Steinzeit-Astronauten

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VOM SUMPF ZUM HEILIGTUM

Bevor es in der Alpenwelt zu ersten künstlerischen Impulsen kommen konnte, hatten sich gigantische Eismassen über Jahrmillionen durch das Val Camonica geschoben. Mit dem Einsetzen milderer Klimaverhältnisse und dem damit verbundenen Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher zurück und hinterließen entlang der Berghänge riesige Steinmassive. Mutter Natur hatte die Felsen aus dunkelgrauem Permasandstein in flache, glatt polierte Tafeln verwandelt!


Val Camonica war das prähistorische Kreativzentrum der Alpenwelt. Was war die Triebfeder?

Wirklich einladend, um dauerhaft sesshaft zu werden, kann es in jenen Zeiten dort nicht gewesen sein. Das Eis war zwar weg, aber dafür prägten Schlamm und Morast noch Jahrtausende das Gesicht des Tales. Trotzdem siedelten sich prähistorische Menschen in der unwirtlichen Sumpflandschaft an, errichteten eigentümliche Pfahlbauten, die teilweise aus mehreren Stockwerken konstruiert waren, und begannen, Jagdtiere, symbolische Gebilde und geheimnisvolle Gestalten auf Felsplatten zu meißeln. Praktische Experimente zeigen: Die Gravierungen entstanden durch direkte Schläge mit Steinwerkzeugen, etwa Feuerstein, später durch Metallmeißel, seltener durch das Ritzen mit einem spitzen Instrument.

Wieso aber umspannt die kreative Tatkraft der Talbewohner einen ausgedehnten Zeitraum von Abertausenden von Jahren? Stile, Motive und Technik der Kunstfertigkeit hatten sich zwar laufend verändert, aber die Beständigkeit, mit der die Tradition der Felsbildkunst an einem Ort von Generation zu Generation weiter gepflegt wurde, ist außergewöhnlich. Was war die treibende Kraft für dieses beharrliche Kritzeln und Klopfen? Wozu diente die Felsbild-Galerie?

Es gibt keine einzige Gravur, die den Vorgang der Felsbildgestaltung darstellt. „Wir wissen nichts über die Einzelheiten der Zeremonien, die Momente, die aktiven und passiven Teilnehmer, die Autoren“, räumt der Archäologe Alberto Galbiati freimütig ein. Der Gründer des Nationalparks Archeocamuni in Capo di Ponte vermutet, dass das Tal einst ein „heiliger Kultplatz“ war, bei dem die mysteriöse Bildsprache nur von „Eingeweihten“ zu „bestimmten rituellen Festen“ ausgeübt wurde. Die wahre Bedeutung solcher Riten liegt aber genauso verborgen im Dunkel der Geschichte wie der anfängliche Grund und Zweck des rastlosen Arbeitseifers. „Heiliger Platz“ schön und gut: Aber wer oder was machte Val Camonica zum vorzeitlichen Heiligtum?

Denkt man an die größten christlichen Wallfahrtsorte wie Guadalupe, Lourdes oder Fatima, dann weiß man, warum seit vielen Generationen jährlich Abermillionen gläubige Menschen immer wieder zu diesen Stätten pilgern. Es sind Erscheinungsorte des Überirdischen! Den historischen Überlieferungen zufolge soll an diesen heiligen Plätzen die Gottesmutter Maria höchstpersönlich erschienen sein und Wunder bewirkt haben. Welch himmlisches Mirakel könnte also in der Steinzeit das fortlaufende Bedürfnis ausgelöst haben, eine gigantische Ansammlung archaischer Zauberzeichen auf Felsbildern einzukratzen?


