehen, der für Recht und Ordnung eintrat, so wie es ihm Aaron in den vergangen Tagen mehrmals erklärt hatte.

Wie konnte er nur so heuchlerisch sein, zu glauben, er würde für Recht und Gesetz einstehen können, wo er doch die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, systematisch genau dagegen vorzugehen? Während er noch verzweifelt daran dachte, öffnete sich plötzlich die Tür und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Eine große Gestalt bewegte sich durch den geöffneten Spalt in seine Kammer. Der Mann hatte kurzes, braunes Haar, war ähnlich muskulös gebaut wie Darius und hatte eine Narbe, die quer über sein Gesicht verlief. Vermutlich stammte sie von einem Gegner, der einmal den Hauch eines Augenblickes schneller gewesen war als er. Dabei hatte der Mann noch Glück gehabt, ein wenig höher und er hätte das Licht seines linken Auges eingebüßt.

Mit einem Mal fiel Darius auf, dass er den Fremden, seitdem er den Raum betreten hatte, unablässig anstarrte. Da noch immer keiner der beiden ein Wort gesprochen hatte, sagte er wenig geistreich: »Hallo.«

»Sei gegrüßt«, entgegnete der vernarbte Mann freundlich. Er hatte eine tiefe und sehr kraftvolle Stimme, die sogleich den ganzen Raum erfüllte und in jede Ecke zu dringen schien. »Mein Name ist Skal und du bist wohl Darius?«

»Ja«, entgegnete dieser und kam sich bei seinen einsilbigen Sätzen ziemlich blöd vor.

»Mir wurde die Ehre zuteil, die nächsten zehn Jahre dein Meister zu sein«, sagte Skal und lächelte über das belämmerte Gesicht des Jünglings.

Darius, der langsam die Sprache wiederfand, ergriff nun seinerseits das Wort: »Ich habe so viele Fragen an dich. Wer bist du? Was genau ist ein Iatas? Was willst du mir beibringen? Und vor allem ... gehöre ich wirklich hierher?«

»Ganz ruhig«, lachte Skal, zum einen amüsiert über die Neugier und Unerfahrenheit des Jungen, die ihn an seine erste Begegnung mit seinem Iatas-Meister namens Bullrich vor vielen Jahren erinnerte. Zum anderen darüber, dass sein Schützling ihm von Anfang an sympathisch war – und wohl auch umgekehrt. »Eines nach dem anderen. Ich werde mich bemühen, dir all deine Fragen zu beantworten.«

»Das habe ich irgendwo schon mal gehört«, murmelte Darius. An Skal gewandt sagte er etwas lauter: »Ich frage mich nur, ob ich wirklich hierher gehöre? Ob ich ein Iatas werden kann oder es überhaupt werden sollte?«

»Nun, Darius«, antwortete Skal, der inzwischen nicht mehr in der Tür stand, sondern die Kammer gänzlich betreten und auf dem zweiten Stuhl Platz genommen hatte. »Wenn du es bis hierher geschafft hast, dann bist du vielleicht noch kein Iatas, doch sicherlich der Ausbildung würdig, einer zu werden.«

»Aber das ist ja gerade das Problem«, entgegnete Darius, der sich überhaupt nicht bestätigt sah. »Ich wurde hierher gebracht, ohne etwas Besonderes getan zu haben.«

»Aber du musstest doch sicher eine ganze Reihe von Prüfungen bestehen?«, fragte Skal irritiert und runzelte die Stirn.

»Nein, nicht eine Einzige«, meinte Darius, der bei dem Gedanken nur noch unsicherer wurde. »Das blieb mir erspart. Als Aaron und Ramir mich hierher brachten, sagten mir, dass ich von einem Schamane auserwählt wurde.«

Bei der Erwähnung von Aaron und Ramir wurde Skal mit einem Male stutzig und kräuselte kaum merklich die Lippen. Wieso zogen ein Meister und einer, der – soweit Skal wusste – kurz davor stand einer zu werden, los, um einen Frischling abzuholen? Da der Rat ihm, mit Ausnahme der Andeutung über eine Prophezeiung, keine genaueren Informationen über Darius gegeben hatte, kam Skal zu der einzig logischen Schlussfolgerung, die solch einen Aufwand rechtfertigte. Nicht zuletzt, da man zwei Iatas gegenwärtig auch gut anderenorts hätte gebrauchen können.

