Kontakt als erste Wirklichkeit

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Kontakt als erste Wirklichkeit im therapeutischen Veränderungsprozess

Bis hierher habe ich Kontakt als erste Wirklichkeit im Sinne einer entwicklungspsychologischen Sequenz sowie im Sinne eines fundamentalen Aspekts des menschlichen Wesens betrachtet. Im nun folgenden dritten Teil dieses Textes möchte ich mich mit persönlichem Kontakt als einem wesentlichen Bestandteil des Veränderungsprozesses in der Gestalttherapie befassen.

Weil Gestalttherapeuten ihren Klienten vorzugsweise in einer »Ich-Du-Haltung« (Hycner & Jacobs 1995) gegenübertreten, schaffen sie die Voraussetzung dafür, dass »Begegnungsmomente« entstehen können, d. h. Momente, in denen der persönliche Kontakt zwischen den Teilnehmern der Begegnung eine ungewöhnliche intersubjektive Dichte erreicht (vgl. Sterns Beispiel oben). Solche Momente lassen sich auch als Beispiele für eine stark ausgeprägte »gegenseitige Durchdringung« (Midgley 2006) oder für eine intensive »reziproke gegenseitige Einflussnahme« (Stolorow et al. 1996) verstehen. Sie sind Fälle besonderer zwischenmenschlicher Verbundenheit und gemeinsamer Kreation von Bedeutung und Sinn8 – »Ich und Du, hier und jetzt« –, in denen die unmittelbare Erfahrung der Beteiligten in ungewöhnlich großem Maß durch ihre gemeinsame Situation geformt wird.

Diese Situation lässt sich mit der intensiven Beteiligung an einem Spiel vergleichen, das Gadamer wie folgt charakterisiert:

Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird …. Das eigentliche Subjekt des Spieles … ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. (1990, 112 – Hervorhebung im Original)

Anders gesagt, die psychologischen Prozesse von Klient und Therapeut werden zu Teilen »eines einzigen Systems, das aus zwei Teilsystemen besteht … – einem dyadischen System« (Tronick 1998, 293), und dieses dyadische System »enthält mehr Information und ist komplexer … als jeder individuelle Bewusstseinszustand [der des Klienten und der des Therapeuten] allein« (a. a. O., 296); man könnte hier auch von einem »intersubjektiven Bewusstseinszustand«9 sprechen. Ich denke dabei an eine »lebendige Erfahrung einschließlich einer intersubjektiven Resonanz, die sich nicht auf das Bewusstsein eines der Teilnehmer allein reduzieren lässt« (Neimeyer 2005, 81).10

Durch diese Resonanz gewinnen die Individuen, die von ihrer gemeinsamen Situation »gespielt werden«, Zugang zu einer Erfahrungsdimension, die ihnen ohne den dyadisch erweiterten Bewusstseinszustand unzugänglich bliebe. So wie LSD und manche andere Drogen »Pforten der Wahrnehmung« (Huxley 1954) öffnen können, die normalerweise geschlossen bleiben, so kann das Eintreten in ein dyadisches System den Beteiligten die Türen zu Erfahrungen eröffnen und bislang unzugängliche Erlebnisdimensionen erschließen, die bis dahin nur Aspekte ihres Erfahrungspotenzials gewesen waren.

Wenn dieser Erfahrung Aufmerksamkeit geschenkt und sie einigermaßen häufig wiederholt wird, kann sie in das jeweilige Repertoire der einzelnen Personen eingehen und zu einer zugänglichen Ressource werden, aus der sie zukünftig schöpfen können. Um einen von Vygtoskys Begriffen zu benutzen: Die Teilnahme an der gemeinsamen Situation und der intersubjektive Bewusstseinszustand, der mit ihr einhergeht, ermöglicht den Beteiligten das Erreichen einer »höheren psychischen Funktion« (Vygotsky 1992); »höher« im Vergleich zu den psychologischen Funktionen, die ihnen zur Verfügung standen, bevor sie sich auf die dyadische Erfahrung einließen.

