Das Biest in Dir

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»Normalerweise zieht ein Iatas-Meister, so wie ich einer bin, mehrere Jahre, durch die Welt, um sich selbst einen Schüler zu suchen. Häufig muss man sehr viele Prüfungen bestehen, die den Geist und den Körper fordern, bevor man von ihm akzeptiert wird. So war es zum Beispiel auch bei Ramir.« Damit deutete er vielsagend auf seinen Schüler, dessen Blick auf einmal nachdenklich ins Leere zu gehen schien, während er mit leicht gesenktem Kopf und aufeinander gepressten Lippen kurz aber zustimmend nickte. Darius wollte noch etwas fragen, wurde aber von Aaron unterbrochen.

»Eines möchte ich zu Beginn allerdings noch klären. Es hat offenbar ein Missverständnis gegeben. Die Tatsache, dass wir dich Mokku erst abkaufen wollten, war reiner Großmut. Da du ja ganz offensichtlich nicht in seinem Besitz bist, ist dies nun nicht mehr nötig. Das hat allerdings nach wie vor nicht zu bedeuten, dass wir an deiner Meinung interessiert sind. Du wirst definitiv mit uns kommen!«

»Und was ist, wenn ich nicht will?«, entgegnete Darius aufrührerisch.

Doch dieses Mal war es Ramir, der antwortete: »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass deine Meinung hier nichts zur Sache tut. Du hast meinem Meister wohl gerade nicht zugehört. Wir sind zwei Iatas, und wenn du nicht freiwillig mit uns kommst, dann holen wir dich zur Not auch mit Gewalt. In diesem Dorf gibt es niemanden, der uns daran hindern kann. Mach die Sache also nicht unnötig demütigend für dich. Davon abgesehen solltest du dich geehrt fühlen, dass man dich für eine Ausbildung zum Iatas als würdig erachtet. Andere würden für diese Gelegenheit töten.« Genau wie draußen auf dem Hof hatte die Stimme des jungen Mannes wieder einen herablassenden Klang angenommen und Darius begann die Zornesröte ins Gesicht zu steigen.

Doch nun wandte sich auch Ryu, der bisher geschwiegen hatte, an seinen kleinen Bruder und sah ihm tief in die Augen. »Erinnerst du dich an das, was du mir gestern Abend erzählt hast? Du sagtest mir, dass du dieses Leben satt hättest und endlich mal etwas erleben willst. Darius, das hier ist die Möglichkeit dafür.«

»Das habe ich doch bloß so dahin gesagt«, entgegnete dieser unruhig, obwohl er sich da urplötzlich gar nicht mehr so sicher war. Was wollte er denn eigentlich? Darius wusste es selbst nicht. Sich an einen letzten Strohhalm klammernd, blickte er von einem zum anderen und meinte energisch: »Wieso ausgerechnet ich? Warum hat euer Schamane ausgerechnet mich ausgesucht? Du hast doch selbst gesagt, dass so etwas seit Jahren nicht mehr vorgekommen ist.«

»Den Grund dafür kennen wir auch nicht«, antwortete Aaron und es klang tatsächlich aufrichtig. »Begnüg dich einfach damit, dass du auserwählt wurdest. Und jetzt pack deine Sachen. Bei Sonnenaufgang brechen wir nach Baknakaï auf, dem Hauptsitz der Iatas. Dort übergeben wir dich dann deinem neuen Meister.« Der Krieger sprach, als wäre die Sache schon entschieden, doch Darius rebellierte.

»Ich habe noch nicht gesagt, dass ich mitkomme. Und überhaupt, wieso kommt der Mann nicht selbst hierher, um mich zu holen?« In einem letzten, verzweifelten Aufbegehren gegen das Unausweichliche spie der junge Dieb seinem Gegenüber die Worte mit lauter Stimme entgegen, so als könnte er ihn dadurch in seinem Entschluss umstimmen.

»All deine Fragen werden wir dir, so gut wir können, auf dem Weg nach Baknakaï beantworten«, versicherte ihm Aaron vertrauensvoll. »Doch bis dahin wirst du dich gedulden müssen.« Mit einer eindeutigen Handbewegung gebot er allen im Raum, dass das Gespräch damit beendet war. Darius war von der Autorität, die mit einem Male von dem Mann ausging, so überrascht, dass er der Geste, entgegen seinem eigentlichen Willen, unbewusst Folge leistete. Augenblicklich verfiel er in nachdenkliches Schweigen, obwohl er bereits Luft geholt hatte, um sich erneut mit dem Iatas zu streiten. Dennoch wollte er auf keinen Fall zulassen, dass man einfach so über seinen Kopf hinweg entschied und ihn für irgendeine Söldnertruppe verpflichtete.

