Mysteriöse Museumsschätze

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Geschlechterzwist und Mutanten


Er glaubte an eine „Übersinnliche Welterkenntnis“ und begründetedie Anthroposophie: Rudolf Steiner

Im Zuge der Neurenovierung und Ergänzung von Bruchstücken hat sich das Erscheinungsbild des Löwenmenschen verändert. Ging man wie erwähnt anfangs noch davon aus, dass die Statuette eine Löwenfrau verkörpert, sehen das Archäologen nunmehr anders: „Es ist ein Mann!“ Für die gelungene Umwandlung zum maskulinen Geschlecht wird ein dreieckiges Plättchen als Beweis angeführt, das im Schambereich in zugespitzter Form zum Boden weist. Es wird als „stilisiertes männliches Geschlechtsteil“ interpretiert. Doch mich plagen Zweifel. Könnte ein „Dreieck“ im Intimbereich nicht ebenso gut das genaue Gegenteil von Männlichkeit bedeuten? Oder sollte damit vielleicht ein Schurz angedeutet werden? Oder das Löwenfell? Könnte es als Schnitzwerk zwischen den Beinen stilisiert herunterhängen und den Eindruck eines männlichen Gemächts vermitteln? Hinzu kommt, dass immer noch viele Stellen an der Statuette fehlen. Das gilt besonders für Flächenbereiche des Ober- und Unterkörpers. Anderseits, wenn weiblich, muss man zugestehen, dass der Körper nicht den bekannten üppigen Frauenfiguren der Altsteinzeit entspricht. Also doch ein echter Kerl? Oder womöglich ein Mischwesen, nicht nur im Sinne von Tier-Mensch, sondern auch Weibchen-Männchen?

Die tollkühnste These postulierte der umstrittene österreichische Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner (1861 – 1925). Vom eiszeitlichen Kunstwerk in Gestalt eines Löwenmenschen konnte er nichts gewusst haben. Die Eiszeitplastik war zu seiner Zeit noch nicht entdeckt. In der von Steiner begründeten Anthroposophie werden spirituelle Weltanschauungen, christliche Mystik, religiöse Gnosis, fernöstliche Lehren und naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielt hierbei die „Akasha-Chronik“. Nach theosophischer Ideologie ist es das geistige Weltgedächtnis mit den feinstofflichen Aufzeichnungen aller Ereignisse aus fernster Vergangenheit. Spirituell begabte „Geistesforscher“ sollen imstande sein, dieses „gespeicherte“ weltumspannende Wissen abzurufen. 1913 beschrieb Steiner diese Fähigkeit als einen „nach rückwärts gerichteten hellseherischen Blick“. Daraus leitet sich die absonderliche theosophische Überzeugung ab, dass die Erde in Urzeiten von androgynen Wesen bevölkert war, die jeweils das weibliche und männliche Geschlecht in sich vereinten. Dazu zählten auch die Löwenmenschen. Mit dem Sündenfall, so wird behauptet, sei es dann zur Geschlechtertrennung gekommen. Aus den weiblichen Löwenmenschen, mit einer Art entgegengesetztem männlichen Astralkörper oder Ätherleib, sei das Frauengeschlecht hervorgegangen. Aus Stiermenschen im Stil von Minotaurus entsprang die Männerwelt.


Berühmte Sagengestaltder Antike: die Chimäre von Arezzo, eine Kreatur aus Löwe, Ziege und Schlange. Etruskische Bronzeskulpturim Archäologischen Museum von Florenz. Mischwesen sind im Zeitalter genmanipulierter und künstlich geschaffener Lebewesen keine Utopie mehr. War die Zukunft bereits gestern?

Ein Erdball mit Mutanten? Groteske Mischwesen – halb Mensch, halb Tier – sind populäre Motive aus der Antike, der lebendigen Mythologie bei Naturvölkern, der Geisterwelt des Schamanismus, der bunten Fabelwelt, der fantasievollen Kunstgeschichte und dem Fantasy- und Science-Fiction-Genre der Gegenwart. Auch in der Realität ferner Zukunft? Wissen wir, sollte der Homo sapiens kein Auslaufmodell sein, wohin uns die Evolution und biomedizinischer Forschergeist noch führen werden?