Ich entscheide mich nicht zufällig dafür, Vygotskys Begriff hier zu benutzen, denn der große russische Forscher und Theoretiker war – soweit ich weiß – der erste Psychologe, der versuchte, Entwicklungs- und Veränderungsprozesse auf der Basis einer Theorie der Intersubjektivität zu erklären und nicht auf der Grundlage individualistischer Annahmen. Aus Vygotsky’scher Perspektive ist der intersubjektiv entstehende Vorgang der Veränderung, den ich oben skizziert habe, nämlich nicht als ein Prozess zu verstehen, in dessen Verlauf ein Individuum (üblicherweise »Klient« genannt) bestimmte Eigenschaften eines anderen Individuums (üblicherweise »Therapeut« genannt), die es an diesem beobachtet hat, internalisiert (oder »introjiziert« oder »assimiliert«). Was vielmehr »interiorisiert« wird – wie Vygotsky den Vorgang nennt, um ihn von psychoanalytischen Konzepten wie »Internalisierung« oder ähnlichen Vorstellungen11 zu unterscheiden –, ist die Begegnung mit dem Anderen und ihre entsprechende Qualität.

Was der Klient dabei lernt, ist also nicht etwas, das der Therapeut zu ihm sagt oder mit ihm macht, sondern es ist etwas, das zwischen den beiden geschieht. Gegenstand der Interiorisierung ist die Art der Interaktion, der bestimmte Kontakt, und nicht individuelles Verhalten. Und diese Interaktion war bereits etwas, bei dem der Klient eine Rolle spielte (ebenso wie der Therapeut), aber sie war mehr und anders als die Summe der in sie eingehenden Teile. Die Interiorisierung findet mit Bezug auf die gesamte Kontaktsituation statt, die die individuellen Beiträge transzendiert. Vygotsky fasst es so zusammen:

Der entscheidende Mechanismus, der hinter höheren geistigen Funktionen steckt, ist das Kopieren sozialer Interaktionen; alle höheren psychischen Funktionen sind internalisierte soziale Beziehungen. Diese höheren psychischen Funktionen bilden die Basis für die soziale Struktur des Individuums … Selbst wenn wir geistige Prozesse betrachten, bleibt ihr Wesen quasi-sozial. In ihrer eigenen Privatsphäre behalten Menschen die Funktionen sozialer Interaktion bei. (Vygotsky 1981, 164)

So gesehen ist es nicht der Therapeut, der den Klienten unterstützt (wie es im individualistischen Paradigma erscheinen mag). Das Unterstützungssystem besteht in der Qualität der Interaktion, die sich ergibt (»emergiert«), wenn Klient und Therapeut sich ihrer gemeinsamen Situation überlassen und in einen intersubjektiven Bewusstseinszustand eintreten (vgl. Staemmler 2009, 199 ff.). Das Unterstützungssystem ist ein gemeinsames. Daher trägt auch seine Transformation in eine höhere psychische Funktion durch den Interiorisierungsprozess des Klienten das intersubjektive ›Format‹ eines »Selbstmit-dem-Anderen«, d. h. ein dialogisches Format. Kurz, alle Subjektivität ist interiorisierte Intersubjektivität: Kontakt ist die erste Wirklichkeit.

Vygotskys Konzept der Interiorisierung beschreibt, wie Erfahrungen von Menschen, die zunächst im empathischen persönlichen Kontakt zwischen ihnen stattfinden, danach in einem weiteren Schritt von den beteiligten Personen zu ihren eigenen gemacht (»interiorisiert«) und in eine höhere psychische Funktion umgeformt werden, die dann ihr jeweiliges Erleben von sich selbst beeinflusst und ihnen zur Verfügung steht, wenn sie entweder allein sind oder neue soziale Kontakte aufnehmen. Überdies legt die Interiorisierung von Erfahrungen persönlichen Kontakts und zwischenmenschlicher Verbundenheit den Boden, auf dem ein weitergehendes Gefühl von Bezogenheit wachsen kann, das z. B. die Zeit des Abschieds am Ende einer Therapie überdauern kann.

Schluss

Die intersubjektiven Momente persönlichen Kontakts zwischen Klient und Therapeut bilden den Ausgangspunkt für die Entwicklung höherer persönlicher Funktionen. Manchmal nehmen sie den Charakter von außergewöhnlichen Erlebnissen an, manchmal sind sie subtiler. Eugene Gendlin (1962, 38 f.) hat sie aus der Perspektive des Klienten anschaulich beschrieben:

Mein Eindruck von dir, dem Zuhörer [Therapeuten], berührt mein Erleben, während ich spreche, und deine Antwort bestimmt zum Teil mein Erleben im nächsten Moment. Was in mir vorgeht und wie ich lebe, während wir miteinander sprechen und interagieren, wird wesentlich beeinflusst durch jedes Wort und jede Bewegung, durch jeden Gesichtsausdruck und jede Haltung, die du zeigst …. Insofern ist es nicht so, dass ich dir von mir erzähle, wir dann herausarbeiten, wie ich mich ändern sollte, und ich es danach irgendwie tue. Vielmehr verändere ich mich, während ich spreche und denke und fühle, denn deine Reaktionen sind zu jedem Augenblick Teil meines Erlebens, das sie zum Teil beeinflussen, hervorrufen, symbolisieren und mit dem sie interagieren.