»Es wurde gesagt, was gesagt werden musste. Wir sind nun müde und werden uns den Rest des Abends zurückziehen«, ließ Aaron nach einigen Augenblicken großspurig verlauten und machte Anstalten zu gehen.

Nachdem Miree von Mokku angewiesen wurde, in ihrem Haus für die Gäste zu kochen und ihnen anschließend einen Platz zum Schlafen zur Verfügung zu stellen, schritten die beiden Iatas – nach einem höflichen Kopfnicken in Richtung Mokku – nacheinander durch die Tür. Ihre weiten, braunen Gewänder raschelten sanft, als sie den weitläufigen Raum verließen.

Kaum, dass die Treppen aufgehört hatten unter den Sohlen von Miree und den Iatas zu knarren, beugte Mokku sich in seinem herrschaftlichen Stuhl weit nach vorne und wandte sich geschäftsmäßig an Darius.

»Mir ist durchaus klar, dass es dich schmerzt, diesen Ort zu verlassen. Du bist hier aufgewachsen und all jene, die du kennst und liebst, leben hier. Aber eine Möglichkeit wie diese bietet sich dir nur einmal im Leben. Deshalb rate ich dir, genau zu überlegen, was du als Nächstes tust. Von mir aus nimm dir aus meiner Küche so viele Vorräte wie du tragen kannst und versteck dich für ein paar Tage im Wald.

Die beiden Iatas mögen noch so gute Kämpfer und vielleicht auch Spurenleser sein, aber wenn du nicht gefunden werden willst, dann bin ich mir sicher, dass sie dich auch nicht finden werden. Wenn sie abgezogen sind, kommst du zurück und wir werden nie wieder ein Wort über all das verlieren. Allerdings wirst du dich dann den Rest deines Lebens fragen, was alles hätte sein können.«

Darius nickte resignierend und Mokku fuhr fort: »Die andere Möglichkeit ist, dass du deinen Traum von einem anderen Leben wahr machst. Ryu sagte mir vorhin, dass du schon oft den Wunsch geäußert hast, ein anderes Leben zu führen.«

»Das ist wahr«, stimmte Darius tonlos zu und sein Schädel schmerzte, was nicht allein an der Beule auf seinem Hinterkopf lag.

»Als ausgebildeter Iatas könntest du das alles tun, du würdest die Welt bereisen und Abenteuer erleben. Und wenn jemand die Fähigkeiten dafür besitzt, dann du«, meinte Mokku ernst.

»Aber das stimmt doch gar nicht«, wollte Darius ihn verbessern. »Ryu ist ein viel besserer Kämpfer als ich.«

»Nein«, entgegnete dieser kopfschüttelnd. »Du hast mich schon vor einer ganzen Weile überholt und wenn du ehrlich bist, gibt es hier keinen mehr, der dir das Wasser reichen kann. Schon allein deshalb solltest du gehen.«

»Ich bin mir sicher, dass du dich richtig entscheiden wirst«, sprach Mokku zuversichtlich und lächelte breit. »Aber jetzt raus hier, ein alter Mann will schließlich auch mal seine Ruhe.«

Als Ryu und Darius vor die Tür des Hauses traten, ging die Sonne bereits unter und tauchte das Dorf der Großen Brüder in eine durchdringende Abendröte. Noch immer war Darius verwirrt über das, was er wollte und das, was er glaubte zu wollen. Nachdenklich wägte er das Leben, von dem er schon immer geträumt hatte, gegen das ab, welches er führte. Eigentlich fehlte es ihm doch an nichts und dennoch war da diese Leere in ihm. Eine Leere, die er noch nie mehr gespürt hatte als in diesem Augenblick.

Werde ich es mir je verzeihen können, wenn ich jetzt nicht gehe? Der Gedanke spukte einige Augenblicke lang in seinem Kopf umher, bis ihm klar wurde, dass die Leere in seinem Innersten keinesfalls von selbst weichen, sondern – genau wie Mokku gesagt hatte – sein Leben lang an ihm nagen würde.