Eine Meldung, die man für eine Fake News halten könnte, sorgte im Jänner 2017 für internationales Aufsehen: Forscher des „Salk Institute for Biological Studies“ in Kalifornien erschufen ein Mischwesen zwischen Mensch und Schwein. Die Ergebnisse wurden im medizinischen Fachblatt „Cell“ dokumentiert. Demnach war es den Wissenschaftlern gelungen, einen Schweineembryo mit menschlichen Zellen über vier Wochen am Leben zu erhalten. Sie wollten mit den Gentests herausfinden, ob in Tieren mit Menschenzellen menschliche Organe heranwachsen können. Bereits in den 1980er-Jahren gab es umstrittene Versuche, bei denen menschliche Gene in Mäuse eingepflanzt wurden. Biotechniker hoffen, auf diese Weise einmal Ersatzorgane für kranke Menschen „züchten“ zu können. Kritiker befürchten hingegen, dass ein Mischwesen allzu menschlich werden könnte und die Experimente außer Kontrolle geraten.

Technisch ist es heute möglich, selbst Teile des menschlichen Gehirns in Tiere zu übertragen. Die Ethik verbietet solche Experimente. Aber wird sich auch ein skrupelloser „Dr. Frankenstein“ im militärischen Geheimlabor ewig daran halten? Die Geschichte lehrt, dass der geistreiche Homo sapiens früher oder später versuchen wird, alles Denkbare in der Praxis auszuprobieren, ungeachtet jeder moralischer Bedenken. Dazu gehört auch die Erschaffung neuer Lebensformen, die es in der Natur nicht gibt. Nur ein fiktiver Brüller, oder könnte eine mythologische Chimäre wie der Löwenmensch eines Tages sogar zur leibhaftigen Wirklichkeit werden?

Verzierung, Schmuck oder Urzeit-Code?

Einige Details am Löwenmenschen überraschen: Das linke Ohr weist ein Dutzend quer verlaufende Ritzungen auf. Deutlicher noch sichtbar beim linken Oberarm: Er ist mit sieben parallelen Kerben versehen, die reliefartig wirken. Eine symbolhafte Tätowierung? Möglich wäre es. Wir finden allerdings ähnliche Bearbeitungs- und Ritzspuren auf nahezu allen plastischen Kunstwerken der Eiszeit. Es ist nicht anzunehmen, dass Mammuts oder Wollnashörner mit Tattoos oder Brandzeichen im Ache- und Lonetal herumliefen. Manchmal sind es ganze Strichbündel, ergänzt um V- und X-Zeichen, sowie Reihen kleiner, runder Vertiefungen. Wenn sie auf Knochen verewigt sind, werden die Linien zuweilen als Schnitte erklärt, die durch Feuersteinklingen beim Abziehen des Tierfells entstanden sind. Die meisten Werkzeugspuren sind jedoch gezielt gesetzte Markierungen.

Viele Archäologen deuten sie lediglich als Ornamente, die der Verschönerung des Kunstwerks gedient haben sollen. Nicht wirklich überzeugend. Was spricht gegen die Annahme, dass die Regelmäßigkeit der Zeichen bestimmte Ereignisse, kalendarische Daten und andere fixierte Informationen symbolisieren? Entwickelte sich in der Schwäbischen Alb der Vorläufer der Schrift? Verbergen die vielfältigen Kerben, Linien, Kreuze, Symbole und Punkte einen altsteinzeitlichen Kommunikations-Code, von dem wir Superintelligenzler des 21. Jahrhunderts keine Ahnung mehr haben?