Im ganzen Val Camonica zahlreich verewigt: Strichmännchen in Stein

Wer waren die Camuni?
EINE CHRONOLOGIE DER MEISTERWERKE


Die Entwicklung der Felskunst im Camonica-Tal erstreckt sich über mehr als zehn Jahrtausende. Die offizielle Zeitfolge nennt mehrere Schaffensperioden:

Altsteinzeit (um 8000 v. Chr. und eiszeitliche Epochen davor) Hier liegen die Ursprünge der Val-Camonica-Kunst. Aus dieser Periode sind einige hundert Darstellungen bekannt. Sie zeigen hauptsächlich naturgetreue Wiedergaben von Tieren, aber auch geometrische Einkerbungen wie Schlangenlinien und Kreise, die als Teil „magischer Riten“ interpretiert werden. Felsbildforscher gehen davon aus, dass das Tal zu dieser frühen Zeit bereits als „Kultort“ diente, aber noch nicht besiedelt war.

Mittelsteinzeit (um 8000 v. Chr. bis 5000 v. Chr.)

Gruppen nomadischer Jäger ziehen ins Tal und werden sesshaft. Die naturalistische Tradition der Felszeichnungen wird mit vereinfachten Formen und Symbolen fortgeführt.


Von der Altsteinzeit bis zur römischen Eroberung: unermüdliches Klopfen, Kratzen und Gestalten

Jungsteinzeit (um 5000 v. Chr. bis 2800 v. Chr.)

Technologische Neuerungen verändern das Leben der Bevölkerung. Es erfolgt der Übergang vom Jäger und Sammler zum Bauern und der Beginn der Landwirtschaft. Die Felskunst wird abstrakter. Ins Zentrum der Gestaltung rücken „betende“ Menschen mit erhobenen Armen, „anthropomorphe“ Mischwesen sowie „Götter-“ und „Sonnensymbole“. Viele Bilder zeigen Verwandtschaft zu den Megalithkulturen, etwa durch typische „Zickzack-Muster“, „konzentrische Kreise“ oder „Spiralen“.

Kupfersteinzeit (um 2800 v. Chr. bis 2000 v. Chr.)

Die Metalle werden entdeckt und deren Verarbeitung beginnt. Die Graffiti werden „symbolischer“, „schematischer“ und „komplexer“. Szenen vermitteln gesteigert einen erzählenden Charakter. Aus dieser Zeit stammen imposante Menhir-Steine mit astronomisch und religiös deutbaren Gravuren, darunter erste Abbilder von Wesen mit helmartigem Aufputz und „Strahlenkränzen“.


Bronzezeit (um 2000 v. Chr. bis 1000 v. Chr.)

Geräte, Webstühle, Waffen und Schmuck werden hergestellt, der Handel nimmt zu. Erstmals werden Pfahlbauten errichtet und auch in den Zeichnungen dargestellt. Die Felskunst offenbart neue Formen, darunter topografische Karten und netzartige Geometrie. Es finden sich zunehmend illustrierte „Mischwesen“, die als Verehrung von „Geistern“ und „Göttern“ interpretiert werden.


Eisenzeit (um 1000 v. Chr. bis zur römischen Eroberung)

Der Kontakt zu eingewanderten Völkern wie den Etruskern, Rätern und Kelten beeinflusst die Kunstwerke. Es ist die kreativste Schaffensphase mit den umfassendsten Zeichnungen. Neben realistischen Szenen des Alltags überwiegt die „magisch-mythologische“ Symbolik. Fast alle Felsbilder, die mit „Raumfahrern aus dem Kosmos“ assoziiert werden, stammen aus der frühen Eisenzeit.

Christi Geburt bis Mittelalter

Im Val Camonica entstehen nur mehr vereinzelte Felsbilder. Daneben finden sich einige römische Gravuren mit lateinischen Inschriften. Im Zuge der Christianisierung wurden viele prähistorische Zeichnungen mit christlichen Symbolen ergänzt oder überschrieben. Im Spätmittelalter war Val Camonica als „Valmasca“ (Hexental) gefürchtet. Eine Legende erzählt von „furchtbaren Kämpfen zwischen Hexen, Dämonen und Klosterleuten“.

