Die Liebe ist das Ende

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Die Liebe ist das Ende
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Ute Dombrowski

Die Liebe ist das Ende

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Die Liebe ist

das Ende

Ute Dombrowski

1. Auflage 2018

Copyright © 2018 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski

Lektorat/Korrektorat Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Wo trödelt denn Sandy schon wieder herum?“

Der Blick des jungen Lehrers blieb an dem leeren Stuhl hängen, wo an den vorangegangenen Tagen Sandy bei ihren Freundinnen gesessen hatte. Die drei Mädchen zuckten mit den Schultern.

„Jenna, geh und schau, wo sie bleibt!“

Mit diesen Worten wendete sich Jakob Wildmann wieder ab und ging zu seiner Kollegin in den Speise­saal, wo die Köchin des Jugendheims liebevoll ein Frühstücksbüffet gezaubert hatte. Es gab frische Brötchen, Eier, Marmelade, Käse, eine Auswahl an Aufschnitt und Müsli. Daneben standen Krüge mit Milch, Saft und mehrere Kannen Tee. Das Essen war in den letzten Tagen gleichbleibend gut gewesen. Somit hatten nicht mal die Schülerinnen und Schüler, die hier ihre Abschlussfahrt unternahmen, etwa zu meckern.

Im Vorfeld der Reise war das ganz anders gelaufen. Als Jakob seiner zehnten Klasse vorgeschlagen hatte, in das kleine Jugendheim im Wald an den Bergsee zu fahren, hatten alle gemurrt und einige den Aufstand geprobt.

Sandy hatte gerufen: „Was? Ist das Ihr Ernst? Wir fahren doch nicht als Abschlussfahrt in so eine öde Gegend!“

Ihre drei Freundinnen hatten applaudiert und sich herausfordernd umgesehen.

Sandy fuhr fort: „Alter, die Parallelklasse fährt nach Berlin. Da ist wenigstens etwas los. Scheiße, sowas können Sie doch nicht mit uns machen!“

Jakob war ruhig geblieben und hatte gelächelt.

„Es geht doch nicht darum, in irgendeine Stadt zu fahren, sondern um das Zusammensein. In dem Jugenheim sind wir allein, die kochen dort gut und es gibt Zweibettzimmer mit eigenem Bad. Dazu werdet ihr einen kleinen Golfplatz haben, ein Kino, einen eigenen Strand und einen Saal für eine Party. Wir können reiten, Fahrrad fahren und zusammen feiern.“

Die vier Mädchen stöhnten, aber nun meldete sich Tim zu Wort: „Ich finde das cool. Nach Berlin kannst du mit deinen Eltern fahren. Am Bergsee können wir ordentlich Party machen.“

Viele nickten jetzt, nur Sandy versuchte weiter, die Stimmung zu kippen.

„Es gibt noch ein gutes Argument“, erklärte der Lehrer. „Das Ganze kostet nur halb so viel wie die Fahrt nach Berlin. Wir fahren am Sonntag mit dem Bus hin und er holt uns am Freitag wieder ab. Also, wer kann damit leben?“

Fünfzehn Finger gingen nach oben, die der vier Mädchen blieben unten.

„Tja, dann seid ihr wohl mal überstimmt“, sagte Tom lachend, der neben seinem Zwillingsbruder Tim saß.

„Halt die Fresse“, murmelte Sandy und zuckte mit den Schultern. „Müssen wir da mitfahren?“

„Ja, müssen wir!“, rief jetzt Isa. „Bist du bekloppt oder was? Ich lasse mir doch meine Abschlussfahrt nicht entgehen. Du kannst gerne zuhause bleiben, also sprich hier bitte nur für dich.“

„Ist ja schon gut“, knurrte Sandy ihre Freundin an.

Jenna und Conny hatten geschwiegen. Sie wollten sich die Chance, für eine Woche von den Eltern wegzukommen, ebenfalls nicht entgehen lassen.

Heute nun war der vorletzte Tag ihrer Abschlussfahrt und die Mädchen hatten sich angegrinst, als sie gestern Abend nach einem Tag am Strand ins Bett gingen. Sie hatten einen Plan geschmiedet, der für ein wenig Aufregung sorgen würde. In diesem Moment kam Jenna zurück in den Frühstücksraum.