Die Frage stellt sich ebenso bei bemalten Knochenfragmenten und Geröllsteinen mit Linien und geometrischen Mustern. Sie wurden in mehreren Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden. Einige wenige Stücke werden ins Zeitalter des Löwenmenschen datiert, der überwiegende Teil stammt aus der letzten Epoche der Altsteinzeit, die vor etwa 12.000 Jahren mit dem Ende der Kaltperiode ausklang. Besonders zahlreich wurden derartige „Bildsteine“ in der französischen Höhle Mas d’Azil im Département Ariège gefunden. Auf rund 1400 flachen, ovalen Kieselsteinen, etwa 10 Zentimeter groß, befinden sich aufgemalte Zeichen, die teilweise an Buchstaben des späteren phönizischen, griechischen und lateinischen Alphabets erinnern. Sie sollen bis zu 14.000 Jahre alt sein. Ähnliche „Symbolsteine“ wurden in einer Grotte bei Rochedane in Ostfrankreich entdeckt und in der Höhle von Birseck bei Basel, die allerdings Spuren gewaltsamer Zerstörung aufweisen.


Weshalb weisen die meisten plastischen Eiszeitkunstwerke geometrische Ritzspuren auf?


In vielen Höhlen der Eiszeit, auch in der Schwäbischen Alb, wurden bemalte Kieselsteine gefunden. Ihre Bedeutung ist unklar.


Filigrane Kleinode aus Mammutelfenbein. Was war ihr Zweck?

Joachim Hahn, jener emsige Urzeitdetektiv, der den „Löwenmenschen“ im Ulmer Museumsdepot wiederentdeckte und erstmals rekonstruierte, deutet die Bemalungen unverblümt als „symbolische Zeichen, ähnlich einer Gedächtnisstütze, die gewisse Botschaften übermittelte“. Bereits 1973 brachte der Paläontologe das Dilemma bei der Beurteilung dieser bemalten Muster auf den Punkt. In seinem Standardwerk „Eiszeithöhlen im Lonetal“ bedauert er: „Da uns aber der Schlüssel, der Code zu diesem möglichen Vorläufer der Schrift fehlt, können wir weder die Botschaft dieser abstrakten noch der figürlichen Zeichen lesen.“

Steckt vielleicht auch hinter den jüngsten Entdeckungen der Schwäbischen Alb kein Kult, sondern verlorenes Wissen? Gemeint sind einzigartige „Schmuckstücke“ aus Mammutelfenbein, die die Anfänge der Eiszeitkunst noch einmal weiter zurück in dunkle Vergangenheit rücken. Sie wurden in großer Zahl in mehreren Höhlen der „Löwenmensch-Region“ entdeckt und sind 42.000 Jahre alt! Für die Eiszeitforschung sind sie so bedeutend, dass sie als „Fund des Jahres 2017“ im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren einen Ehrenplatz erhalten haben. „Es ist der bislang älteste Nachweis für die komplexe Herstellung von Elfenbeinperlen weltweit“, erklärt dazu der Archäologe und Museumsleiter Professor Dr. Nicholas J. Conard.

 

Der Prähistoriker Nicholas J. Conard machte in den Höhlen der Schwäbischen Alb spektakuläre Entdeckungen, die den Ursprung der Eiszeitkunst weiter zurück in die Vergangenheit datieren.

Die geschnitzten Kleinode, meist nicht größer als ein Zentimeter, weisen eine Machart auf, die bisher nur aus der Schwäbischen Alb des Aurignacien-Zeitalters bekannt ist. Sie zeigen eine verblüffende Formenvielfalt und sind fast alle doppelt und dreifach gelocht. Prähistoriker vermuten, dass es Knöpfe, Abzeichen oder Wappen der damals im Ache- und Lonetal lebenden Menschen waren. Über den langen Zeitraum von 6000 Jahren ist dieser spezielle „Modestil“ nachweisbar. Dienten die Wertsachen nur als Zierrat? Oder könnten sie ebenso gut bereits fixierte Sprachinformationen enthalten haben?