Prophezeiungen und alte Voraussagen gab es viele und gelobt sei der Tag, an dem nur jede zehnte von ihnen zutreffen würde, aber wenn zwei Iatas einen Burschen den ganzen Weg – von wo auch immer – bis nach Baknakaï begleiteten, dann nur als Leibwache. Aus dem Grund, weil er wichtig war. Dass er Darius irgendein Ammenmärchen von einem Schamanen aufgetischt hatte, sah Aaron, diesem alten Fuchs, ganz ähnlich. Skal war nun jedoch fest entschlossen, herauszufinden, worum es in dieser Prophezeiung eigentlich ging.

Somit war seine viel- und zugleich nichtssagende Antwort: »Wenn Aaron das gesagt hat, dann wird dem wohl so sein. Ich selbst bin mit dir auch sehr überrascht worden, da mir der Hohe Rat dich eben erst als Schüler übergeben hat. Eigentlich weiß ich noch gar nichts von dir. Und für eine Beziehung, wie wir sie in den nächsten Jahren haben werden, ist so etwas sehr ungewöhnlich. Normalerweise hätte ich dich erst nach einer Reihe von körperlichen und charakterlichen Prüfungen aufgenommen. Aber wenn der Schamane der Meinung ist, bei dir wäre das nicht nötig, werden wir sofort mit der Ausbildung beginnen. Wie klingt das für dich?«

»Gut«, entgegnete Darius nachdenklich und noch immer etwas unsicher. Er war nach wie vor nicht gänzlich überzeugt. »Aber kann ich mich mit dem Schamane vielleicht mal unterhalten? Ich hätte einige Fragen an ihn.«

»Nein«, entgegnete Skal schnell. »Das geht nicht. Er kann jetzt niemanden empfangen, weil ... er nicht hier ist.«

»Wo ist er denn?«, fragte Darius neugierig. »Wir könnten doch zu ihm hingehen oder warten, bis er zurückkommt.«

»Tot«, antwortete Skal, der sich immer unwohler fühlte und in Gedanken Aaron für seine fehlende Voraussicht verfluchte. »Er ist tot. Ich war eben bei seiner Einäscherung. Sehr traurig. Reden wir bitte von etwas anderem.« Darius sah ihn prüfend an und wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als Skal plötzlich eine Idee hatte, wie man jeden jungen Krieger ganz leicht ablenken konnte. »Du sagst, du wärst dir nicht sicher, ob du das Zeug zu einem Iatas hättest?« Darius nickte. »Das Wichtigste, was du beherrschen musst, ist das Kämpfen.« Skals Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Zu behaupten, dass die Augen von Darius zu leuchten begannen, wäre schlicht untertrieben gewesen.

»Da wo ich herkomme, bin ich der beste Kämpfer der Gegend!«, meinte er, nicht ohne Stolz, woraufhin Skal weise lächelte. Er war froh darüber, das Thema vom Tisch zu haben und fest entschlossen, es nie wieder aufkommen zu lassen, daher sagte er: »Wenn ich für jedes Mal, dass ich diesen Spruch gehört habe, eine Basre bekommen hätte, wäre ich reich. Und nun ab mit dir auf den Hof, deine erste Übungsstunde beginnt jetzt.«

 

Nach den ersten anfänglichen Zweifeln über den jungen Mann musste Skal feststellen, dass er für einen Sechzehnjährigen erstaunlich begabt im Faustkampf war und auch bereits die Grundlagen des Schwertführens beherrschte. Zweifelsohne steckte Talent in diesem Kerl. Um es zu vervollkommnen war Skals erste Devise jedoch das altehrwürdige Herumnörgeln. Denn Hochmut, der mit allzu leicht ausgesprochenem Lob Hand in Hand ging, war der Tod aller fleißigen Bemühungen.

»Halt das Schwert immer oben! Dein Gegner wartet nur darauf, dass es dir zu schwer wird. In dem Moment, wo du es herabsinken lässt, greift er dich an!«, bellte er.