Die meisten Graffiti entstanden in der Eisenzeit. Vereinzelte Motive stammen aus jüngerer Zeit, es gibt auch folkloristische Erinnerungen aus dem Mittelalter.

Folkloristisches Überbleibsel

Aus dieser finsteren Epoche hat sich ein seltsamer Brauch bis in die Gegenwart erhalten. In Andrista, einem der tiefsten Seitentäler des Val Camonica, wird alljährlich vor dem Dreikönigstag einem Ungeheuer gedacht, das angeblich einst in den Wäldern für Angst und Schrecken sorgte: der Badalisc. Diese mythische Kreatur soll eine Mischung aus Schlange und Ziege gewesen sein, hätte rot leuchtende Augen besessen, ein Riesenmaul und Hörner auf dem Kopf. Wenn heutzutage eine Person im Badaliscen-Kostüm durch die Dörfer der Gemeinde Cevo spaziert, begleitet von Menschen in Gruselkostümen, die mit rhythmischen Stockschlägen auf den Boden stampfen, dann fürchtet sich niemand mehr vor der Spukgestalt. Aber wie war das in früheren Zeiten? Niemand kann wirklich abschätzen, wie ernst unsere Ahnen den Einfluss überirdischer Kräfte genommen haben.

KULTUR AUS DEM NICHTS

Vor etwas mehr als hundert Jahren hatten Geschichtsforscher noch keine Ahnung von der prähistorischen Felsbildkunst im Val Camonica – ganz zu schweigen von den Urhebern. Heute wissen wir, es waren die Camuni (auch Camunni, Camunen oder Camunier genannt), die uns den Großteil dieser bebilderten Wunderwelt hinterlassen haben.

Ihr Machtbereich war regional begrenzt. Im Norden versperren noch heute hohe Gebirgsketten den Weg aus dem Tal. Und im unteren Teil des früher moorähnlichen Tales liegt der landschaftlich zwar bezaubernde Iseosee, der aber für den damaligen Verkehr doch recht hinderlich gewesen sein dürfte. Dennoch müssen die Camuni schon früh Handelskontakte mit der Außenwelt gehabt haben. Die Art der im Val Camonica verwendeten und bildhaft dargestellten Webstühle ist mit jenen aus dem antiken Griechenland identisch. Umgekehrt wurden im griechischen Mykene Waffen gefunden, die genau den Abbildern auf Felsplatten im Val Camonica entsprechen.

 

Das wirft viele Fragen auf. Das beginnt schon mit der Ungewissheit, wer die Camuni waren und woher ihre Kultur stammt. Vermutet wird, dass sie wie andere Völker in mehreren Etappen in die Alpen einwanderten, sich im Val Camonica ansiedelten und sich dann mit anderen alpinen Stämmen vermischten. Bis 16 v. Chr. beherrschten sie die Region und gaben dem Tal seinen Namen. Obwohl bereits Jahrtausende zuvor ihre Vorfahren, die Proto-Camuni, erstaunliche Schaffenskraft bewiesen hatten, waren die neuen Immigranten der Bronzezeit, und noch deutlicher jene der Eisenzeit, am fleißigsten.


Woher kamen die Camuni?

Das Monument „Tropaeum Alpium“ liefert den Schriftbeleg zum Alpenvolk der Camuni.

Belegt ist, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. mit der Metallgewinnung und -bearbeitung neue Innovationen ins Land kamen, die die geniale Kreativität der Camuni beflügelten. Erst die Römer stoppten den regen Schaffenseifer. Als Legionäre die lombardischen Täler eroberten und ins Römische Reich eingliederten, übernahmen die Camuni die neue Kultur offenbar kampflos. Ihre schöpferische Leistung verlor allmählich an Bedeutung, bis sie schließlich ganz erlosch und in Vergessenheit geriet.