Der Alpenschamane

Welche Bedeutung ist dem Löwenmenschen beizumessen? War er ein sakrales Kultobjekt? Das Abbild einer Gottheit oder ein angehimmeltes Fabelwesen? Ein heiliger Gegenstand? Gab es eine reale Person, die für das Mischwesen einst Pate stand? Ein Stammesoberhaupt oder ein Schamane in seiner Kluft, verkleidet mit Tierhäuten? Welcher kreative Impuls förderte vor mehr als 40.000 Jahren den genialen Schaffensdrang? Drängende Fragen, die vorerst unbeantwortet bleiben. Vielleicht für immer. Eines aber ist gewiss: Der Löwenmensch muss innerhalb seiner Gruppe eine besondere Verehrung genossen haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der unbekannte Künstler für die Herstellung seines Glanzstücks enorm viel Mühe, Zeit und Know-how investierte?


Die Lage der Figur im Mammut-Stoßzahn

Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurde festgestellt, dass der Löwenmensch aus einem rechten Stoßzahn eines ausgewachsenen Mammuts geschnitzt, geschabt, geraspelt und geschliffen wurde. Der Eiszeit-Michelangelo wählte dafür den härtesten Zahnbereich aus. Mehr noch: Die Krümmung des Stoßzahnes wurde bei der Fabrikation mitberücksichtigt und bei der aufrechten Haltung ausgeglichen. Der Könner hat nicht einfach auf gut Glück zu schnitzen begonnen. Er muss sein Werk vorher geplant und genau durchdacht haben. Zufall oder nicht: Der Nervenkanal des Zahns verläuft vom Schritt exakt durch die Mitte der Figur und tritt am Kopf wieder aus. Nach altindischen Sanskrit- und Yogalehren verlaufen im Körper genau dort die Energiezentren der sieben Hauptchakren.

Die Fundstelle des Löwenmenschen liefert weitere Indizien für seine überragende Stellung. Man entdeckte die Statuette in einer Nische im hinteren Bereich der Stadel-Höhle. Archäologen nennen sie seither „Kammer des Löwenmenschen“. In diesem Areal fanden sich besonders viele Schmuckgegenstände, darunter durchbohrte Fuchszähne und Elfenbeinanhänger. Sind es „Grabbeigaben“ für eine zeremonielle Bestattung des Kunstwerks? War die ganze Höhle ein Kultzentrum für totemistische Rituale? Ein geheimer Ort der Unterwelt, in den sich nur Eingeweihte vorwagten, um mit Verstorbenen, Tiergeistern und höheren Wesen in Kontakt zu treten?

Darstellungen anthropomorpher Mischwesen, die tierische und menschliche Merkmale in sich vereinen, deuten Prähistoriker als frühe Ausdrucksform für Jagdzauber und Schamanismus. Vereinzelte bildliche Wiedergaben finden sich vor allem in französischen Höhlen. Dazu zählt eine 75 cm große Malerei an der Höhlendecke von Les Trois Frères (Département Ariège). Das Mischwesen wird der „Zauberer“ oder der „gehörnte Gott“ genannt. Ein anderes Beispiel ist eine 37 cm hohe Gravur in Le Gabillou (Département Dordogne), die einen tanzenden „Bisonmenschen“ zeigt. Allerdings sind diese Höhlengemälde erst Jahrtausende nach der Löwenmensch-Statuette entstanden.


Der „gehörnte Gott“ in Les Trois Frères und der „Bisonmensch“ in Le Gabillou

Der würdevolle Löwenmensch genießt in der Geschichte der Kunst eine Sonderstellung. Wenn es stimmt, dass die Statuette eine der ersten Schamanendarstellungen im Alpenraum ist, stellt sich eine Frage: Welche Rolle spielt dabei das Sinnbild des Löwen?