Sie steuerte auf den Tisch der beiden Lehrer zu und sagte: „Ich habe Sandy überall gesucht und sie ist weg.“

„Sie ist was?“, fragte Stefanie Küttlings, die weibliche Begleitung von Jakob Wildmann. „Hier geht doch niemand verloren. Also wirklich, Jenna, du bist mit ihr in einem Zimmer, was ist los? War sie heute Morgen nicht im Bett neben dir?“

„Ich weiß nicht. Ich dachte, sie ist schon draußen, als ich aufgestanden bin. Dann musste ich mich beeilen, sonst hätten Sie mich wieder angekackt, weil ich zu spät zum Frühstück bin.“

„Wir kacken niemanden an, wir ermahnen ihn“, erklärte Jakob Wildmann streng. „Wir frühstücken jetzt zu Ende. Wer weiß, wo sie herumsitzt und schmollt. Vielleicht hat ihr schon wieder etwas nicht gepasst.“

Jenna drehte sich um, ging zurück an den Tisch der drei Mädchen und zwinkerte ihnen zu.

„Und?“, fragte Conny.

„Schnauze, Mensch. Die kriegen sonst noch etwas mit“, zischte das rothaarige Mädchen leise und schob den letzten Bissen des Apfels in ihren Mund.

Isa setzte sich bequem hin und rührte im Joghurt.

„Alter, wenn rauskommt, dass wir Bescheid wussten, dann gibt es echt Ärger.“

„Ach was“, flüsterte Jenna weiter. „Conny, hast du schon eine Nachricht von Sandy, wo sie jetzt ist?“

Die Angesprochene schüttelte kauend den Kopf und griff nach dem dritten Brötchen.

Jenna sah angeekelt hinüber und sagte: „Du wirst fett wie ein Schwein, so wie du frisst. Selbst die Jungs essen nur zwei Brötchen.“

„Ich esse halt gerne und wenn du noch einmal fett sagst, haue ich dir eine rein. Ich bin nicht fett, denn ich verbrauche die Energie wieder. Wenn ich wie du nur meine Nägel feile, würde mir auch ein Apfel zum Frühstück reichen.“

„Jetzt ist aber mal Schluss!“, rief Isa. „Was soll denn das? Wir haben einen Plan und den ziehen wir jetzt durch ohne uns zu streiten. Also, los, wir räumen ab. Conny, dein Brötchen kannst du mitnehmen.“

Zu Jakob gewandt rief sie: „Herr Wildmann, wir gucken nochmal zusammen, wo Sandy ist.“

Der Lehrer nickte. Er sah den Mädchen hinterher und dann seine Kollegin Stefanie an, die Biologie und Mathematik unterrichtete. Er selbst war Lehrer für Deutsch und Französisch.

 

„Denkst du, die führen etwas im Schilde?“

„Die?“, fragte Stefanie. „Die führen immer was im Schilde. Ich will gar nicht wissen, wo diese Sandy ist. So eine Zicke ist mir noch nicht untergekommen. Wie gut, dass ich die vier nur in Bio habe.“

Stefanie war glücklich gewesen, mit dem netten jungen Lehrer auf Klassenfahrt gehen zu dürfen, denn schon lange war sie in ihn verliebt. Aber Jakob war einer, der nicht so leicht zu erobern war. Er hatte ihr am ersten Abend, als sie mit einer Flasche Sekt und zwei Gläsern an seine Zimmertür geklopft hatte, deutlich zu Verstehen gegeben, dass er nicht die Absicht hatte, seine Freizeit mit ihr zu verbringen.

Jetzt legte Stefanie eine Hand auf seinen Arm.

„Die versteckt sich sicher irgendwo und taucht nachher wieder auf.“

Jakob hatte seinen Arm weggezogen und schaute sich um. Der letzte Schüler verließ gerade den Raum.