»Ich möchte, dass du eines weißt«, durchbrach Ryu auf einmal unverhofft die Stille und riss Darius damit abrupt aus seinen Gedanken. Mit starrem Blick sah er ihm tief in die Augen und schien bis hinab in seine Seele schauen zu können. »Ich kenne die Entscheidung, welche du getroffen hast, genauso gut, wie du und ich verüble sie dir nicht. Im Gegenteil. Ich freue mich, dass du deinen Traum leben kannst. Aber ich möchte, dass du eines weißt«, wiederholte er und legte Darius dabei eine Hand auf die Schulter. »Auch wenn wir uns für eine lange Zeit nicht mehr sehen werden, du wirst immer mein kleiner Bruder bleiben.«

Es schien Darius so, als stecke ein dicker Kloß in seinem Hals, der ihm die Kehle zuschnürte und es fiel ihm schwer zu antworten. Deshalb nickte er seinem älteren Bruder nur stumm zu, während er die Tränen mit aller Macht zurückhielt.

Schließlich umarmten sich die beiden und Darius gestand sich nun endlich ein, was er die ganze Zeit über eigentlich schon gewusst hatte. Er würde gehen. Er würde ein Iatas werden.

Reise mit Fremden

Wie Aaron es vorhergesagt hatte, begannen sie ihre Reise am folgenden Morgen mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Zu Pferd ritt das Dreiergespann in Richtung Westen und Darius musste sich mächtig ins Zeug legen, damit seine alte Stute das Tempo von den gewaltigen Schlachtrössern der beiden Iatas halten konnte.

Zu Anfang sah der junge Bursche, den man so unverhofft aus seinem bekannten Umfeld gerissen hatte, sich noch hin und wieder nach seiner alten Heimat um. Die breiten Stämme der Bäume und das dichte Gestrüpp, welches links und rechts des schottrigen Waldweges wuchs, versperrten ihm jedoch schon nach Kurzem gänzlich die Sicht auf den Dorfplatz und die meisten Gebäude. Einzig das hölzerne Spitzdach von Mokkus Haus tauchte hin und wieder noch zwischen den Blättern und Nadeln der Baumwipfel auf.

Darius war fest entschlossen, selbst in diesen letzten Augenblicken noch so viele Erinnerungen von seiner Heimat mitzunehmen, wie nur irgend möglich. Erst jetzt wusste er richtig zu schätzen, was er eigentlich verloren hatte. In dem kleinen Dorf hatte man ihm nicht nur Nahrung und Unterkunft geboten. Auch alle Freunde, die er hatte lebten dort. Jeden Menschen, den er kannte, musste Darius nun zurücklassen, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, dabei wusste er noch nicht einmal so genau, ob er das überhaupt wollte.

 

»Hör auf Trübsal zu blasen«, meine Ramir und drehte sich im Sattel nach ihm um. Zum ersten Mal klang seine Stimme nicht spottend, sondern vermittelte ehrliches Mitgefühl, so als würde er die Situation, in der Darius sich befand, nur allzu gut nachvollziehen können. »Es muss ja nicht für immer sein. Irgendwann kommst du als Iatas wieder zurück. Dann werden deine Leute unheimlich stolz sein und dich mit offenen Armen empfangen.«

»Das ist nicht dasselbe«, murmelte Darius, schüttelte resigniert den Kopf und bemühte sich dabei krampfhaft, den Blick nicht noch einmal nach hinten zu richten. Ramir sollte ihn nicht für ein weinerliches Kind halten, das vom Heimweh geplagt wurde, kaum dass sein Zuhause außer Sichtweite rückte. Stattdessen atmete Darius tief durch, streckte die Brust heraus und nahm sich vor, von nun an nur noch nach vorn zu schauen. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Als hätte Aaron seine Gedanken gelesen, drehte auch er sich ein Stück weit in seinem Sattel nach hinten und musterte ihn mit prüfendem Blick.

»Meinst du nicht, dass du deine Freunde vermissen wirst? Schließlich waren sie doch so etwas wie eine Familie für dich.« Treu sorgend blickte der Iatas-Meister ihn aus seinen rehbraunen Augen heraus an.

»Ja, natürlich werde ich meine Brüder und Schwestern vermissen«, entgegnete Darius und wünschte sich inständig, die fragenden Augen des Mannes würden aufhören ihn zu taxieren.

