Kontakt als erste Wirklichkeit

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II. Berlin

Am Berliner Institut beginnt Fritz Perls 1928 eine weitere Lehranalyse bei Eugen Harnik. Die Analyse findet in orthodoxer Abstinenz statt, und Perls sorgt nach anderthalb Jahre frustriert selbst für einen Abbruch (vgl. F. Perls 1969/1981, 49 f.). Er fragt Karen Horney, die Vorstandsmitglied des Berliner Instituts ist, um Rat, die ihm Wilhelm Reich als Analytiker empfiehlt. Reich ist Anfang 1930 von Wien nach Berlin gekommen und Perls lernt nun als Lehranalysand (bis zur Emigration beider Anfang 1933) dessen in Wien begonnene und durch Ferenczi beeinflusste aktive charakteranalytische Technik vertieft kennen. Die »technischen Seminare« (Fallbesprechungen in der Gruppe) sowie die Einzelkontrollanalysen absolviert er bei Karen Horney und Otto Fenichel. Lore Perls ist ab ca. 1930 in Berlin und besucht die Theorieseminare Fenichels, der gleichzeitig ihr Kontrollanalytiker ist. Während am Berliner Institut, das zu dieser Zeit das internationale Zentrum der aus heutiger Sicht kleinen psychoanalytischen Welt ist, eine rigide Entwicklung in Fragen der Ausbildung mit Verschulung und Dogmatisierung beginnt (vgl. Cremerius 1987), können sich die Perls’ am praktisch und theoretisch fortschrittlichen Teil des Instituts orientieren.

Die Berliner Charakteranalytiker Wilhelm Reich, Otto Fenichel, Karen Horney, Erich Fromm und Helmuth Kaiser (der ebenfalls Kandidat ist und den Perls in Reichs Seminaren kennenlernt) experimentieren in unterschiedlichem Maße mit aktiven Techniken. Dass dabei die Körpersprache und der emotionale Ausdruck miteinbezogen werden, liegt an den Vorarbeiten von Ferenczi und Groddeck und an dem Einfluss, den die sensitive Körper- und Bewegungsarbeit von Elsa Gindler (vgl. Franzen 1995) zu dieser Zeit in Berlin ausübt. Anregungen erhalten die Perls’ auch durch die Kinderanalyse (vgl. F. Perls 1942/1991, 237), die in Wien Ende der Zwanziger-Jahre durch Anna Freud und in Berlin bereits Anfang der Zwanziger-Jahre durch einige Analytikerinnen entwickelt wurde, wobei Melanie Klein hier nur der bekannteste Name ist. Die Charakteranalytiker berücksichtigen, außer der Vergangenheit, auch die aktuelle Lebenssituation und das nonverbale Verhalten der Analysanden und bemühen sich um eine Verbindung von Tiefenpsychologie und kritischer Gesellschaftsanalyse. Beide Perls sind in dieser Zeit linkspolitisch aktiv, und F. Perls verlässt (wie Reich) Deutschland direkt nach der Machtergreifung Hitlers im Frühjahr 1933 aus politischen Gründen, da er auf der schwarzen Liste der Nazis steht.