„Stefanie, unterlasse es bitte, mich ständig anzufassen. Ich möchte das nicht. Außerdem sind wir beide im Dienst.“

„Und wenn wir nicht im Dienst wären?“

„Dann sollst du mich auch nicht anfassen. Versteh mich nicht falsch, du bist meine Kollegin, sonst nichts. Ich habe eine Freundin. Punkt. Und ich habe keine Lust, das immer wieder sagen zu müssen.“

„Was denkst du dir denn? Ich will nichts von dir, nur nett sein. Ich kann viel bessere Männer haben. Auf einen Lehrer habe ich nun wirklich keine Lust.“

Damit stand sie auf und räumte ihr Geschirr ab. Sie verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.

„Oh Mann“, stöhnte Jakob leise. „Erst Sandy und jetzt Stefanie. Was wollen die denn alle von mir?“

Jakob war groß und schlank, er machte Sport und war auch sonst ein attraktiver Mann. Seine dunklen Haare trug er kurz geschnitten, die dunkelblauen Augen wurden von langen Wimpern umrandet und ein sinnlicher Mund ergänzte seine perfekte Erscheinung. Dabei fand er sich vollkommen normal. Er hatte seine Freundin Manja einmal gefragt, was sie an ihm mochte.

„Du bist ein sehr schöner Mann, hast gute Manieren und etwas im Kopf. Du bist charmant und die Frauen liegen dir zu Füßen. Ich übrigens auch, aber wage es nicht, eine andere als mich anzusehen.“

„Nein, warum auch“, hatte er geantwortet.

Jakob erhob sich und nachdem er abgeräumt hatte, ging er hinaus vor das Jugendheim, wo die anderen Schüler auf ihn warteten.

„Herr Wildmann, die Sandy ist immer noch weg.“

2

Delia hatte das Büro betreten und sofort das Fenster aufgerissen. Die Hitze hatte sich in alle Ecken eingenistet und nur am Morgen konnte man die Luft von draußen noch ins Zimmer lassen. Sie trat an den kleinen Kühlschrank und schaute hinein. Unentschlossen nahm sie einen Joghurt und eine Karotte in die Hand und sah die Lebensmittel abwechselnd an.

„Ach was soll‘s, esse ich eben beides.“

Mit der Hüfte drückte sie die Tür zu und ging zu ihrem Schreibtisch, der sehr unaufgeräumt aussah, ganz im Gegenteil zum Arbeitsplatz von Roberto. Auf dessen Schreibtisch hatte alles seinen Platz und nirgends gab es „überflüssiges Zeug“, wie er zum Beispiel die Fotos und die Blumen nannte, die Delia aufgestellt hatte.

Sie legte die Füße auf den Tisch und freute sich über ihre braungebrannten Beine, die unter der kurzen Jeans hervorschauten. An den Füßen trug sie weiße Turnschuhe und als Oberteil ein weißes Shirt. Alles in allem war sie eine attraktive Frau, nach der die Männer sich umdrehten, nur einer nicht: Kollege Roberto. Weil es so warm war, war sie froh über ihren neuen lässigen Kurzhaarschnitt.

„Eine Frau ist nur eine Frau, wenn sie lange Haare hat“, hatte Roberto erklärt, als sie sich vor einem Monat die langen blonden Haare abschneiden ließ.

Jetzt wurde die Tür geöffnet und ein gutaussehender, gepflegter Mann betrat das Büro. Er trug ein weißes Hemd und eine Jeans, dazu leichte Stoffschuhe. Seine schwarzen Haare, die bis zu den Schulterblättern reichten, hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, und er duftete nach einem teuren Parfüm. Seine fast schwarzen Augen blieben an den langen Beinen seiner Kollegin hängen, aber nur, um zu meckern.

„Füße auf dem Tisch? Mann, Delia, du siehst immer mehr wie ein Kerl aus.“

Die Kommissarin kannte die Launen ihres Kollegen und machte keine Anstalten, die Füße vom Tisch zu nehmen. Sie biss herzhaft in die Karotte und kaute.

„Guten Morgen, mein charmanter Kollege“, sagte sie mit vollem Mund.