»Na ja«, meinte Aaron langsam. »Ich hatte nicht so ganz den Eindruck. Zwar habe ich gesagt, dass wir bei Sonnenaufgang losreiten, doch am Ende hattest du es sogar noch eiliger als wir. Einige Augenblicke des Abschieds hätte ich dir schon noch gegönnt. Aber du hast keiner Menschenseele Bescheid gegeben, als wir das Dorf verlassen haben. Nicht einmal deinem Bruder Ryu wolltest du Lebewohl sagen.«

»Das war nicht nötig«, entgegnete Darius in einem ungewohnten Tonfall von Melancholie, den er selbst von sich noch gar nicht kannte, und dachte dabei wehmütig an den Abend des Vortages zurück, als er sich mit seinem Bruder in den Armen gelegen hatte. »Es hätte keine passenden Worte für solch einen Abschied gegeben. Ein kurzer, sauberer Bruch ist weniger schmerzhaft.« Unwillkürlich gingen Darius die Gesichter seiner jüngeren Geschwister durch den Kopf, die gestern noch nicht einmal an der Versammlung in Mokkus Haus teilgenommen hatten und wahrscheinlich erst noch erfahren würden, dass er von nun an nicht mehr da sein würde.

»Nun, wenn du das so siehst«, murmelte Aaron schulterzuckend in seinen buschig gekräuselten Bart hinein und drehte sich wieder nach vorn. »Das muss jeder selbst entscheiden, ich für meinen Teil hätte mich von Freunden und Familie verabschiedet, wenn ich seinerzeit welche gehabt hätte.« Die Stimme des Mannes war aufgeschlossen und unbekümmert, beinahe schon heiter. So, als spräche er nur über Belanglosigkeiten, wie das Wetter, während er seinem Schimmel durch die stattliche Mähne fuhr. Darius entging jedoch nicht, wie Ramir bei den Worten seines Meisters ein wenig zu Boden blickte und leicht mit dem Kopf schüttelte.

»Du bist kaum älter als ich«, versuchte er ein Gespräch mit dem schweigsamen jungen Mann zu beginnen. »Wie war das bei dir, als du zum Iatas-Schüler wurdest?« Ramir sah, aufgrund der vertraulichen Worte, beinahe schon erschrocken zu Darius auf, funkelte ihn einen Augenblick lang verärgert an und gab seinem Pferd dann wortlos die Sporen, um sich von ihm zu entfernen. Peinlich berührt biss der Jüngling sich auf die Zunge und wünschte sich, dass er doch besser ruhig gewesen wäre. Offenbar hatte er bei seinem Mitreisenden einen wunden Punkt getroffen. Unsicher sah Darius der kleinen Staubwolke nach, die sich unter den Hufen des Hengstes gebildet hatte, während Ramir wie ein störrisches Kind auf dem Rücken des Tieres den schmalen Waldweg entlang galoppierte, der zu beiden Seiten von dichten, haushoch gewachsenen Wurmlinden begrenzt wurde.

»Habe ... habe ich irgendetwas Falsches gesagt?«, fragte Darius vorsichtig an Aaron gewandt, der noch immer ein Stück vor ihm ritt und inzwischen damit begonnen hatte, ein munteres Liedchen zu pfeifen. Wieder zuckte der Mann nur mit den Schultern, als würde ihn die ganze Situation ein wenig langweilen.

»Ich habe keine Ahnung, Ramir spricht nicht gerne über seine Vergangenheit«, entgegnete er nach einigen Augenblicken, ohne sich umzudrehen und pfiff dann weiter seine Melodie, um zu zeigen, dass er das Gespräch damit für beendet hielt. Darius beschloss aufgrund dessen, von nun an gar nichts mehr zu sagen, wenn es nicht unbedingt sein musste.

Bereits am Ende des Tages, als sie eine Wegkreuzung, die mehr einem Trampelpfad glich und sie in Richtung Norden führte, hinter sich ließen, wurde diese Entscheidung jäh auf eine harte Probe gestellt. Für Darius war der Weg aus platt getretener Erde nämlich nicht einfach nur irgendeine Abzweigung. Es war die letzte Abzweigung. Die letzte Abzweigung, die er kannte. Sie führte in ein kleines Dorf, ganz ähnlich dem seinen, in dem nur eine Handvoll eigenartiger Menschen lebten, welche nur selten Kontakt mit anderen hatten. Soweit man Ryu in dieser Hinsicht glauben konnte, waren sie sehr seltsam und angeblich alle ein bisschen miteinander verwandt. Darius selbst war höchstens vier- oder fünfmal hier gewesen, da die Leute hier eigentlich nichts besaßen, was sich zu stehlen lohnte. Doch immerhin kannte er den Weg zu ihrer Siedlung. Von hier an ging der Pfad jedoch in eine Richtung, die er noch nie zuvor eingeschlagen hatte.