III. Amsterdam und Johannesburg

Die Perls’ emigrieren, wie andere Vertreter des linken Flügels des Berliner Instituts (W. Reich, O. Fenichel, G. Gerö), direkt nach Hitlers Machtergreifung im Frühjahr 1933. In Amsterdam gehen sie einige Monate in Kontrollanalyse zu Karl Landauer, der ebenfalls emigriert ist, und mit dem sie mittlerweile befreundet sind. Zum Jahresende 1933 fliehen sie, durch Vermittlung von Ernest Jones, per Schiff nach Südafrika weiter. Aus Johannesburg hatte Jones die Anfrage nach einem Analytiker und einem Lehranalytiker bekommen (vgl. Gaines 1979, 17). Fritz Perls bekommt den Lehranalytikerstatus und soll den Aufbau eines Psychoanalytischen Instituts in Johannesburg mit vorantreiben. Diesem Umstand und der Unterstützung Karl Landauers ist es wohl zuzuschreiben, dass Fritz Perls Ende 1933 in den Niederlanden, in einer durch Landauer und andere deutsche Emigranten mitgegründeten zweiten psychoanalytischen Vereinigung als Mitglied geführt wird. Trotz seiner überdurchschnittlich langen analytischen Ausbildung war Perls nie Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft DPG und wurde auch erst ca.1936, durch die ordentliche Mitgliedschaft in Holland, ein Mitglied der IPV, der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (heute IPA).7 Es kann hier einen Zusammenhang mit der Tatsache geben, dass F. Perls in der extremen Linken politisch aktiv war und als Reichschüler galt. Der damals als Psychoanalytiker und Kommunist antifaschistisch aktive Wilhelm Reich wurde von der Leitung der deutschen Gesellschaft und der internationalen psychoanalytischen Vereinigung 1934 auf dem Kongress in Luzern ausgeschlossen (vgl. Reich 1975, 217 f.). Der von Freud mitgetragene Anpassungskurs der deutschen Psychoanalyse an die Naziherrschaft führte, ähnlich wie bei diversen anderen Organisationen (etwa dem Deutschen Gewerkschaftsbund), über die mitbetriebene Arisierung zur Gleichschaltung im Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie (»Göring-Institut«).8 Neben Wilhelm Reich und Otto Fenichel gehörte auch Perls’ Frankfurter Analytikerin Clara Happel zu den wenigen kritischen Köpfen, die den Selbstgleichschaltungskurs der DPG offen kritisierten (vgl. Fritz 1988).

In Johannesburg ist Fritz Perls führend am Aufbau des South African Institute of Psychoanalysis beteiligt. Das Institut hat die Erlaubnis, offiziell für die IPV auszubilden. Lore Perls geht noch einige Zeit zu Hans van Ophuijsen in Kontrollanalyse, der sich für einige Zeit in Südafrika aufhält und den sie aus der Zeit in Amsterdam kennt. Im Jahr 1936 hält F. Perls auf dem IPV Kongress in der Tschechoslowakei seinen Vortrag »Zur Theorie der oralen Widerstände«. Perls’ Vortrag stößt auf fast einhellige Kritik und Ablehnung, der Besuch beim kranken Freud in Wien ist enttäuschend, da der sich keine Zeit für den von weit her angereisten Verehrer nimmt. Diese Kränkung, die die Zurückweisung von F. Perls durch seinen Vater wiederholt, wird ihn sein Leben lang beschäftigen. Einzig Karl Landauer bezieht sich in einem Artikel von 1939 positiv auf die von Perls in seinem Kongressvortrag gezogenen Parallelen zwischen physischen und psychischen Widerständen bei der Aufnahme von »Material«. Er verweist auf die Bedeutung der durch Perls aufgeworfenen Frage, ob die körperliche und geistige Nahrung gehorsam geschluckt oder auf selbstbestimmte Art und Weise durchgekaut und assimiliert wird (vgl. Landauer 1991, 287). Die dem Perls’schen Konzept des »oralen Widerstandes« immanente Kritik an der Deutungsmacht des orthodoxen Analytikers war sicherlich für eine Gemeinschaft bedrohlich, die mit dem »Fall Reich« einen großen Autoritätskonflikt hinter sich hatte und hat meiner Ansicht nach zur späteren Ausgrenzung des Berliner Reichschülers Perls beigetragen. Nach dem Kongress macht Perls noch ein paar Tage Urlaub in den ungarischen Bergen mit dem Vorsitzenden der IPV, Ernest Jones, mit dem er sich privat gut versteht. Die »Leitsätze« seines Vortrages für den Kongressbericht reicht er nicht ein (vgl. IZP 23/1937). Zurück in Südafrika gibt es Ärger am Institut (Perls war nie ein pflegeleichter Typ) und Perls wird, wahrscheinlich durch die IPV, der Lehranalytikerstatus wieder entzogen. Perls wird also degradiert und beginnt sich zunehmend von der organisierten Psychoanalyse zu trennen, ist aber nie offiziell aus der IPV ausgetreten oder ausgeschlossen worden.9