Soweit bekannt, wanderten die Großkatzen vor etwa 900.000 Jahren aus Asien kommend in Europa ein. Sogar in Tirol waren sie beheimatet, wie Funde aus der Tischofer Höhle bei Kufstein belegen. Eines der wenigen erhaltenen vollständigen Skelette eines Höhlenlöwen ist im Naturhistorischen Museum in Wien zu sehen. Vor rund 10.000 Jahren verschwanden die Höhlenlöwen wieder aus unseren Breiten. Über den Grund sind sich die Gelehrten – ähnlich wie bei der Frage zum Aussterben des Neandertalers – noch uneins.


Vollständiges Skelett eines Höhlenlöwen im Naturhistorischen Museum Wien


Wandgemälde von lebensgroßen Höhlenlöwen in der Cauvet-Grotte (Replik im Ulmer Museum)

Geblieben ist die Faszination des Löwen. Sie zieht sich durch die ganze Geschichte des Homo sapiens und ist immer mit Macht und Königswürde verbunden. In Afrika ist der Löwe noch heute das Symbol der Häuptlingswürde. Die Magie und Stärke der Großkatze blieb auch den Eiszeitkünstlern nicht verborgen. Das bezeugen wiederum viele Höhlengemälde, die mit einer unglaublichen Perfektion an die Wand gepinselt wurden. Die prachtvollsten Meisterwerke besitzt die Grotte Chauvet in der südfranzösischen Region Auvergne-Rhône-Alpes. Mit mehr als 30.000 Jahren gelten sie als die ältesten Wandgemälde aus der Aurignacien-Ära. Das Unfassbare: Die farbenprächtigen Bildwunder haben eine dreidimensionale Wirkung, die im Spiel von Licht und Schatten die Illusion beweglicher Bilder erzeugt! Kunstexperten staunen über die angewendete Maltechnik: perspektivische Wiedergaben, naturgetreue Bewegungsabläufe, eine unglaubliche Vielfalt an komplizierten Studien, plastische Formen, niveauvolle Schattierungen mit klarem Bildaufbau. So etwas hatte man den Menschen der Eiszeit niemals zugetraut. Auf Hunderten Wandbildern sind ganze Tierherden, darunter viele Löwen, verblüffend dynamisch und lebensecht verewigt worden, so als würden sie jeden Moment aus dem Felsgestein springen.

Altersmäßig und geografisch näher im Kontext zum Löwenmenschen stehen figürliche Kunstwerke und Kopfminiaturen in Menschen- und Löwengestalt, die in den Höhlen Vogelherd und Hohle Fels gefunden wurden. Das interessanteste Relikt wurde 1979 in der Geißenklösterle-Höhle, einem Ortsteil von Blaubeuren, ausgegraben: ein geschnitztes 3,8 cm hohes und 1,4 cm breites Mammutelfenbeinplättchen. Mit dem datierten Alter von 35.000 bis 40.000 Jahren liegt es im Zeithorizont der Löwenmensch-Statuette und anderen Kleinplastiken der Schwäbischen Alb.

Die Vorderseite zeigt das Halbrelief eines menschenähnlichen Wesens, mutmaßlich ein „Adorant“, mit zum Himmel erhobenen Armen und gespreizten, unterschiedlich langen Beinen, die eine Bewegung andeuten. Der linke Arm hat – analog zur Löwenmensch-Figur – die gleichen waagrechten Linienmuster eingeritzt. War es das Amulett des Löwenmensch-Schamanen?

Auf den Längs- und Querseiten und auf der Rückseite sind geometrische Kerbreihen mit 86 punktartigen Vertiefungen zu sehen, deren Bedeutung die Archäologen vor ein Rätsel stellt. Der Astronom Dr. Michael A. Rappenglück, freier Forscher mit eigenem „Institut für interdisziplinäre Studien“ in Gilching bei München, glaubt, das Geheimnis der ungewöhnlichen Darstellung zu kennen. Er verglich die Proportionen der Menschenfigur mit der Konstellation des Sternbildes Orion im Zeitalter Aurignacien und stellte verblüffende Übereinstimmungen fest. Die Punkte auf der Rückseite der Tafel könnten gemäß dieser astro-archäologischen These eine Kalenderfunktion gehabt haben. Oder sie dienten als Mess- beziehungsweise Orientierungshilfe beim Anpeilen der Sterne. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, wäre das außergewöhnliche Elfenbeinstück nicht nur eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit, sondern gleichzeitig die älteste Sternenkarte der Welt! Von Schamanen wird behauptet, sie könnten in veränderten Bewusstseinszuständen zu jenseitigen Geisterwelten reisen. Auch zu den Göttern im Kosmos?