Roberto, ein in Spanien geborener und in Berlin aufgewachsener Mann, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Schreibtisch, um den Computer hochzufahren. Delia Böschinger arbeitete nun schon acht Jahre mit Roberto Caranio zusammen und sie verstanden sich eigentlich gut, aber es gab keinerlei private Kontakte. Delia war neugierig, wie er lebte, aber er tat mit allem sehr geheimnisvoll. Sie wusste nur vom Buschfunk, dass er alleine lebte, seit ihn seine Freundin für einen älteren Mann mit viel Geld verlassen hatte. Aber das war vielleicht nur Fantasie. Im Stillen gefiel er ihr, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einer von den Guten war.

Als das Telefon klingelte, setzte sich Delia auf, nahm ab und meldete sich. Dann lauschte sie.

„Ah ja“, sagte sie am Ende, „wir kommen sofort.“

Roberto sah sie fragend an.

Delia erklärte knapp: „Eine Leiche im Wald beim Bergsee.“

Roberto nahm die Wasserflasche, drückte sich die Sonnenbrille, die er auf den Kopf geschoben hatte, auf die Nase und folgte der Kommissarin. Sein Blick blieb an ihren schlanken Beinen und ihren schwingenden Hüften hängen, wobei er tief durchatmen musste. Nein, sie ist nur meine Kollegin, dachte er und zwang sich, woanders hinzuschauen.

Er setzte sich ans Steuer und Delia berichtete während der Fahrt, was vorgefallen war.

„Im Wald in der Nähe vom See hat ein Spaziergänger eine weibliche Leiche entdeckt. Er hat die Polizei gerufen und den Rettungsdienst.“

„Warum das?“

„Weil er erst dachte, sie lebt noch, aber er hatte Angst sie anzufassen und nachzusehen.“

„Spurensicherung?“

„Ist unterwegs.“

Schweigend fuhren sie weiter. Manchmal wünschte sich Delia, dass sie einen Kollegen hätte, der gesprächiger war, aber es hatte auch Vorteile: Sie konnte in Ruhe nachdenken.

Auf dem Parkplatz für Wanderer stand schon ein Streifenwagen und ein Kollege sperrte den Bereich ab, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.

„Wo ist sie?“, fragte Delia und der junge Polizist in Uniform zeigte in den Wald hinein.

Roberto schwieg noch immer und so liefen sie nebeneinander her, bis sie eine Kollegin in Uniform sahen, die sich mit einem Mann mit Hund unterhielt. Er schüttelte immer wieder den Kopf. Der kleine weiße Mischling lag ruhig neben den beiden auf dem trockenen Gras.

„Guten Morgen, Sina“, sagte Delia und begrüßte die Kollegin mit Handschlag.

Roberto ging wortlos vorbei, er hatte nur genickt. Die beiden Frauen verdrehten die Augen.

„Ich bin Kommissarin Delia Böschinger, der schweigsame Kollege ist Kommissar Roberto Caranio. Sie sind?“

Der ältere Mann mit einem Strohhut auf dem Kopf sagte freundlich: „Ich bin Walter Wachtnickel, das ist Zeus. Er hat gebellt und mich hier hineingezogen. Wir laufen immer am Waldrand entlang bis zum See, wo dieses Jugenddingsheim ist, aber heute ist Zeus wie irre gewesen. Und da lag sie dann.“

Delia nickte, beauftragte Sina, die Personalien des Mannes aufzunehmen und wollte eben Roberto folgen, da fiel ihr etwas ein.

„War noch jemand hier? Haben Sie andere Menschen gesehen?“

Der alte Mann schüttelte nur den Kopf und zuckte mit den Schultern. Delia lief jetzt zu ihrem Kollegen, der bei der Leiche kniete.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr. „Das ist ja noch ein Kind. Oh mein Gott, wer tut sowas?“

Roberto murmelte: „Sie wurde erdrosselt. Guck mal die Würgemale am Hals. Das ist ein Mist, armes Mädchen.“

Delia horcht auf. So einfühlsam war ihr Kollege selten. Meistens spielte er den harten Kerl, aber Delia ahnte, dass er ganz tief in seinem Inneren einen weichen Kern hatte. Seine Reaktion auf die Tote bewies das deutlich. Urplötzlich war sie milde gestimmt und legte eine Hand auf Robertos Arm. Der schüttelte sie abrupt ab und sah seine Kollegin böse an.