Mit anderen Worten: Der Kontakt ist die erste und unmittelbarste Wirklichkeit.

Bernd Bocian
Von der Revision der Freud’schen Theorie und Methode zum Entwurf der Gestalttherapie – Grundlegendes zu einem Figur-Hintergrund-Verhältnis1

Gestalttherapie lässt sich bewusst auf die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit und die unterschiedliche Lesbarkeit der Welt ein. Entsprechend geht auch eine umfassend-festschreibende und allgemeingültige Selbstdefinition für mich an der Intention des Gestaltansatzes vorbei. Diese Haltung läuft zwar zu mittlerweile populären erkenntnistheoretischen Überlegungen parallel, macht aber das Leben in einem Arbeitsfeld, das weitgehend von objektivierenden, naturwissenschaftlich-medizinischen Menschenbildern dominiert wird, nicht einfach. Als Gestalttherapeut bleibt mir Raum für die eigenständige Assimilation der Grundkonzepte und Grundhaltungen und die kreative Konstruktion der eigenen Position im jeweiligen Arbeitsfeld. Das beinhaltet Freiheit und die Chance, den Gestalt-Ansatz mit Eigen-Sinn zu füllen, kann aber auch Identitätsunsicherheit und Last bedeuten. Die Fundierung der gestalttherapeutischen Praxis, durch das Herausarbeiten und Erarbeiten unterschiedlicher historischer und neuer Kontexte, bleibt entsprechend eine ständige Aufgabe und Chance. Mein Weg zur Gestalttherapie und meine Identitätsfindung in diesem Feld verlief über die Bekanntschaft mit den Arbeiten kreativer psychoanalytischer Freigeister wie Wilhelm Reich, Sandor Ferenczi, Georg Groddeck und Erich Fromm. Entsprechend liegt mir daran, die psychoanalytischen Wurzeln der Gestalttherapie einmal grundlegender und differenzierter herauszuarbeiten, als das bisher geschehen ist.

 

Ein Umstand, der eine entsprechende Sichtweise des Gestaltansatzes erschwert, ist die Tatsache, dass der psychoanalytische Kontext des Schlüsselwerkes »Gestalt Therapy« von 1951 sich nicht leicht erschließt. Wie das erste Buch der beiden Perls’ enthält es zwar einen Übungsteil, ist aber gleichzeitig für ein psychoanalytisch vorgebildetes Publikum geschrieben. Beide Bücher nehmen Bezug auf eine große Anzahl psychoanalytischer Autoren2 und Konzepte, ohne diese genau zu benennen, und sowohl die Perls’ als auch Goodman zitieren zumeist aus dem Gedächtnis. Die Gründergruppe hat (glücklicherweise) kein systematisches Lehrbuch hinterlassen. Ich werde deshalb im Weiteren viel aus den Originalwerken der Gestaltgründer zitieren, dabei frühe mit späten Arbeiten verbinden, sowie verstreute Hinweise zusammenbringen und ordnen, um einen strukturierteren Grund als bisher für das Verständnis der Beziehung von Gestalttherapie und Psychoanalyse zu legen. In diesem Rahmen wird, ausgehend von biografischen Verbindungen, die Revision zentraler theoretischer und praktischer psychoanalytischer Konzepte (Triebtheorie, Ich, freie Assoziation, Unbewusstes, Verdrängung, Deuten, Widerstand, Übertragung etc.) durch die beiden Perls’ und Goodman behandelt. Des Weiteren (vgl. Kap. II) geht es um das Verhältnis zwischen Psychoanalyse, Gestaltpsychologie und Kleinkindforschung, und Fritz Perls’ therapeutischer Stil wird rückblickend aus Sicht der Objektbeziehungstheorien betrachtet. Abschließend, in Kap. III, beschäftige ich mich mit dem historischen Herkommen des Gestaltansatzes aus der linken Strömung der psychoanalytischen Kulturkritik und einer zivilisationskritischen Naturphilosophie, sowie mit Freud als ein historisches Symbol für einen Haltungswechsel in der Psychiatrie. Es geht mir hierbei im Wesentlichen nicht darum, etwas Neues vorzustellen, sondern darum, den damals erreichten Stand (möglichst im Original) in Erinnerung zu rufen und auch nachvollziehbar zu machen.