Darstellung auf der Elfenbeinplatte aus der Geißenklösterle-Höhle

Als Gott eine Frau war

Glaubt man den Archäologen, dann stellt der Löwenmensch ein Maskulinum dar. Die jüngst gefundenen und an der Statuette ergänzten Bruchstücke legen wie erwähnt diese Vermutung nahe. An der Vormachtstellung des ewig Weiblichen in der Altsteinzeit ändert das nichts. Das bezeugen kleine weibliche Plastiken, die als Venusfigurinen bezeichnet werden. Sie stellen ein urgeschichtliches Rätsel dar.

Bisher sind rund 200 Fundorte bekannt, die von Westeuropa bis ins Tausende Kilometer entfernte Sibirien reichen. Es gibt zudem zwei bekannte Sonderfälle, die wegen ihres hohen Alters aus dem Rahmen fallen. Der eine ist die 3,5 cm große „Venus von Berekhat Ram“, die 1981 von der israelischen Archäologin Naama Goren-Inbar in einer vulkanischen Schicht in Syrien entdeckt wurde. Das gute Stück ist aus rotem Tuff, lag neben Steinwerkzeugen und ähnelt einer Frauenfigur mit Kopf, Armen und Brüsten. Mikroskopische Analysen konnten bestätigen, dass der Stein von einem frühen Urmenschen mit Werkzeugen bearbeitet wurde. Das Mysteriöse: Das Kunstwerk ist laut den Untersuchungen mindestens 230.000 Jahre alt und könnte vielleicht sogar 800.000 Jahre auf dem Buckel haben. Die handwerkliche Fähigkeit, solche Artefakte herzustellen, trauen Anthropologen nur dem Homo sapiens zu. Wenn die Datierungen stimmen, wäre die Statuette bereits ein Produkt des Homo erectus, dem Vorläufer des Neandertalers! Oder der Homo sapiens ist älter als bisher angenommen und drang bereits früher in Gebiete vor, als die Lehrmeinung behauptet.


Links: die Venus von Tan-Tan

Rechts: wertvollster Schatz im Naturhistorischen Museum Wien: die Venus von Willendorf

Die andere Dame, die für Fassungslosigkeit unter Archäologen sorgt, wird „Venus von Tan-Tan“ genannt. Sie wurde 1999 in 15 Metern Tiefe unter der erodierten Oberfläche beim Fluss Draa in Marokko ausgegraben. Der Fund besteht aus Quarzit, ist sechs Zentimeter groß, hat klar ersichtliche Arme und Beine. Nur bei der Festlegung des Geschlechts hat der Betrachter Mühe. Farbpartikel, die auf der Steinfigur hinterlassen wurden, lassen darauf schließen, dass sie ursprünglich übermalt war. Umso drastischer ist auch hier der zeitliche Unterschied: Die Entstehungsepoche der „Venus von Tan-Tan“ muss vor 300.000 bis 500.000 Jahren gewesen sein! Beide Stücke könnten somit die ältesten bekannten Kunstwerke menschlich geformter Figuren sein. Doch die Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde ziert sich, will des hohen Alters wegen die Funde nicht als Artefakte anerkennen. Sie erklären das Unerklärliche als „Pseudoartefakte“ oder „zufällige Spiele der Natur“.