„Wer weiß, was die hier gewollt hat“, sagte er jetzt mit harter Stimme. „Klamotten wie eine Erwachsene.“

Enttäuscht stand Delia auf und dachte: Du Arsch. Aber trotzdem schaute sie das Mädchen genauer an. Sie trug hautenge Jeans, die knapp über dem Knöchel endeten, dazu ein rotes Top, das hochgerutscht war und den Blick auf die Spitze eines roten Büstenhalters freigab. Ihre langen braunen Haare lagen fächerartig neben ihrem Kopf und waren verschmutzt. Sie hatte weiße Turnschuhe an den Füßen, wie sie auch die Kommissarin gerne mochte. Ihre Augen waren stark geschminkt, der Lippenstift verschmiert.

„Sie sieht wirklich nicht sehr kindlich aus. Trotzdem ist das kein Grund, jemanden zu töten.“

In diesem Moment traf die Spurensicherung ein und übernahm die Arbeit. Nach fünf Minuten reichte ein junger Kollege Delia einen Personalausweis.

„Sandy Hickerring, sechzehn Jahre alt.“

Dann las sie die Adresse vor.

Roberto sagte: „Das ist gar nicht so weit weg, aber sie war vielleicht in dem Jugendheim. Also, lass uns mal fragen, ob sie jemanden vermissen. Wie lange ist sie schon tot?“

Der junge Mann erklärte: „Acht bis zehn Stunden plus minus. Nach der Obduktion mehr.“

„Warte noch eine Weile mit dem Transport, wir müssen erst klären, wer sie vermisst. Ob sie mit jemandem verabredet war?“

Auf Delias Frage reagierte niemand, so zuckte sie nur mit den Schultern. Die beiden Kommissare liefen zurück zum Auto und machten sich auf den Weg um den See herum zum Jugendheim.

3

Vor dem Haus stand eine Gruppe aufgeregter Schülerinnen und Schüler, daneben diskutierte ein Mann mit einer Frau.

„Wir müssen die Eltern informieren!“, rief die Frau in dem Moment, als Delia aus dem Auto sprang.

Sie ging zu den beiden und stellte sich und ihren Kollegen vor.

„Polizei?“, fragte der Mann erschrocken. „Was tun Sie hier?“

„Die Fragen stellen wir“, sagte Roberto streng. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Jakob Wildmann, der Klassenlehrer dieser Truppe, und das ist meine Kollegin Stefanie Küttlings.“

„Vermissen Sie eine Schülerin?“

Der Lehrer wand sich wie ein Aal, dann nickte er.

„Sandy ist heute früh nicht zum Frühstück erschienen und wir haben sie bis jetzt gesucht. Leider ohne Erfolg. Ich wollte gerade die Eltern informieren.“

„Das können Sie lassen“, mischte sich jetzt die rothaarige Jenna, die annahm, dass der Lehrer die Polizei gerufen hatte, ein. „Wir wollten Sie ärgern, also ist Sandy abgehauen. Sie kommt abends wieder.“

„Das glaube ich kaum“, erklärte Roberto nun mit eisiger Miene.

„Warum?“, fragte Jenna und biss sich auf die Unterlippe.

Jetzt schob Delia den Lehrer und Roberto zur Seite und flüsterte: „Wir haben eine schreckliche Nachricht. Unweit von hier wurde die Leiche eines Mädchens gefunden. Können Sie uns bitte begleiten? Vielleicht ist es Ihre Schülerin.“

„Oh mein Gott, bitte nicht“, sagte Jakob ebenso leise und winkte Stefanie zu sich.

Die kam und sah in das sorgenvolle Gesicht. Die Kommissarin bat sie, sich um die restlichen Jugendlichen zu kümmern und schilderte knapp, was geschehen war.

„Lange braune Haare, schlank, hübsch, etwa sechzehn Jahre.“

Stefanie riss die Augen auf und hielt die Luft an. Tränen traten in ihre Augenwinkel.