Vom „Camuni-Volk“ blieb fast 2.000 Jahre lang nur ein spärlicher Hinweis durch die Erwähnung bei römischen Gelehrten und einer Inschrift auf dem Siegesdenkmal zu Ehren Kaiser Augustus’. Die Überreste dieses 35 Meter hohen Monuments, genannt „Tropaeum Alpium“, sind in der französischen Gemeinde La Turbie (in unmittelbarer Grenznähe zum Fürstentum Monaco) zu besichtigen. Einer der Steine des Turms, die Plinius der Ältere (23 – 79 n. Chr.) transkribierte, enthielt die Namen von 45 alpinen Völkern, die dem Römischen Reich unterworfen wurden – darunter der Stamm der Camuni. Es ließen sich keine beweiskräftigen Spuren ihrer einstigen Existenz finden – bis eben zur Entdeckung der Felsbilder im Val Camonica!

ALPINES MULTIKULTI

Folgt man antiken Geschichtsschreibern wie Strabon (63 v. Chr. bis 23 n. Chr.), dann waren die Camuni mit den „Raezikern“ verwandt, also mit den Rätern. Ihre Nachfahren leben heute in Trentino-Südtirol, Nord- und Osttirol, Venetien sowie in Gebieten des Schweizer Kantons Graubünden und in der Region rund um den Bodensee. Die Räter gehören zu den ältesten geschichtlich fassbaren Völkern im Alpenraum. „Allerdings steht gar nicht fest, ob sie überhaupt ein Volk waren“, schränkt der Historiker Eduard Gugenberger ein und ergänzt: „Vielleicht, so wird verschiedentlich gemutmaßt, handelt es sich bei ihnen bloß um einen ungeordneten Haufen unterschiedlicher älplerischer Gemeinschaften. Es ist schwer, sich ein klares Bild zu verschaffen. Antike Berichte über sie widersprechen einander ebenso grundlegend wie moderne wissenschaftliche Ausführungen.“

Bisher wurden im Alpenraum etwas mehr als 200 Wortfragmente entdeckt, die den antiken Rätern zugeschrieben werden. Sprachwissenschaftlich erforschte Personennamen und religiöse Begriffe lassen Ähnlichkeiten zur etruskischen Schrift erkennen. Eine Urverwandtschaft zwischen diesen Kulturen scheint wahrscheinlich. Schon um Christi Geburt bemerkt dazu Titus Livius, dass die Räter „verwilderte Etrusker“ gewesen seien, die „nichts vom Althergebrachten außer dem Klang ihrer Sprache, und den nicht unverfälscht, bewahrt haben“.


Etruskisch-camunische Inschrift

Die rätisch-etruskischen Gemeinsamkeiten zeigen wiederum Anklänge zu bisher rund 150 schriftlichen Felsgravuren im Camonica-Tal. Sie werden deshalb als „camunorätisch“ bezeichnet. Sucht man die zugehörige „Muttersprache“, wird es allerdings holprig. Die Glyphen erinnern an eine Variante des nordetruskischen Alphabets. Linguisten kombinieren daraus, dass die Camuni im letzten vorchristlichen Jahrtausend die Schrift von den Etruskern übernommen haben. Bewiesen ist das aber keineswegs. Ebenso rätselhaft bleiben die Inhalte der knappen Botschaften. Sprachforscher glauben, sie lesbar entziffert zu haben. Was das Geschriebene jedoch inhaltlich konkret bedeutet, weiß man nicht. Zu welcher Familie die camunische Sprache tatsächlich zu zählen ist, bleibt daher weiterhin ungewiss.


Camunisches Schrifträtsel auf einem Felsblock

Verblüffende Lebendigkeit: Zauberer, Priester oder ein mit Federn

geschmückter Tänzer?