»Ich geb mir ja Mühe«, entgegnete Darius sichtlich angeschlagen und versuchte es erneut. »Aber ich bin erschöpft. Wir üben schon den ganzen Nachmittag. Ich bin langsam am Ende meiner Kräfte.«

»Das ist deinem Feind egal. Er wird jede deiner Schwächen erbarmungslos ausnutzen, um dich zu töten. Und nebenbei bemerkt hast du sehr viele davon. Aber keine Sorge, die werde ich dir noch austreiben. Schmerz und Demut werden deine Lehrmeister sein«, lamentierte Skal nicht ohne Genugtuung.

Nun begann der zweite Teil seiner Ausbildung. Skal würde zur Not die ganze Nacht und auch den darauf folgenden Tag hier stehen. So lange wie es nötig war, Darius die Lektion beizubringen. Er würde ihn nicht eher ruhen lassen, bis er die Techniken beherrschte oder aufgab. Nur so ließ sich prüfen, ob er bereit war, die Befehle seines Meisters bedingungslos auszuführen, egal wie sinnlos und selbstzerstörerisch sie in seinen Augen auch sein mochten. Und sie würden in den nächsten Stunden sehr sinnlos für Darius wirken und ihn bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringen. So focht der Jüngling unter Skals wachen Augen tatsächlich die ganze Nacht auf dem kleinsten der vier Exerzierplätze Baknakaïs gegen imaginäre Lanzenträger und unsichtbare Schwertkämpfer.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und ihre ersten wärmenden Strahlen über die Hofmauern schickte, konnte Darius sich schon kaum mehr auf den Beinen halten. In der Nacht war die Temperatur zeitweise unter den Gefrierpunkt gesunken, sodass seine Hände und Füße in den letzten Stunden vor Kälte taub geworden waren. Dennoch übte er, unter Skals strengen Blicken, unermüdlich weiter. Hin und wieder konnte er einen Herzschlag lang durch das geöffnete Burgtor auf das anliegende Dorf schauen und sah wie die Leute ihrer Arbeit nachgingen. Als die Menschen am Abend wieder zurück in ihre Stuben kamen und das große Festungstor geschlossen wurde, lerne Darius noch immer Angriffe und Paraden.

Denn ganzen Tag hatte er die Übungen versucht und versucht, unterbrochen lediglich von einer Magd, die um die Mittagszeit mit einem Krug Wasser vorbeikam. Skal, der die ganze Nacht neben ihm gestanden hatte und nicht müde wurde, eine kritische Äußerung nach der anderen abzugeben, war inzwischen wohl der Mund trocken geworden. Daher ließ er die junge Frau näher kommen und auch Darius von dem Wasser trinken, nicht aber ohne selbst zuvor den größten Teil der Kanne gelehrt zu haben.

Als die Sonne schließlich erneut unterging, war Darius der Ohnmacht nahe. Er hatte seit über eineinhalb Tagen nichts gegessen und eine Nacht lang nicht geschlafen. Seine Glieder schmerzten und das Wasser, welches schon vor Stunden kaum die Kehle benetzt hatte, kam ihm inzwischen vor, als hätte er es in einem anderen Leben getrunken. Selbstmitleid stieg in ihm auf als er daran dachte, dass das Essen, welches er um die Mittagszeit des Vortages verschmäht hatte, wohl zwischenzeitlich in einem Schweinetrog gelandet war. Liebend gerne würde er sich jetzt den Wanst vollschlagen, um dann wie tot auf sein Lager zu fallen und die versäumte Zeit des Schlafens doppelt und dreifach nachzuholen. Aber er durfte sich diesen Gedanken nicht hingeben. Er musste bei der Sache bleiben.

Darius wusste selbst nicht mehr, warum er so erpicht darauf war, den Umgang mit dem Schwert zu meistern. Er hatte in seinem Leben noch keinen Tag lang ehrliche Arbeit verrichtet und war Anstrengungen über einen längeren Zeitraum hinweg nicht gewöhnt. Warum auch? In seinem Dorf hatte er alles, was er wollte und falls nicht, zog er mit seinen Brüdern und Schwestern los, um es sich zu holen.

Zwar wusste Darius, dass er jederzeit zu diesem Dorf und dem damit verbundenen Leben zurückkehren konnte, denn seine Geschwister würden ihn gewiss mit offenen Armen empfangen. Doch etwas in ihm drängte ihn dazu, weiterzumachen. Er durfte nicht aufgeben. Darius wusste nicht warum, aber irgendetwas in ihm schrie danach, ein Iatas zu werden. Nicht für Ruhm, nicht für Reichtum, es war etwas anderes. Etwas, das er jetzt noch nicht einordnen konnte. Aber feststand, er musste ein Iatas werden! Dazu musste er diese Übung bewältigen und dazu musste er sich von allen störenden Gedanken befreien.