„Frau Küttlings, bitte behalten Sie jetzt die Nerven und lassen Sie sich nichts anmerken. Wir haben Herrn Wildmann gebeten, die Tote zu identifizieren. Wenn es Sandy ist, wissen wir es in wenigen Minuten. Bis dahin beschäftigen Sie die Kinder!“

Stefanie nickte und sah den drei Leuten hinterher, die ins Auto stiegen.

Dann wandte sie sich an Jenna: „Und wir unterhalten uns jetzt mal, meine Dame.“

Die drei Mädchen standen zusammen unter einer großen Linde. Die anderen waren ins Haus gegangen.

Roberto, Delia und Jakob waren am Tatort angekommen und liefen in den kühlen Wald bis zu der Stelle, wo man ein Tuch über der Leiche ausgebreitet hatte.

 

Delia sagte einfühlsam: „Sie müssen jetzt stark sein. Das Mädchen wurde erdrosselt. Sagen Sie es uns gleich, wenn es sich um ihre verschwundene Schülerin handelt.“

Sie traten näher und der Kollege von der Gerichtsmedizin, der gekommen war, um die Tote abzutransportieren, schob das Tuch bis zur Brust herunter. Jakob erschrak und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann nickte er.

„Es tut mir leid, Herr Wildmann. Bitte geben Sie mir die Telefonnummer der Eltern. Wir bringen Sie zurück ins Jugendheim. Dort müssen wir alle Schüler und die Kollegin befragen. Vielleicht kann Ihre Kollegin die anderen Eltern benachrichtigen. Kommen Sie.“

Roberto hatte nichts gesagt und überließ auch jetzt Delia das Reden. Dass dieses Mädchen so jung sterben musste, machte ihn unendlich traurig. Er konnte sich noch an die schlimme Zeit erinnern, als seine große Schwester vergewaltigt und getötet worden war. Er war damals sechs Jahre alt gewesen und sie dreizehn. Seine Eltern waren an ihrer Trauer zerbrochen, aber er hatte erst viel später das Ausmaß begriffen. Seitdem waren über dreißig Jahre vergangen, aber das tote Mädchen hatte alte Wunden aufgerissen. Niemand wusste davon, auch Delia nicht. Er hatte nicht vor, jemanden in seine Seele schauen zu lassen, darum gab er sich nach außen hart und stark.

Stefanie kam ihnen entgegen. Die anderen saßen vor dem Haus auf den Bänken oder dem Boden und schwiegen. Jakobs Gesicht sprach Bände.

„Frau Küttlings, Ihr Kollege hat die Tote eindeutig als Sandy Hickerring identifiziert. Sie hatte außerdem ihren Ausweis mit dabei. Sind das alle Schüler?“

Entsetzt nickte sie und begann zu weinen. Die Schüler blickten sorgenvoll auf die vier Erwachsenen, die jetzt zu ihnen traten.

Delia setzte sich zu ihnen und erklärte leise: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mitschülerin und Freundin Sandy heute Nacht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Sie ist tot, es tut mir sehr leid.“

Nun brachen alle Mädchen in Tränen aus und nahmen sich gegenseitig in den Arm. Die Jungs sahen auf ihre Schuhe oder malten im Sand, um nicht zu weinen. In diesem Alter musste man Härte zeigen. Heulen durften nur die Mädchen.

„Wir werden jetzt jeden einzeln befragen. Frau Küttlings, bitte rufen Sie alle Eltern an und bitten Sie sie her. Es ist besser, wenn die Kinder nach Hause fahren. Da es ja nicht so weit weg ist, werden wir auch in der Stadt die Ermittlungen leiten.“

Die Lehrerin nickte und ging ins Haus, um zu telefonieren, als ein Mann in Jeans und weißem Hemd auf die Gruppe zukam. Er stellte sich als der Leiter des Jugendheimes vor. Bertolt Krahm war einundsechzig Jahre alt und machte einen auf jung, war Delia aber von Anfang an unsympathisch.