Im Alter wesentlich geringer, aber in der Charakteristik vollendeter und wissenschaftlich als Werke des Homo sapiens anerkannt sind die Venusfigurinen im Alpenraum. Die niederösterreichische „Venus von Willendorf“ ist das wohl berühmteste Modell. Am 7. August 1908 kam sie bei Bauarbeiten in der Wachau zum Vorschein. Die nackte Frauenfigur besteht aus Kalkstein, ist 11 cm hoch und trägt eine eigenwillige Frisur oder Kopfbedeckung. Statt einem Gesicht sind konzentrische, waagrechte Linien rund ums Haupt modelliert. Die Arme sind hauchdünn gestaltet, während Gesäß und Brüste üppig hervorgehoben sind. Man kann es nicht verleugnen, die Willendorfer Lady ist ein altsteinzeitliches Busenwunder. Farbreste zeigen, dass die üppige Buhlschaft einst in rötlichem Ocker strahlte.

 

Weitere plumpere Figurinen aus Willendorf. Unfertige Relikte?


Venus vom Hohle Fels aus verschiedenen Perspektiven

Ihr Alter wird seit den 1950er-Jahren mit 25.000 Jahren angeführt, doch das Prachtweib ist älter als gedacht. Das bestätigten neue Analysen der Forscher Philip Nigst von der Universität Cambridge und Bence Viola vom Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig. Demnach ist die „Venus von Willendorf“ bereits vor 29.500 Jahren hergestellt worden. In diesem Zusammenhang interessant: Es existieren etwa 25.000 Jahre alte russische Venusfigurinen aus Awdejewo, Kostjonki und Gagarino, die in Größe, Alter und Aussehen der Willendorfer Frauenfigur verblüffend ähneln. Exemplare entdeckt man im Kunstmuseum Eremitage in St. Petersburg oder als Replik in westeuropäischen naturkundlichen Sammlungen.

Wesentlich älter ist die 1988 in Stratzing bei Krems entdeckte „Venus vom Galgenberg“, auch „Fanny von Stratzing“ genannt. Ihr Fundort im Waldviertel liegt nur 25 Kilometer von Willendorf entfernt. Die 7,2 cm große Reliefplastik wurde vor 36.000 Jahren aus türkis-glänzendem Schiefer gefertigt. Sie ist damit das älteste bekannte Kunstobjekt Österreichs. Ihre Körperhaltung ist außergewöhnlich: Ein Arm ist nach oben gerichtet und der Oberkörper scheint eine leichte Pirouette anzudeuten. So wird der Eindruck einer dynamischen Bewegung vermittelt, weshalb ihr das Grabungsteam den Kosenamen „Fanny“ verlieh. Nicht zufällig: Die bekannteste österreichische Tänzerin des 19. Jahrhunderts hieß Fanny Elßler (1810 – 1884). Ob die Statuette aber wirklich weiblich ist, kommt auf die Sichtweise des Betrachters an. Es gibt Prähistoriker, die in der „Venus“ eher einen Jäger mit Keule erkennen.

Weniger bekannt ist, dass am selben Ort noch zwei andere, möglicherweise unvollendete Frauenstatuetten entdeckt wurden. Beide sind aus dem Stoßzahn eines Mammuts gefertigt. Die eine plumpe Figur hat eine Höhe von 22,5 cm, die andere misst 9 cm. Sie werden als „Venus II“ und „Venus III“ bezeichnet. Ihr Zuhause teilen sie mit der „Galgenberg-Fanny“ und der „Venus von Willendorf“ im Naturhistorischen Museum in Wien.