Als Motiv für diese Arbeit kommt hinzu, dass ich mich seit Jahren über Arbeiten ärgere, die immer wieder die theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie als einseitig und in sich widersprüchlich bezeichnen. Die Grundmuster der Kritiken sind über die Jahre ähnlich geblieben, da sie sich in der Regel schwerpunktmäßig auf die Transkriptionen von Workshops des alten Fritz Perls beziehen und der Kontext von Ort und Zeit ihrer Entstehung (ihr Demonstrationscharakter für ein therapeutisch vorgebildetes Publikum, die historische Bedeutung des Esalen-Instituts Ende der 60er-Jahre, etc.) nur ungenügend oder gar nicht berücksichtigt wird. Der persönliche und lebensgeschichtliche Hintergrund von Perls wird ebenfalls meist außer Acht gelassen. So zum Beispiel, dass er ein erfahrener psychoanalytischer Kliniker war, der die Grenzen und Gefahren solcher Veranstaltungen kannte (vgl. Perls 1969/1986, 10 f.; L. Perls 1992, 14). Oder sein mit zunehmendem Alter abnehmendes Interesse an einer auf Krankenbehandlung reduzierten einzeltherapeutischen Psychotherapie zugunsten des Versuches, alternativkollektive Lebensformen auf der Basis einer direkten und unverstellten zwischenmenschlichen Kommunikation zu initiieren. Nichtsdestotrotz wird gerade das transkribierte Seminarmaterial benutzt, um immer wieder ein Urteil über die Qualitäten »der Gestalttherapie« insgesamt zu fällen.

Ich teile auch die quasi interne Kritik von Hilarion Petzold3 nicht (z. B. Petzold 1987, 1993), die F. Perls und P. Goodman als Vertreter zweier kaum zu vereinbarender Positionen behandelt und von der Vernachlässigung des Sozialen und einem a-historischen Hier-und-Jetzt-Ansatz ausgeht. Dies gilt auch für die Annahme von Gordon Wheeler (1993), dass der Gestaltansatz figur- und kontaktfixiert sei. Ich hoffe, zukünftigen Kritiken, die in eine ähnliche Richtung weisen, ein Stück Boden entziehen zu können, indem ich an einen zentralen historischen Kontext der Gestalttherapie vertiefend wiedererinnere.

Ich werde in diesem Artikel deutlich machen, dass sich viele gestalttherapeutische Grundkonzepte aus der psychoanalytischen Bewegung heraus entwickelt haben. Die seit geraumer Zeit diskutierten Ähnlichkeiten mit der modernen Psychoanalyse werden verständlicher, da diese zum Teil Erfahrungen dissidenter Psychoanalytiker wiederentdeckt hat, die nicht in den Lehrkanon der orthodoxen Psychoanalyse aufgenommen worden waren, in der Gestalttherapie aber in rudimentärer Form überlebt haben. Von daher würde ich nicht nur von einer Annäherung sprechen, sondern auch von einem Wiedererkennen. Die gestalttherapeutische Revision orthodoxer Positionen hat eine Ahnenreihe, die sich überwiegend aus Dissidenten der Freud’schen Schule zusammensetzt, die mit einer aktiven, dialogischen und ganzheitlichkreativen Haltung experimentiert haben. Mit diesen Männern und Frauen und diesem Teil der Geschichte der Psychoanalyse fühle ich mich als Gestalttherapeut zutiefst verbunden und ich bin nicht bereit, ihn den offiziellen Nachlassverwaltern Freuds zu überlassen.