Dunkel und irgendwie beängstigend erhoben sich die rauen Baumstämme im schwächer werdenden Licht des Abends. Darius nahm den herben Geruch nach Nadeln und Moos plötzlich mit einer nie da gewesenen Intensität wahr. Auf einmal bekam er das drückende Gefühl, sich unbedingt jemandem mitteilen zu müssen. Doch wollte er weder Aaron noch Ramir – der sich inzwischen wieder auf ihrer Höhe hatte zurückfallen lassen – damit auf die Nerven gehen, dass er sich im dunklen Wald fürchtete.

Unwillkürlich ließ der Schrei eines Käuzchens den Jüngling reflexartig zusammenzucken, und er hoffte, dass die beiden Iatas, die leicht zueinander versetzt, nur wenige Pferdelängen vor ihm ritten, seine Reaktion auf den Vogelschrei nicht bemerkt hatten. Obschon er wusste, dass es unsinnig war, sich zu ängstigen und der Wald an dieser Stelle keinen Deut gefährlicher war als bisher, überkam Darius ein Frösteln, welches nichts mit dem rasch schwindenden Sonnenlicht zu tun hatte. Jeder Strauch, jedes Gebüsch und jedes Knacken im dichten Unterholz wirkte auf einmal unheimlich und bedrohlich, auf den sonst so furchtlosen Kämpfer.

»Wann werden wir rasten?«, fragte Darius schließlich nach einer Weile und übertönte damit ganz bewusst das Rascheln in den Baumwipfeln, welches sie schon seit einigen Augenblicken zu verfolgen schien.

»Wenn es dunkel wird«, kam die knappe Antwort von Aaron. »Unsere Pferde sind gut abgerichtet, sie wissen von selber, wann wir nichts mehr sehen und es für uns zu gefährlich wird, weiter auf ihnen zu reiten.« Sein Tonfall war nicht abweisend, er schien einfach kein Mann großer Worte zu sein, oder aber die Antwort, auf die Frage seines Reisebegleiters erschien ihm als so offensichtlich, dass er keinen Grund sah, weiter darauf einzugehen.

Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis das Abendrot fast vollständig verloschen war und sein Tier zusehends langsamer einen Huf vor den anderen setzte, bis es schließlich stehen blieb und ein erschöpftes Schnauben von sich gab. Langsam drehte der Wallach das Haupt, um seinen Herrn aus den großen, schwarzen Augen heraus fragend anzublicken.

Als wäre es für sie die reinste Routine – was vermutlich auch den Tatsachen entsprach – geboten Aaron und Ramir ihren Rössern mit je einer sanften Berührung an den Zügeln anzuhalten und stiegen schwungvoll von ihnen ab. Wortlos und ohne auch nur einen Blick miteinander tauschen zu müssen, ließen sie ihre Rucksäcke zu Boden gleiten und machten sich daran, die Tiere abzusatteln.

Um nicht so auszusehen, als wüsste er nicht, wie er sich verhalten sollte, tat Darius es ihnen gleich und in einem Anflug von aufkommender Selbstsicherheit fragte er nach einigen Augenblicken behutsam: »Soll ... soll ich versuchen uns etwas zu jagen?« Die Worte klangen seltsam hohl in seinen Ohren nach, doch Aaron schüttelte ohnehin den Kopf und packte einen großen, in ein Tuch gewickelten Laib Brot aus seiner Satteltasche.

»Zu dunkel«, entgegnete er schlicht.

»Du würdest ja doch keine Beute machen und dich am Ende bloß noch verlaufen«, mahnte Ramir, während er seine Decke einige Schritte vom Wegesrand entfernt ausbreitete. »Deine Schwester, Miree hieß sie glaube ich, hat uns gestern Abend genug Proviant für unseren ganzen Weg mitgegeben. Außerdem ist es nicht nötig, dass du versuchst, uns irgendwas zu beweisen.«

Darius war bereits drauf und dran dem eingebildeten Krieger zu sagen, dass er niemandem etwas beweisen müsse und auch durchaus schon unter schwierigeren Bedingungen etwas erlegt hatte. Doch bei genauerer Betrachtung war es ihm ganz recht, dass er hier bei ihnen bleiben konnte, anstatt allein durchs Dickicht schleichen zu müssen.