„Was will denn die Polizei hier? Hat wieder mal einer geklaut? Die Stadtkinder sind heutzutage nicht mehr erzogen und sie haben keinerlei Respekt. Ich habe es geahnt.“

Roberto wollte antworten, aber Delia kam ihm zuvor: „Ich kann Ihnen versichern, dass nichts gestohlen wurde. Wir haben einen Mord zu untersuchen.“

„Das ist ja noch schlimmer!“, rief der Leiter des Hauses. „Jetzt werden die Leute über unser Haus herziehen und alles schlechtmachen, weil sie denken, dass man hier ermordet wird. Das haben die ja super hingekriegt.“

„Wie wäre es denn mal mit ein bisschen Mitgefühl und Anteilnahme?“, fragte Roberto jetzt und sah aus, als wolle er den Mann direkt anspringen.

Seine dunklen Augen glühten, als er Delia zunickte und den Lehrer beiseite nahm. Er hatte das Gefühl wegzumüssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

„So ein Wichser“, murmelte er und Jakob nickte. „Wie kann solch ein Typ dieses Haus leiten? Der hasst doch Kinder und Jugendliche.“

„Das habe ich eben auch gedacht“, sagte der Lehrer und setzte sich etwas abseits auf eine Bank im Schatten.

Roberto blieb stehen und stellte einen Fuß auf die Sitzfläche.

„Hat es denn irgendwelche Probleme dieser Art gegeben? Wurde etwas beschädigt oder gestohlen?“

„Nein, bis jetzt war alles super ausgeglichen und entspannt.“

„Warum sind Sie nicht weiter verreist? Die Kids heute wollen doch ihre Abschlussfahrt nicht in die nächste Umgebung machen?“

„Sie waren fast alle dafür, außer Sandy und die drei Mädchen aus der Clique, aber am Ende haben alle zugestimmt, weil es günstig und gut ist. Wir haben hier bisher viel Spaß gehabt.“

„Was ist denn dran an dem, was die Rothaarige vorhin gesagt hat?“

„Dass Sandy abgehauen ist, um mir eins auszuwischen? Sie sagt wohl die Wahrheit. Es war bestimmt so geplant, dass sie heute Abend wieder auftaucht.“

„Warum wollte sie Ihnen eins auswischen?“

„Sie war schon immer rebellisch. Das war die Retourkutsche dafür, dass wir nicht nach Berlin oder Rom gefahren sind.“

Roberto spürte, dass der Lehrer etwas verschwieg, aber er wollte nicht weiter bohren, denn er ahnte, dass der Mann ihm sowieso nicht die Wahrheit sagen würde. Jetzt nahm er sein Handy und ließ Jakob die Nummer der Eltern eintippen. Eigentlich war es üblich, die Angehörigen zuhause zu informieren, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass es gut wäre, die Eltern hier zu haben.

„Hallo, ich bin Kommissar Roberto Caranio“, sagte er, nachdem sich Sandys Mutter gemeldet hatte. „Es gab einen Zwischenfall im Jugendheim. Können Sie bitte herkommen?“

„Um was geht es denn?“, fragte Saneela Hickerring. „Ich bin im Geschäft und habe bis acht Uhr zu tun. Mein Mann arbeitet auch noch.“

„Das möchte ich Ihnen nicht am Telefon sagen. Bitte schließen Sie den Laden, holen Sie Ihren Mann ab und kommen Sie her. Auf Wiederhören.“

Er drückte das Telefon einfach aus und steckte es in die Tasche. Dann wandte er sich wieder Jakob Wildmann zu.

„Werden sie kommen? Was hat Sandy für Eltern?“

„Die Mutter ist Boutique-Besitzerin, der Vater führt ein Hotel. Die beiden arbeiten ausschließlich, warum sie ein Kind haben, wissen sie sicher nicht so genau. Sandy ist viel sich selbst überlassen und darum macht sie auch, was sie will. Geht es mal nicht nach ihrem Willen, flippt sie aus. Sie hat alles zuhause, nur keine Liebe.“

Roberto dachte: Und diese Liebe bekommt sie dann von dir?