Aus den vielen Details in der Felsbildkunst lässt sich aber nachvollziehen, dass die Camuni in enger Beziehung zu den Etruskern standen. Felszeichnungen, die Altertumsforscher als etruskische Dolche, Schilder und Helme identifizierten, belegen das einwandfrei. Woher allerdings die Etrusker kamen, wie ihr Volk und ihre Sprache um 800 v. Chr. entstanden sind, ist nicht weniger mysteriös als die „Gretchenfrage“ nach dem Ursprung oder der Überlagerung mit den Camuni. Die gängigste These zum Entstehen der etruskischen Kultur lautet: Einwanderer aus Kleinasien vermischten sich mit der Villanova-Kultur, die um 1000 v. Chr. im heutigen Gebiet der Toskana ansässig war.

KELTISCHES GEFOLGE

Es wird noch komplizierter: Archäologisch und sprachwissenschaftlich sind bei den Camuni Übereinstimmungen zur Fritzens-Sanzeno-Kultur nachweisbar. Einerseits ist dieser Volksstamm mit der keltischen Hallstattzeit verbunden, anderseits zählt er zur Familie der Räter. Gesichert ist, dass auf die Räter ein starker keltischer Einfluss wirkte und die Camuni wiederum rätische Kulturkontakte pflegten. Frühe Funde bei Fritzens nahe Innsbruck und bei Sanzeno am Nonsberg in Südtirol gaben dieser Kultur ihren Namen. Sie war im ersten vorchristlichen Jahrtausend im Raum zwischen Gardasee und der Gebirgsgruppe des Karwendels verbreitet. Das Gebiet war im Norden von keltischen Stämmen, südwestlich von den Etruskern und südöstlich von den Venetern umringt.

Der keltische Gott Cernunnos, abgebildet auf dem Naquane-Hügel

Aufmerksame Wanderer können im Val Camonica auf viele keltische Hinweise der Hallstattzeit stoßen. Ein Beispiel sind Abbilder menschenähnlicher Figuren mit Hirschgeweihen. Das auffälligste Motiv ist in Capo di Ponte auf dem Naquane-Hügel (Fels Nr. 70) zu sehen. Es zeigt eine gehörnte Gottheit, die ihre Arme himmelwärts streckt. Die Zeichnung soll um 500 v. Chr. entstanden sein und misst im Vergleich zu anderen Szenen imposante 90 Zentimeter. In der rechten Hand hält „der Gehörnte“ einen Dolch, während der Körper von einer schlangenartigen Kreatur umwunden scheint. Unmittelbar daneben ist eine um ein Drittel kleinere Gestalt eingraviert, ohne Kopfschmuck, aber ebenfalls mit erhobenen Armen. Die Szene weckt Erinnerungen an die biblische Geschichte von David und dem Riesen Goliath. Archäologen erblicken in den Hünen indes den keltischen Hirschgott Cernunnos. Er wird mit der jenseitigen Unterwelt und der irdischen Fruchtbarkeit assoziiert.

Seine berühmteste Ikonografie findet sich auf dem keltischen Gundestrupkessel, der 1891 in einem Moor in Jütland, einer Provinz im nördlichen Dänemark, entdeckt wurde. Das Gefäß besteht aus vergoldetem Silber und trägt Darstellungen von Menschen, Gottheiten und mythischen Tieren. Bedeutung und Herkunft der wertvollen „Opfergabe“ sind noch nicht geklärt. Beim Volk der Kelten, die in Westeuropa ab 800 v. Chr. andere Kulturen überlagerten, wiederholt sich das Dilemma fehlender eigener Chroniken. Die keltischen Wurzeln verlieren sich analog zum Schicksal der Räter und Etrusker im Nebel der Vorgeschichte.

Und die Camuni? Zumindest ihre Vertreter aus der frühen Eisenzeit könnten letztlich aus einem multikulturellen Völkergemisch hervorgegangen sein. Elementare Probleme bleiben dennoch bestehen. Wer waren die Ur-Camuni, die bereits Jahrtausende vor der künstlerischen Hochblüte in das abgesonderte Alpental zogen, um dann dem Steinkult des Bilderritzens zu verfallen? Und weshalb finden sich nur wenig materielle Gegenstände aus dem Lebensraum dieses alpinen „Geistervolkes“? Wo sind die Gräber der Künstler und ihre sterblichen Überreste?