»Sammle lieber trockenes Holz für ein Feuer«, meinte Ramir beiläufig. Einen kurzen Augenblick später hob er einen lose herumliegenden Ast auf und hielt ihn Darius entgegen. »So was. Liegt hier überall rum.« Demonstrativ fuchtelte er mit dem Stock vor der Nase seines Wegbegleiters herum. Der biss die Zähne zusammen und verkniff sich eine patzige Antwort. Der Iatas-Schüler schien noch immer wegen der Frage über seine Vergangenheit verärgert zu sein, die Darius ihm am Morgen gestellt hatte. So nickte der junge Dieb einfach nur mit dem Kopf und machte sich daran, in gebückter Haltung, armlange Äste vom Boden aufzuklauben.

Ein konstantes, krachendes Geräusch in seinem Rücken machte ihn schon wenige Augenblicke später darauf aufmerksam, dass zwei Feuersteine aufeinander geschlagen wurden und sein Sammelgut nun bald gebraucht wurde. Während er noch schnell nach einem letzten Zweig griff, richtete Darius sich unversehens auf, um in dem verbliebenden Dämmerlicht, das kaum mehr durch die hohen Baumwipfel auf die Erde drang, zu ihrem kleinen Lager zurückzukehren. Erstaunt stellte er fest, dass Aaron, nur wenige Armlängen von ihm entfernt, ebenfalls Feuerholz gesammelt hatte. Der Stapel von verschieden langen Stöcken, welcher sich unter seinem linken Arm angehäuft hatte, war sogar noch größer als der, den er mit sich trug.

»Ich ... äh ... ich habe dich gar nicht bemerkt«, begann der Jüngling in Richtung der schattenhaften Silhouette zu stottern, die sich kaum vom Waldboden abzuheben schien. »Warst du die ganze Zeit über schon neben mir?«

Aaron nickte stumm und meinte nach einigen Augenblicken in entschuldigendem Tonfall: »Du musst Ramir verzeihen, er meint es nicht so. In ihm steckt ein guter Mensch, er mag es einfach nur nicht, sich vor Fremden zu öffnen.« Doch Darius hörte nur mit halbem Ohr hin. Er hatte keinerlei Interesse daran, sich über die verletzten Gefühle und die schlechte Laune ihres Reisegefährten zu unterhalten. Viel zu sehr steckte noch der Schock in seinen Knochen, dass es Aaron gelungen war, die ganze Zeit über neben ihm Holz zu sammeln, ohne dass er ihn wahrgenommen hatte.

»Das kann doch aber gar nicht sein, ich hätte dich hören müssen.« Die Stimme des Jünglings war ernsthaft erstaunt. »Ich bin eigentlich sehr aufmerksam«, fügte er etwas peinlich berührt hinzu. Über die Züge des Iatas schien daraufhin ein sanftes Lächeln zu huschen, auch wenn es nicht genau erkennbar war.

»Das mag ja durchaus sein, doch Aufmerksamkeit alleine wird dir bei dem, was dich bald erwartet, nicht viel helfen«, sagte Aaron freundlich und trat etwas näher, als er seine Stimme senkte und in weisem, beinahe väterlichen Tonfall weitersprach. »Die folgenden Jahre werden dich lehren, deinen Körper und deinen Geist auf eine vollkommen neue Ebene zu bringen. Du wirst Fähigkeiten erlangen, von denen du bisher noch nicht einmal zu träumen gewagt hast.«

»Werde ich mich dann auch so gut an jemanden anschleichen können wie du?«, fragte Darius ein wenig hilflos. Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie der Mann es fertiggebracht hatte, völlig lautlos die Stöcke vom Waldboden aufzuheben, ohne auch nur ein Grasbüschel zum Rascheln zu bringen.

Diesmal konnte er das Lächeln auf Aarons Gesicht trotz der Dunkelheit deutlich erkennen und es spiegelte sich auch in seinem Tonfall wider.

»Das, Darius, war noch gar nichts. Die Welt der Iatas und alles, was sie mit sich bringt, wird sich dir bald nach und nach eröffnen. Dann wirst du erkennen, was es heißt, ein wahrer Elitekrieger zu sein.« Einige Augenblicke lang stand der junge Dieb einfach nur unbewegt da und verspürte zum ersten Mal so etwas wie Vorfreude auf das, was sein neues Leben ihm bringen würde. Eine aufregte Unruhe erfüllte ihn und drängte ihn dazu, unbedingt mehr über das zu erfahren, was ihm alles noch bevorstand. Aaron schien dies auch seinen Gesichtszügen entnehmen zu können oder vielleicht gehörte ja sogar das Gedankenlesen zu den Fähigkeiten, die man als Iatas erlangen konnte. Denn kaum, dass Darius den Mund geöffnet hatte, schüttelte er leicht mit dem Kopf.