Er fragte aber nur: „Hatte sie einen Freund?“

„Keine Ahnung. Dazu können ihre Freundinnen sicher mehr sagen.“

Der Lehrer stand auf und Roberto bat ihn, Jenna zu ihm zu schicken. Das schlanke Mädchen setzte ihr Pokerface auf und schlenderte betont lässig herüber. Roberto sah ihr mit unergründlichem Blick entgegen.

„Sie sind Jenna Wartenfels?“

Die Rothaarige nickte. Dann setzte sie sich und der Kommissar nahm neben ihr Platz.

„Bitte erzählen Sie mir, was gestern Abend los war.“

„Sie können ruhig du sagen, sonst fühle ich mich so alt. Also, ich fange mal ganz vorne an. Wir hatten schon vor der Fahrt geplant, dem Wildmann eine Lehre zu erteilen. Und da hatte Sandy die Idee, abzuhauen, damit er sich Sorgen macht und nach ihr sucht. Heute Abend wollte sie wieder erscheinen und so tun, als wenn sie entführt worden war. Das war der Plan, aber anscheinend ist etwas schiefgegangen.“

„Sie ist ihrem Mörder in die Arme gelaufen und du musst nicht so cool tun, deine Freundin ist tot. Sag mir lieber mal, warum sie den Lehrer bestrafen wollte. Schlechte Noten?“

Jenna schwieg und überlegte. Sollte sie die Wahrheit sagen? Sie entschied sich für die Lüge.

„Der Typ hat Sandy ständig angemacht und weil er nicht bei ihr landen konnte, hat er ihr schlechte Noten gegeben.“

Nun war es heraus und Jenna musste den anderen nur noch mitteilen, dass sie dasselbe aussagen müssten. Dann würde Sandy ihre Rache bekommen, denn die Sache, die die Freundin den Mädchen berichtet hatte, war genau das Gegenteil: Sie hatte monatelang um die Zuneigung des Lehrers geworben, aber der hatte sie stets zurückgewiesen. Allerdings hatte er niemanden eingeweiht, denn er wollte Sandy nicht in Schwierigkeiten bringen. Er hatte sie lediglich gebeten, sich von ihm fernzuhalten.

„Nicht mit mir!“, hatte Sandy empört gerufen, nachdem sie der Clique davon erzählt hatte. „Dieser arrogante Affe soll mir das büßen. Ich liebe jetzt einen anderen, aber der Wildmann hat eine Lektion verdient.“

Als Sandy in der Nacht vor ihrem Verschwinden die Mädchen zusammenrief, hatten sie sich ins Zimmer des Lehrers geschlichen, denn sie hatten ihm Schlafmittel in den Tee gemischt. Die Pillen hatte Isa ihrer Mutter gestohlen. Alles war perfekt gelaufen, als Jenna Sandy in den Armen von Jakob Wildmann fotografiert hatte. Conny hatte das Bild dann vom Handy des Lehrers seiner Freundin Manja geschickt.

Jenna war abgebrüht genug, dem Polizisten ins Gesicht zu lügen und hoffte, dass auch die anderen standhielten. Dieser Arsch ist schuld, dass sie tot ist, dachte sie und nun kamen ihr die Tränen.

„Er ist ihr bestimmt nachgegangen“, schluchzte sie und damit kam etwas ins Rollen, was völlig außer Kontrolle geraten sollte.

Weinend schlurfte sie zu den anderen Mädchen zurück und berichtete in Kurzfassung, was sie ausgesagt hatte, denn das Telefon des Kommissars hatte geklingelt und er war für diesen Moment abgelenkt.

„Denkst du, das kommt nicht raus?“, flüsterte Isa.

„Ach Quatsch, ihr müsst nur alle dasselbe sagen, dann kriegt der Typ das, was er verdient hat.“

Die Mädchen nickten.

„Ja?“, hatte Roberto in den Hörer gerufen.

„Gerichtsmedizin. Sie hatte Sex, aber es gibt keine Anzeichen, dass es gegen ihren Willen geschah. Leider ohne verwertbare Spuren, denn sie haben ein Kondom benutzt.“

„Scheiße, aber danke.“