Und es gelang. Mit einem Mal waren der Hunger, der Durst und die Müdigkeit verschwunden. Skals Befehle verkamen in seinen Ohren zu einem gleichmäßigen Rauschen. Seine Augen, die er kaum mehr offen halten konnte, strahlten vor neuem Glanz. Und ungeachtet seiner schweren und von blauen Flecken übersäten Glieder führte Darius nun einen Schwertstreich links, einen Schwertstreich rechts aus, sprang mit einem Satz nach hinten, wobei er einen imaginären Gegner mit einem Tritt außer Gefecht setzte. Anschließend ließ er sich im Bruchteil eines Wimpernschlages nach vorne fallen und rollte sich, wie Skal es ihm in den letzten eineinhalb Tagen unzählige Male gezeigt hatte, über die linke Schulter ab, um einem feindlichen Angriff zu entgehen.

Doch als er zum finalen Stich gegen den letzten seiner unsichtbaren Widersacher ausholte, stand Skal plötzlich vor ihm und parierte die Attacke. Mit den freigesetzten Kraftreserven, von denen Darius selber nicht wusste, dass er sie besessen hatte, schlug er erneut zu und das mit einer solchen Wucht, dass es die Klinge seines Meisters direkt aus dessen Fingern riss.

Skal, der wusste, dass diese Übung viel zu schwer für einen Anfänger war, und sie deshalb nur als ein Mittel zum Zweck betrachtete, um die Belastbarkeit seines neuen Schülers zu prüfen, hatte nicht ernstlich damit gerechnet, dass dieser sie tatsächlich bewältigen würde.

Umso erstaunter war er, als ihm nun urplötzlich das eigene Schwert aus der Hand flog. Als er Darius überrascht entgegenblickte, hatte er den Eindruck, einen Schatten in dessen Augen zu erkennen und einen Herzschlag lang fürchtete er, der Jüngling würde weiter kämpfen und ihn erneut attackieren.

Irgendetwas an ihm hatte sich mit einem Mal schlagartig verändert, doch als Skal genauer hinschaute, war alles wieder beim Alten. Schon einen Lidschlag später ließ Darius die Waffe sinken, strahlte quer über das ganze Gesicht und gluckste: »Na, zufrieden?«

»Ja, allerdings«, lachte Skal und verwarf den absurden Gedanken wieder. Darius hatte nur Glück. Glück und Talent. Denn eines war sicher, dieser junge Kämpfer hatte sowohl die Ausdauer als auch die Technik, um ein Iatas zu werden, wie er im Buche stand. Während Darius noch völlig verblüfft über die Fähigkeiten war, die in ihm schlummerten und darüber staunte, dass sich sein Körper wie von selbst bewegt zu haben schien, stand für Skal bereits jetzt eines fest. So ungewöhnlich es auch war, aber der Teil der Ausbildung, der in Baknakaï stattfinden sollte und für den er Wochen eingeplant hatte, war hiermit zu Ende. Nun konnte die richtige Lehre beginnen. So manchem Mitglied des Hohen Rates mochte es vielleicht widerstreben, dass er das neuste Mitglied ihres Ordens bereits nach eineinhalb Tagen mit in die weite Welt nahm. Doch in dem Moment, da Skal das Flackern in Darius’ Augen gesehen hatte, wusste er, dass der Junge reif dafür war.

»Ich hab’s geschafft!«, jubelte Darius noch immer erstaunt über seine eigene Leistung. »Ich hab’s endlich geschafft.«

»Ja, das hast du«, entgegnete Skal anerkennend. »Und jetzt hast du dir ein wenig Ruhe verdient.« Gemeinsam gingen sie ins Innere der Festung zurück, und nachdem Darius sich den Bauch vollgeschlagen hatte, so wie er es sich die letzten Stunden unzählige Male vorgenommen hatte, sackte er auf seiner unbequemen Pritsche, die nur aus einem mit Stroh gefüllten Sack und einer Pferdedecke bestand, zusammen. Unter anderen Umständen hätte er sich auf diesem Lager wohl noch eine ganze Weile hin und her gewälzt, aber heute schlief er sofort ein.