 

»Spar dir deine Worte, ich kann dir jetzt noch nichts zeigen. Denn nicht ich bin dein Meister, sondern ein anderer. Alles, was du wissen musst, wirst du von ihm erlernen. Also gedulde dich noch ein wenig.« Der Iatas hatte den Satz kaum beendet, da drehte er sich auch schon um und stiefelte in Richtung seines Schülers davon, dem es inzwischen gelungen war, eine kleine Flamme zu entzünden, die nun nach Nahrung verlangte. Darius wollte jedoch nicht so einfach locker lassen und folgte ihm.

»Du hast mir heute Morgen gesagt, dass wir fünf Tage unterwegs sein werden.«

»Wenn dein Pferd das Tempo halten kann«, bestätige Aaron mit einem Kopfnicken, ohne sich umzudrehen.

»Nun ja ...«, Darius begann sichtlich nervös zu stammeln, »dann könntest du mir doch bis dahin noch etwas beibringen. Die Sache ist die, ich bin zwar ein außerordentlich fähiger Kämpfer – zumindest dort, wo ich herkomme – aber ich habe eigentlich keine Eigenschaften, die einen Ritter auszeichnen.«

»Dann beginne mit Gehorsam und Zurückhaltung«, knurrte Ramir, der nun in ihrer Hörweite war, und sah missmutig von den Flammen auf, die er geschickt mit einem kleinen Zweig weiter anfachte.

»Sei nicht so streng mit ihm«, entgegnete Aaron sanft, während er das Holz neben das Feuer legte und sich zu seinem Schüler auf den Boden setzte. Vielsagend nickte er in Darius’ Richtung. »Wir waren alle einst so wie er. Neugierig und voller Tatendrang. Dir konnte es damals auch nicht schnell genug gehen, wenn ich mich recht erinnere.«

»Müssen wir das unbedingt vor ihm ausweiten?«, zischte Ramir und tat schnell so, als müsste er etwas in den Satteltaschen nachsehen, um den Blick abzuwenden zu können. Dennoch hob er hin und wieder den Kopf und sah seinen Meister strafend an.

»Du musst ihn entschuldigen«, wiederholte Aaron und begann nun ebenfalls in einem der Lederbeutel nach etwas zu suchen, blickte Darius dabei jedoch unverwandt in die Augen. »Allerdings hat er recht. Es wäre sehr respektlos, wenn ich deinem zukünftigen Meister vorgreifen und dich in den Fähigkeiten eines Iatas unterweisen würde, ohne das zuvor mit ihm abzusprechen.«

»Aber ... du ... könntest«, meinte Darius langsam und traute sich nicht so recht, auf den Punkt zu kommen. »Du könntest einem jungen Mann, so wie mir, im Prinzip alles beibringen, was er wissen muss.«

»Bisher kamen noch keine Klagen«, entgegnete Aaron und deutete leicht grinsend auf Ramir, der mit deutlich gespitzten Ohren, den Blick noch immer auf die Tasche in seinem Schoß gerichtet hatte. Der Iatas-Meister selbst griff nach einem Stück getrockneten Fleisches und sah Darius weiterhin mitleidig an, so als wüsste er schon um dessen nächste Frage und hoffte, sie nicht beantworten zu müssen.

Obwohl dem jungen Dieb der Blick seines Gegenübers und dessen ablehnende, wenn auch freundliche Haltung nicht entgangen waren, nahm er nun doch all seinen Mut zusammen. Während er die Hände nervös gefaltet hatte, begann er sich geräuschvoll zu räuspern.

»Könntest du mich nicht ausbilden?« Darius sah die Antwort schon in Aarons Augen, in denen sich flackernd das Licht des Feuers spiegelte, noch bevor dieser den Kopf schüttelte. Dennoch sah er sich genötigt noch schnell hinzuzufügen: »Ich werde auch gelehrig sein und alles tun, was du von mir verlangst.« Doch der Blick mit dem Aaron ihn bedachte, ließ keinen Platz für große Hoffnung. Trotzdem hielt er noch einige Lidschläge lang, in denen das verächtliche Schnauben von Ramir deutlich zu vernehmen war, inne, um nach einer passenden Antwort zu suchen.