Darstellung des Cernunnos auf dem Kessel von Gundestrup

Welche Geheimnisse liegen noch tief unter dem Erdreich vergraben? Vermutlich jede Menge. Das lässt auch eine Entdeckung in Cividate Camuno, etwa zehn Kilometer südlich von Capo di Ponte, erahnen. Sie führt zurück zum Siedlungsbeginn der Talbewohner. Archäologen stießen unter Schichten der Römerzeit überraschend auf kreisförmige Hüttenreste, die aus der Altsteinzeit stammen.

Halten wir fest: Trotz ihres überragenden Bilderarchivs wissen wir herzlich wenig über die Abstammung der camunischen Genies. Nur in einer Sache sind sich die Wissenschaftler einig: Kein anderes alteuropäisches Volk hat der Nachwelt ein Felskunsterbe von derart geschichtlicher Bedeutung, eindrucksvoller Vielfalt und künstlerischer Schönheit hinterlassen.


Das 70 Kilometer lange Tal wurde nach den keltisch-alpinen

Camuni benannt.


Rätische Rätsel
DIE ZAUBERKREISE VON CARSCHENNA

Ein schier unlösbares Rätsel der Archäologie sind Schalensteine. Es gibt natürliche Wannen, die durch Verwitterung und Auswaschungen entstanden sind. Kuriose Beispiele liegen in der Landschaft des mystischen Waldviertels in Niederösterreich herum, dort, wo gerne die Steine wackeln. Aber nicht diese Gletscherspuren sind gemeint, sondern künstlich von Menschenhand geschaffene, runde Vertiefungen im Fels. Die Entstehung der meisten Relikte wird in die Bronzezeit verlegt, es gibt aber vereinzelte Funde, die bis in die Altsteinzeit zurückreichen. Der Durchmesser der Schalen kann bis zu einem halben Meter betragen. Die meisten Markierungen sind hingegen nicht größer als ein, zwei Zentimeter. Oft sind diese Mulden, Schälchen oder Näpfchen mit Linien verbunden, treten mit anderen geometrischen Mustern auf oder stehen im Zentrum konzentrischer Kreise und Spiralen. Die Camuni im Val Camonica waren recht fleißig beim Hinterlassen dieser Geometrie. Dabei setzten sie das Schälchen gerne ins Zentrum von Ringmustern. Warum und wozu, bleibt spekulativ.


Zeichen im Naquane-Nationalpark: ein Schälchen, umgeben von zahlreichen konzentrischen Ringen


Blick in die unwegsame Viamala-Schlucht im Kanton Graubünden

Im Schweizer Ort Carschenna dreht sich alles im und um Kreise. Er liegt auf einer Anhöhe oberhalb von Domleschg im Schweizer Kanton Graubünden. Hier machte der Forstingenieur Peter Brosi 1965 eine überraschende Entdeckung: Unter einer Humusschicht kamen glatt geschliffene Felsrücken mit seltsamen Steingravuren zum Vorschein: konzentrische Kreise, Schälchen, Zickzacklinien, Kreuzsymbole, Sonnenräder, geometrische Muster sowie vereinzelte Motive von Mensch und Tier. Zunächst wurden zehn Felsplatten mit etwa 400 Einzeldarstellungen freigelegt. Sie sind im kleinen Umkreis von 600 Metern angereichert und liegen meist an einer nach Norden steil abfallenden Bergschulter. 1984 und 1996 wurden in unmittelbarer Nähe (Badugnas und Viaplana) noch zwei Felsen mit Ritzzeichnungen gefunden. Das lässt vermuten, dass sich unter dem Rasenteppich von Carschenna weitere Felskunstschätze verbergen könnten.