Von jetzt an sind Fritz und Lore Perls weitgehend auf sich allein gestellt und von der psychoanalytischen Bewegung inhaltlich und räumlich isoliert. Sie beginnen damit, ihre bisherigen Erfahrungen zu überdenken und zu synthetisieren und können angstfrei mit einem veränderten Therapie-Setting experimentieren (z. B. die Arbeit im Sitzen mit Blickkontakt und die konsequentere Einbeziehung des Körpers). Im Jahre 1942 erscheint in Südafrika das erste Ergebnis ihrer gemeinsamen Überlegungen unter dem Titel: »Ego, Hunger and Aggression. A Revision of Freud’s Theory and Method«. (Dieses Buch ist lediglich unter dem Namen von Fritz Perls erschienen, ich werde aber regelmäßig von »den Perls’« usw. sprechen.). Die in dieser Zeit in Johannesburg anwesende Prinzessin Marie Bonaparte, eine Vertraute Freuds und Mitglied des Zentralvorstands der IPV, rät ihm nach der Lektüre des Buches, in dem Freuds und auch ihre eigene Auffassung des Libidobegriffs kritisiert werden, doch seinen offiziellen Austritt einzureichen, wenn er nicht mehr an die Libidotheorie »glaube«. Dass ein wissenschaftlicher Ansatz auf einem Glaubenssatz basieren soll, führt bei Perls innerlich zum endgültigen Bruch (vgl. F. Perls 1969/1981, 92). Als sich in Südafrika die nationalistischen Tendenzen massiv verstärken, bereiten die Perls ihre Auswanderung in die USA vor.

IV. New York

Karen Horney, die sich bereits 1941 von der orthodoxen New York Psychoanalytic Society getrennt hatte und deren innovative Arbeiten Perls schätzt (vgl. Bocian 1992a, Cavaleri 1992), ist bereit, für die Perls’ zu bürgen. F. Perls trifft 1946 in New York ein, diskutiert mit Paul Federn über seine unterschiedliche Auffassung von der Natur des Ichs und findet Anschluss an die sogenannte Washingtoner Schule. Zu dieser Gruppe gehören u. a. Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann, Clara Thompson, und Harry Stack Sullivan, also teilweise alte Bekannte aus Deutschland. Sie waren 1941 zusammen mit Horney aus der orthodoxen New Yorker Vereinigung ausgetreten und hatten sich ihrerseits 1943 wieder von Horney getrennt, um einen New Yorker Zweig der von Sullivan gegründeten Washington School of Psychiatry zu gründen. Karen Horney und der Kreis der Washingtoner Schule werden auch als »Interpersonelle Kulturschule der Psychoanalyse« bezeichnet, da sie sich in interdisziplinärer Arbeit, zusammen mit Sozialwissenschaftlern, Kulturanthropologen etc., um ein Verständnis des Zusammenhangs von Kultur und Neurose bemühten. Außerdem bezeichneten sie Freuds Auffassungen als zu biologistisch und determinierend und zogen interaktive Elemente in die therapeutische Praxis mit ein. Erich Fromm, der anscheinend das Buch der Perls gelesen hatte, hilft F. Perls, eine Praxis zu finden, und Clara Thompson, eine Schülerin Ferenczis, versucht ihn als Lehranalytiker zu gewinnen. Er hält Ende 1946 oder Anfang 1947 für diese Gruppierung an deren New Yorker Ausbildungsinstitut (William Allison White Institut) einen Vortrag mit dem Titel »Planned Psychotherapy« (F. Perls 1979). Den beiden Perls’ werden durch das White-Institut, vor allem durch Clara Thompson, Klienten und Ausbildungskandidaten zur Analyse überwiesen.