»Ich fühle mich sehr geehrt, Darius, doch werde ich deinem Wunsch leider nicht entsprechen können. Selbst wenn ich es wollte.«

»Wieso nicht?«, schoss es sofort trotzig aus Darius heraus, so wie immer, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging.

»Weißt du eigentlich irgendetwas über die Iatas?«, meldete Ramir sich plötzlich wieder zu Wort. In seiner Stimme schwang zwar noch immer ein wenig Spott mit, doch die Frage schien ernst gemeint zu sein. Betreten schaute Darius zu Boden und schüttelte den Kopf.

»Nein. Ryu scheint schon einmal etwas von euch gehört zu haben, aber abgesehen von dem, was ihr mir gesagt habt, weiß ich nichts.«

»Nun, dann lass mich versuchen, dir das Wesentliche zu erklären«, sprach Aaron freundlich, während er sein Fleisch auf einen Stock spießte, um es am Feuer zu rösten.

»Die Iatas wurden vor über zweitausend Jahren gegründet. Damals war Epsor in viele kleine Reiche zerfallen. Seit dem Tod unseres letzten Königs, vor zwanzig Jahren, scheint dieser Zerfall, zumindest innerhalb der Menschenreiche, erneut einzusetzen. Aber damals war es noch wesentlich schlimmer.

Du kannst dir sicher vorstellen, dass je mehr Herrscher es gibt, auch immer häufiger Kriege ausbrechen, da sie alle, Menschen, Zwerge und Elfen, nach immer mehr Macht dürsten. Die Geschichte berichtet, dass die alten Rassen der Elfen und Zwerge seinerzeit ebenfalls gespalten waren, und dass sie bei Weitem noch nicht die Reife aufwiesen, die sie heute haben. Ob das stimmt, weiß heute keiner mehr so genau zu sagen, doch angeblich sollen auch die weisesten Völker damals dem Kriegshandwerk häufiger gefrönt haben. Das eigentlich Schlimme daran war, dass sich lange Zeit kein Herrscher über die anderen erheben konnte und die Gewalt darum allgegenwärtig blieb.«

»Ist das heute nicht immer noch genauso?«, warf Darius ein, dem plötzlich auffiel, dass Mokku erst wenige Wochen zuvor gewarnt hatte, dass der Krieg zweier benachbarter Fürstentümer auch auf ihr neutrales Dorf übergreifen könnte.«

»Das hat er doch gerade gesagt!«, zischte Ramir besserwisserisch. »Damals war’s aber schlimmer, weil sich im Gegensatz zu heute auch die Elfen, Zwerge und Alben dran beteiligt hatten.

»Was sind Alben?«, wollte Darius ehrlich interessiert wissen. Die Spitze seines Weggefährten ignorierte er geflissentlich.

»Das tut jetzt nichts zu Sache«, mischte sich Aaron wieder ein, der mit seiner Geschichte fortfahren wollte. »Vielleicht erkläre ich dir das ein anderes Mal. Jetzt stell dir jedoch bitte einfach vor, dass damals, vor gut zweitausend Jahren, im wahrsten Sinne des Wortes, jeder gegen jeden gekämpft hat. Aus diesem Grund wurde der Orden der Iatas gegründet. Sie sorgten dafür, dass der Einfluss, den alle Kriegsherren auf Epsor haben wollten, gerecht verteilt wurde. Dabei trachteten sie jedoch nicht danach, Geld und Macht aus selbstsüchtigen Gründen anzuhäufen. Deshalb wird bis heute jedem Iatas ein Schwur abverlangt, der ihn daran bindet, stets in Armut zu leben und nicht mehr zu besitzen als er unbedingt braucht. Wir widmen unser Leben nicht den Reichtümern und Gelüsten dieser Welt, sondern dem Streben nach der Perfektion des Kampfes.«

»Dann ist doch alles gut. Mehr will ich ja schließlich nicht von dir. Bring mir das Kämpfen bei«, startete Darius einen neuerlichen Versuch, in Aarons Gunst zu gelangen. Dennoch wusste er, dass seine Mühen vergeblich waren. »Liegt es vielleicht daran, dass ich zu lange – wie hast du es genannt? – den Reichtümern und Gelüsten dieser Welt gefrönt habe? Ist es, weil ich ein Dieb bin? Das kann ich ändern, du hast vorhin selbst gesagt, dass für mich von nun an ein neues Leben beginnt. Dazu werde ich meinen Teil beitragen, indem ich ab sofort ein ehrenvoller Mensch sein werde.«