 

Die geheimnisvollen Felszeichnungen von Carschenna, oberhalb von Sils im Domleschg in der Schweiz

Die Altersbestimmung der Zauberzeichen fällt schwer. Es scheint mehrere Schaffensperioden gegeben zu haben. Im Vergleich mit Val Camonica wird der Ursprung in die späte Jungsteinzeit datiert (ca. 3. Jahrtausend v. Chr.) oder eher noch in die Bronze- und Eisenzeit (ca. 2000 v. Chr. bis Christi Geburt). Die „Visitenkarte“ der Räter ist erkennbar: Neben der dominierenden Kreissymbolik zeigen etliche Graffiti, darunter Reiterdarstellungen und Zeichen, die an eine „Schaufel“ erinnern, eine frappante Ähnlichkeit mit den Felszeichnungen der Camuni. Das kann kein Zufall sein. Es muss in der Vorzeit zwischen den Älplern in Carschenna und den Menschen des Camonica-Tales regen Kulturaustausch gegeben haben. Aber wo liegen die Wurzeln? Welche Motive sind die älteren? Im Rätischen Museum in Chur sind Kopien der Carschenna-Muster ausgestellt. Wer sie im Original besichtigen will, muss sich beeilen. Die Verwitterung lässt die ungeschützten Gravuren immer mehr verblassen. Sorgen bereiten zusätzlich neuzeitliche Kritzeleien, die das bedeutende Kulturerbe verunstalten.

Carschenna liegt auf 1.110 Metern Seehöhe nahe dem frühmittelalterlichen Kirchenkastell Hohenrätien über dem Eingang zur Viamala-Schlucht. Die Besichtigung der restaurierten Burganlage kostet einen kleinen Obolus, aber der steile Aufstieg zum aussichtsreichen Felsplateau lohnt sich. Wer die Fundstellen mit den Felszeichnungen lieber direkt ansteuern möchte, erreicht sie von den Ortschaften Thusis oder Sils über einen markierten Wanderweg in etwa einer Stunde. Die Gravuren liegen nahe beisammen, teils im Wald, teils auf einer kleinen Lichtung unterhalb einer Hochspannungsleitung.

Die ungewöhnlichste Zeichnung besteht aus drei konzentrischen Kreisen mit einem Näpfchen als Mittelpunkt. Zwei parallele Linien außerhalb der Ringe weisen zu einer Aushöhlung, die bei meiner Besichtigung mit Wasser gefüllt war. Was mich dabei amüsierte: Aus der „Vogelperspektive“ betrachtet, könnte man die Felsgrafik für den Grundriss des „Raumschiffs Enterprise“ halten. Die Verbindung der konzentrischen Kreise zum Wasserbecken ist bestimmt nicht zufällig gewählt. War Carschenna einst ein heiliger Kraftort, wo dem Lebensspender Wasser gehuldigt wurde?


Burganlage Hohenrätien, nahe den Felsbildern von Carschenna



Die Symbole von Carschenna: Dienten sie astronomischen und topografischen Zwecken?

Was die Zeichen wirklich bedeuten, wird kaum mehr zu klären sein. Archäologen sprechen vieldeutig von einem „Opferplatz für die Erdmutter“, „künstlerischen Ausdruck von Hirten“, „kultischen Platz für Riten“ oder „Darstellungen von Mond- und Sonnenkonstellationen sowie Gestirnen“. Der Geologe Markus Weidmann hat die Carschenna-Symbolik mit der Topografie umliegender Ortschaften verglichen und fand verblüffende Gemeinsamkeiten. „Vielleicht stellen die alten Felszeichnungen eine Art prähistorischen Katasterplan dar“, mutmaßt der Schweizer. Der Gedanke, dass Carschenna einst ein Schauplatz für topografische und astronomische Beobachtungen war, ist nicht so abwegig: Der im Ortsnamen enthaltene Begriff Carschen bedeutet auf Rätoromanisch „aufgehender Mond“!