 

Einer der Gründe, warum Fritz Perls nicht Mitglied des White Instituts wird,trotz großer Übereinstimmung in vielen Fragen, ist die seiner Ansicht nach nicht radikal genug ausfallende Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung, und eine Tendenz zur Vernachlässigung des Körpers, des Biologischen, etc. Diese durch Perls wahrgenommene Vernachlässigung ist sicherlich durch die historisch notwendige Betonung der sozialen Dimension durch die Kulturschule mitbestimmt, die sich gegen den herrschenden orthodoxen Triebdeterminismus richtete. Für Perls geht es bei der Washingtoner Schule einerseits zu viel um Fragen der sozialen Anpassung und zu wenig um die Reibung zwischen Organismus und Umwelt. Andererseits vermisst er die durch Gindler und Reich inspirierten körperorientierten praktischen Möglichkeiten, wie in der Therapie die verdrängten animalischen Elemente in die menschliche Persönlichkeit reintegriert werden können. Das Thema der Anpassung an die Gesellschaft ist auch zentral in der scharfen Kritik der Vertreter der Frankfurter Schule (Adorno, Marcuse, Horkheimer etc.) an den von ihnen sogenannten Neo-Freudianischen Revisionisten (Fromm und Horney), die 1946 einsetzte. Der Berliner Kontrollanalytiker der beiden Perls, der Linksfreudianer Otto Fenichel, hatte bereits 1944 mit einer Kritik an der Washingtoner Schule begonnen. Ihm folgte 1945 der Sozialkritiker, Schriftsteller und Anarchist Paul Goodman mit dem Artikel »Die politische Bedeutung einiger neuer Revisionen an Freud« (1945a/1989). Fenichel und Goodman nahmen in ihren Arbeiten Kritikpunkte der Frankfurter Schule vorweg (vgl. Kap. III). Die Perls hatten die Arbeiten Goodmans bereits in Südafrika mit Interesse zur Kenntnis genommen, und in New York kommt es zu einem fruchtbringenden Kontakt. Paul Goodman (1911-1972) ist ein Kenner der Werke von Freud, Reich, Rank, Groddeck, Sullivan und Abraham und hatte sich einer Reichianischen Körpertherapie beim jungen Alexander Lowen unterzogen.

Fritz Perls, Lore Perls und Paul Goodman bilden den Kern einer Gruppe in New York, die die grundlegenden Konzepte des dissidenten Psychoanalytikerpaares Perls zum Entwurf der Gestalttherapie weiterentwickelt (vgl. Perls, Hefferline, Goodman 1951: Gestalt Therapy. Excitement and Growth in the Human Personality).10 Im Zentrum dieses Entwurfs steht für mich nichts weniger als die gelungene Fortsetzung der Frankfurter und Berliner Versuche, das Verhältnis von Triebstruktur und Gesellschaft, von sinnlicher und sozialer Wirklichkeit des Menschen, integrativ zu fassen. Die entsprechenden Bemühungen waren durch den Aufmarsch des deutschen Faschismus und den Umstand, dass ihre deutschen Protagonisten in der Emigration mit ihren Konzepten und Arbeitsschwerpunkten auseinanderdrifteten, abgebrochen worden. Die Gestaltgründer entwickeln, wie das White Institut,11 feldtheoretische und interpersonelle Positionen, allerdings ohne die Bedeutung des Körpers und der Sinnlichkeit zu schmälern. So ist der gestalttherapeutische Entwurf für mich der Versuch, die polaren Wirklichkeiten des Menschen – die Biologie, das Innen, den Körper (z. B. der späte Reich), und das Soziale, das Außen, die Gesellschaft (z. B. die Interpersonelle Kulturschule) – mithilfe der Gestalt- und Feldtheorie in einer dialektischen Synthese aufzuheben.