Wenn wir nach der Urmutter aller Mütter fragen, landen wir wieder in den Höhlen der Schwäbischen Alb mit den bisher ältesten entdeckten Kunstwerken der Menschheit. Am 9. September 2008 machte der erfolgsverwöhnte Grabungsleiter Nicholas J. Conard eine neue spektakuläre Entdeckung im Hohle Fels. Der Urzeitforscher stieß mit seinem Team auf künstlerisch vollendete Tierplastiken und auf eine kleine Menschenfigur aus Mammutelfenbein. Sie sorgt seither als „Venus vom Hohle Fels“ für Aufsehen, denn sie ist dem Jahrgang des Löwenmenschen zuzuordnen. Mit 40.000 Jahren ist sie ein echtes „Golden Girl“, auch wenn ihre Größe von 6 Zentimetern im Vergleich zum Löwenmenschen bescheiden wirkt. Ihre zur Schau gestellte Weiblichkeit mit überdimensionierten Brüsten und stark vergrößerter Vulva ist eindeutig zweideutig. Details im Brustbereich und oberhalb des Bauches erstaunen: eingravierte konzentrische Linien. Ob Tätowierungen, Bänder, Kleidungsstück oder eine Art eiszeitlicher Büstenhalter, bleibt der Fantasie überlassen. Was noch überrascht: Der Kopf fehlt. Stattdessen gibt es im Halsbereich eine Öse, die vermuten lässt, dass die Figurine als Amulett getragen wurde. Oder, was freilich eine noch größere Sensation wäre: Es gab ein bewegliches Kopfstück, das am Hals der Figur befestigt war. 2015 wurde ein neues Fundstück aus dem Hohle Fels präsentiert. Es ist wiederum der Torso einer weiblichen Figurine.

Der Zweck dieser und all der anderen Frauenplastiken ist ungeklärt. Die Deutungsversuche reichen von Fruchtbarkeitssymbol über Lebensspenderin und Muttergottheit bis hin zu Ahnendarstellung. Waren die Venusfiguren Abbildungen realer Frauen der Altsteinzeit? Der Inbegriff einer früheren matriarchalischen Gesellschaftsstruktur? Oder urzeitliche Pin-ups als Ausdruck männlicher Wünsche und Sehnsüchte? Fragen, die bis heute unter Fachgelehrten kontrovers diskutiert werden.

Das wirklich Erstaunliche: Die Huldigung der Muttergottheiten lässt sich bis in jüngere Epochen der Vorzeit und der Antike zurückverfolgen. Der Mutterkult schließt auch Mythen über Himmels-, Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen mit ein. Im Alpenraum weit verbreitet sind Quellheiligtümer, die mit prähistorischen Göttinnen wie Raetia und Noreia verbunden werden. Viele christliche Gotteshäuser sind über oder in unmittelbarer Nähe prähistorischer Heiligtümer errichtet worden, dort, wo einst weibliche Gottheiten verehrt wurden. Besonders auffällig ist das in der Nähe von Leibnitz auf dem Frauenberg (Nomen est omen) in der Südsteiermark, wo neben der Wallfahrtskirche die Fundamente eines Isis-Noreia-Tempels freigelegt wurden. Und wo bleibt die sprichwörtliche Männlichkeit?

Im eiszeitlichen Weiler der Region Donau-Schwäbisch-Alb genossen offenbar beide Urzeitgeschlechter gleichberechtigte Verehrung. Der Mann in Gestalt des anmutigen großgewachsenen Löwenmenschen vom Hohlenstein-Stadel und einen Katzensprung entfernt die Frau in Form der kleinen dicken Venus vom Hohle Fels. Ein Bild für Götter – wie im biblischen Garten Eden mit dem ersten Menschenpaar Adam und Eva. Über 40 Jahrtausende trotzten sie gemeinsam allen Weltkatastrophen, gingen quasi durch dick und dünn und retteten sich hinüber ins Cyberspace-Zeitalter. Das verdient Bewunderung, Respekt und Anerkennung. Die gibt es seit 9. Juli 2017 ganz offiziell: Der Löwenmensch, die „Hohle-Fels-Venus“ und ihr Gefolge aus sechs schwäbischen „Höhlen der ältesten Eiszeitkunst“ wurden in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen!

Das Vermächtnis vergangener Welten zu bewahren und zu schützen, ist für den Fortbestand unserer Zivilisation entscheidend. Das wusste auch der deutsche Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835): „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“


Ausgrabungen in der Hohlensteinhöhle im Lonetal