Und er träumte. Darius träumte sonst eigentlich nie, was natürlich Unsinn war, denn jeder Mensch träumte, nur konnte Darius sich am Morgen danach meist schon nicht mehr daran erinnern. Und auch diesen Traum würde er vor dem Erwachen vergessen haben. Nicht wissend, dass viele Wegstunden entfernt eine junge Frau dasselbe nächtliche Erlebnis hatte.

Festen Schrittes lief Darius neben einem Mädchen – sie war etwa in seinem Alter – eine Straße entlang. Es war mehr ein Feldweg, denn einer befestigten Passage. Um sie herum stand eine Vielzahl sommergrüner Bäume. Keine Allee, dafür waren es zu viele. Eher erinnerten sie an die ersten verzweigten Ausläufer eines Waldes. Links neben ihnen verlief ein kleiner Bach, der leise vor sich hin plätscherte und an den Bäumen schlängelten sich Sträucher empor, an denen schon die ersten Schmarotzerbeeren gediehen, die mit ihrer verlockenden roten Farbe zum Probieren einluden. Doch irgendetwas an dieser friedlichen Szenerie wirkte seltsam ... falsch.

Als die junge Frau, deren Name Darius nicht kannte und die auch noch kein Wort gesprochen hatte, ihn plötzlich anstieß und nach rechts deutete, erkannte er, was ihn störte. Ihrem Fingerzeig folgend, sah er ein Haus, das von solch enormer Größe war, dass es tief in den Wald hinein ragte und man seine Ausmaße nur abschätzen konnte.

Obwohl Darius das große, mit hohen, weißen Säulen verzierte Gebäude bisher noch nicht im eigentlichen Sinne wahrgenommen hatte, hatte er doch die ganze Zeit über schon ein unangenehmes Gefühl verspürt. Geradeso als würde dieser Tempel – zumindest sah es so aus, wie einer – einen Schatten über die weite Flora werfen und das, obwohl es mitten am Tag war, während die Sonne heiß vom Himmel herab schien.

Darius fühlte auf irgendeine nicht zu erklärende Art Beklemmung beim Anblick des Gebäudes und, er kam sich bei der Vorstellung daran selber lächerlich vor, Angst! Doch beim Gedanken an seinen großen Bruder, Ryu, der ihm stets mit der Weisheit: »Wenn du vor etwas Angst hast, dann tu es erst recht«, in die unmöglichsten, doch im Nachhinein gesehen meist glücklich endeten, Abenteuer gestürzt hatte, griff er sich ein Herz und wollte auf das Bauwerk zugehen. In diesem Moment hielt ihn seine Weggefährtin, die ihm auf eine undefinierbare Art und Weise seltsam vertraut vorkam, mit einer leichten Berührung am Arm zurück. Sie sagte zwar noch immer kein Wort, doch in ihrem Blick erkannte er, dass sie selbst mindestens genauso viel Furcht empfand wie er.

So drehten die beiden sich um und gingen in die entgegengesetzte Richtung. Aus ihrem Gehen wurde schon bald ein Laufen und daraus ein Rennen, als ginge es um ihr Leben. Die Landschaft um sie herum schien nur so zu fliegen und Darius spürte keinerlei Erschöpfung, während er an der Seite des Mädchens die Landschaft hinter sich ließ. Erst als sie sich weit aus dem Wald hinaus in eine hügelige, von saftigen Wiesen überzogene Landschaft geflüchtet hatten, verlangsamte er seine Schritte, bis er schließlich gänzlich zum Stehen kam.

Obwohl das Gebäude schon längst außer Sicht war, lag der Schrecken, den sich weder Darius noch seine schweigende Begleiterin erklären konnte, noch immer fast greifbar in der Luft. Der jungen Frau hing eine einzelne Strähne ihres langen, hellbraunen Haares ins verschwitzte Gesicht und Darius konnte sich dem Gedanken nicht entziehen, dass er sie von irgendwoher kannte.

Oder würde er sie erst noch kennenlernen? Ängstlich blickte sie ihm mit einem fast schon anklagenden Gesichtsausdruck entgegen und Darius war sich sicher, dass die eben geschehenen Ereignisse nur der Auftakt zu etwas viel Größerem waren.