Exemplarisch gelungen ist den beiden Perls’ und Goodman in diesem Zusammenhang etwa die dialektische Behandlung der Pole Anpassung und Konflikt.

Im Konzept der »schöpferischen Anpassung« werden zwei Positionen integriert: die optimistische Position der Interpersonellen Kulturschule, die das blockierte menschliche Wachstumspotenzial durch persönliche und gesellschaftliche Veränderung befreien will, und die pessimistische Freud’sche Kulturkritik, die vom unaufhebbaren Widerspruch zwischen Triebanforderungen und Gesellschaft und vom unabwendbar unterdrückten sinnlichen Es her argumentiert. Leben ist Wachstum, das sich in einem spezifischen Umweltfeld realisiert, und umfasst sowohl gegenseitige Anpassung als auch Konflikt und destrukturierende Aggression.

Dieser Versuch einer dialektischen Synthese und Integration betrifft nicht nur die Theorie und Praxis der Gestalttherapie, sondern gilt, zumindest was die Gründer angeht, für den ganzen Menschen. Goodmans Bemühungen, Politik und privates Leben zusammenzubringen, und seine bedeutende Rolle in der amerikanischen Jugend- und Studentenrevolte belegen dies ebenso, wie die Experimente von Perls mit alternativen Lebensgemeinschaften in der anarchistisch-utopistischen Tradition Martin Bubers und Gustav Landauers (vgl. Portele 1993).

Revision der analytischen Theorie
I. Freuds Ansatz

Als Lore und Fritz Perls in Südafrika ihr Verhältnis zur Psychoanalyse einer Revision unterzogen, taten sie das vor dem Hintergrund einer klaren Einschätzung der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Freud bewegte sich in Wien lange in einem überwiegend ablehnenden Umfeld, wobei neben der Schulmedizin insbesondere die katholische Kirche sein mächtigster Gegner war. In den internen Auseinandersetzungen allerdings wähnte er sich zumeist im Besitz der Wahrheit, und die um ihn versammelte psychoanalytische Orthodoxie agierte oft mehr als Verteidigerin eines Glaubens denn als wahrheitssuchende Forschergemeinschaft. Dissidenten wurden oft pathologisiert und für psychisch krank erklärt, wie das unter anderem mit Adler, Jung, Ferenczi, Rank und W. Reich geschehen ist (vgl. Clark 1990). Perls:

Ich bin der Meinung, dass die Leute, die mit der Psychoanalyse in Berührung gekommen sind, von dem neuen Ansatz, der der Verschreibung von Beruhigungsmitteln, der Hypnose und der Überredungstherapie so weit überlegen war, so fasziniert waren, dass er für sie zur Religion wurde. Die meisten verschluckten die Theorien Freuds mit Haut und Haaren, ohne zu erkennen, dass diese blinde Übernahme die Wurzel einer Engstirnigkeit bildete, die viele Möglichkeiten seiner genialen Entdeckungen lähmte. Dabei kam ein Sektierertum heraus, das gekennzeichnet ist durch eine fast religiöse Gläubigkeit, leidenschaftliche Suche nach neuen Beweisen und eine herablassende Ablehnung aller Tatsachen, die geeignet gewesen wären, diese sakrosankten Denkungsarten zu stören. (…) Wenn jemand nicht an die »absolute Wahrheit« glaubte, war eine Theorie zur Hand, die die Komplexe und Widerstände des Skeptikers dafür verantwortlich machte. (F. Perls 1942/1991, 96)

Die Perls’ und Goodman haben viel aus der Geschichte der Psychoanalyse gelernt, und sie galt ihnen später als »Fallstudie über die Zähmung durch Respektabilität« (Perls et al. 1951/1991, 130) und »eine perfekte Illustration zu Max Webers Gesetz der Bürokratisierung der Prophetie« (a. a. O.). Die grundsätzliche Einschätzung Freuds, seiner grundlegenden Theorien sowie der Psychoanalyse als persönliche Erfahrung, blieb allerdings positiv (vgl. auch F. Perls 1969/1981, 46).

Trotz all dieser theoretischen Komplikationen und Widersprüche waren Freuds Libidotheorie und seine psychoanalytische Technik von unerhörtem Wert. Er ist der Livingston des Unbewussten, und er schuf die Grundlagen für seine Erforschung (F. Perls 1942/1991, 94). (…) Der prinzipielle Ansatz Freuds gegenüber den psychogenen Erkrankungen ist richtig. Eine Neurose hat einen Sinn; sie ist eine Störung der Entwicklung und der Anpassung; die Triebe und das Unbewusste spielen eine unermesslich viel größere Rolle im Menschen, als man sich jemals hat träumen lassen. Neurosen sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen Organismus und Umwelt. Unsere geistig-seelische Struktur wird stärker durch Triebe und Gefühle bestimmt als durch Vernunft. (a. a. O., 89)

In der Einleitung zum ersten Teil von »Gestalt-Therapie« (1951/1987) grenzen sich die Autoren von der »trivialen Kritik an der Psychoanalyse ab, die nichts als Widerwillen ausdrückt« (a. a. O., 27) und unterscheiden von den Leuten, die die Psychoanalyse aus Büchern kennen, diejenigen, die sie praktizieren oder ihr als Patienten begegnet sind und die dadurch in ihrer »Art zu sehen und zu handeln … eine Wandlung durchgemacht« (a. a. O.) haben. Für die Auseinandersetzung der beiden Perls mit der Psychoanalyse und Freud ist der polare Ansatz grundlegend: »Wenn eine Waage nicht im Gleichgewicht ist, muss man, um es wieder herzustellen, mehr Gewicht auf die leichtere Waagschale legen« (F. Perls 1942/1991, 213). Entsprechend richten sich die Kritiken von Anfang an gegen das einseitige Betonen einzelner Polaritäten, etwa der Kausalität, der Vergangenheit und der Sexualität, ohne genügende Berücksichtigung der notwendig dazugehörenden Ergänzungen, wie etwa der Zielgerichtetheit, der Gegenwart und des Hungertriebes (vgl. a. a. O., 89). Nachdem F. Perls begonnen hatte, den »Organismus ohne Libidobrille« (a. a. O., 88) zu betrachten, stellte er fest, dass er einen geistigen Stillstand überwunden und neue Einsichten gewonnen hatte, und er begann, in den Ansichten Freuds Widersprüche und Grenzen zu sehen, die ihm »zwanzig Jahre lang durch die Großartigkeit und den Wagemut seiner Konzepte verborgen geblieben waren.« (a. a. O.)

Das Grundgerüst der Revision von 1942 betraf drei Punkte. Die Perls’ (a. a. O., 14 f.) wollten:

a) »Die psychologische Auffassung durch eine organismische ersetzen;« – d. h. der Mensch wird konsequent in Theorie und in Praxis als eine psychophysische, eine leibseelische Einheit behandelt, die mit ihrer Umwelt notwendigerweise in Kontakt ist, wofür in der Tradition Goldsteins der Begriff Organismus steht.

b) »Die Assoziationspsychologie durch die Gestaltpsychologie … ersetzen;« – d. h. Wahrnehmung und die Bedeutung der Wahrnehmung werden durch den Kontext bedingt, in dem diese Wahrnehmung stattfindet. Wahrnehmung ist subjektiv-aktiv und hängt vom Bedürfnis, vom Hintergrund und vom Feld ab.

c) »Differenzierendes Denken auf der Grundlage der ›schöpferischen Indifferenz‹ von S. Friedländer« (a. a. O., 15) anwenden. – Hiermit ist dialektischpolares Denken gemeint, das für Perls dem Denken im Schema von Ursache und Wirkung überlegen ist, das er in Freuds einseitigem »archäologischen Komplex« (a. a. O., 96) sieht.