Entsprechend teile ich auch Positionen nicht, die davon ausgehen, die Gestalttherapie »stehe für sich« (vgl. Rumpler 1996). Vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Ansatzes assoziiere ich damit eine narzisstisch anmutende Selbstzentriertheit. Fritz und Lore Perls und Goodman haben 1951 den qualitativen Sprung in ein eigenes therapeutisches Verfahren gemacht, es bleibt für mich aber Figur vor dem Hintergrund der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. In meiner Lesart der Gestalttherapie ist mir nicht nur die Innovation (etwa der neue erkenntnistheoretische Kontext, der innerhalb der DVG zuerst durch Heik Portele betont worden ist), sondern in starkem Maße auch die Tradition wichtig. Ich fühle mich mit einem Vorgänger- und Vorfahrenfeld verbunden und verbinde das gestalttherapeutische Autonomieprinzip mit einer Identität, die sich nicht eltern- und familienlos konstruiert, wie F. Perls das oft tat, sondern sich als selbstständiger und erwachsener Teil einer Familiengeschichte betrachtet Erwähnen möchte ich auch, dass scheinbar gestalttypische Begriffe und Konzepte, wie Ganzheit, Hier und Jetzt, Wachstum, Kontakt, Awareness etc., sich schon bei den analytischen Freigeistern finden lassen. Was die Gestalttherapie vielleicht »einzigartig« (vgl. Bocian 1997a) macht, ist für mich zum einen die Radikalität, mit der die Gründer dissidente psychoanalytische Theorie- und Praxisansätze aufgehoben, integriert und zum Teil weiterentwickelt haben. Zum anderen, dass sie darüber hinaus auch noch bemüht waren, dies mit den damals fortschrittlichsten Strömungen der Wahrnehmungspsychologie und -philosophie zu verbinden, was sie den Versuch einer Synthese von »Kontakt- und Tiefenpsychologie« nannten. Dies Unternehmen war seiner Zeit voraus.

Kapitel I: Geschichte und Biografie – Revision der Triebtheorie und der Theorie des Selbst
Geschichte und Biografie

Das Wissen um die eigene Geschichte gehört zum Prozess der Identitätsbildung. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine deutsche Amnesie aufmerksam machen, die kaum wahrnimmt, dass die Gestalttherapie ohne den Hitlerfaschismus höchstwahrscheinlich gar nicht entstanden wäre. Der Entstehungsprozess der Gestalttherapie kann historisch im Kontext der Emigrationsgeschichte der deutschen Psychoanalyse nach 1933 betrachtet werden, und in unseren Ansatz sind Überlebenserfahrungen von Deutschen eingegangen, die durch Deutsche vertrieben worden sind. Meiner Ansicht nach sind einige Ideen der damaligen linken Berliner Kultur-Avantgarde mit den beiden Perls’ emigriert und lassen sich ebenso im Hintergrund vieler Gestaltkonzepte finden, wie die Grenzerfahrungen, die sie als deutsche Juden machen mussten.4

An dieser Stelle will ich mich auf die biografischen Beziehungen von Fritz und Lore Perls zur Psychoanalyse konzentrieren. In die folgenden Angaben will ich einige für das Verständnis der Entstehungsgeschichte der Gestalttherapie wichtige Daten und Zusammenhänge einfließen lassen, die bisher nicht bekannt waren oder veröffentlicht worden sind. Im Rahmen meiner Nachforschungen ist mir klar geworden, wie tief sowohl Fritz und Lore Perls als Privatpersonen als auch der Gestalt-Ansatz insgesamt im geistig-kulturellen Klima der Weimarer Republik (1918-1933) verwurzelt sind. Die unruhige und blutige Zeit zwischen dem Ende des ersten Weltkriegs und der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten, die das Ende der Republik bedeutete, war auch eine Zeit der kreativen und sozial-utopischen Aufb ruchstimmung. Berlin war ihr Zentrum und weltweiter Anziehungspunkt, wegen der vielfältigen neuen Entwicklungen und Experimente im Bereich der Politik, Kunst und Alltagskultur. Die beiden Perls haben diese Wurzeln nie verloren und in New York in Paul Goodman einen geistesverwandten Menschen getroffen. Es ist nicht verwunderlich, dass es abermals eine soziale Auf- und Umbruchstimmung war, die dem Gestalt-Ansatz im Amerika der 60er-Jahre, wenn auch teilweise in verkürzter Form, zur Verbreitung verholfen hat. Mich mit den soziokulturellen Wurzeln im Deutschland der Weimarer Jahre und dem Einfluss der deutsch-jüdischen Erfahrungen gründlich beschäftigt zu haben (vgl. Bocian 2007), war mir, gerade als europäischer und deutscher Gestalttherapeut, Verpflichtung und Herzensangelegenheit zugleich.

I. Frankfurt und Wien

Friedrich (Fritz) Salomon Perls (1893-1970), Sohn jüdischer Eltern und seit 1921 promovierter Arzt, beginnt in Berlin, wo er sich während der Jahre der Weimarer Republik in linken Künstler- und Intellektuellenkreisen bewegt, aus persönlichen Gründen im Jahre 1925 eine Psychoanalyse bei Karen Horney. Als er im September 1926 für ein Jahr als Assistent zu Kurt Goldstein geht, der in Frankfurt die Neurologie von der Gestaltpsychologie und einem organismisch-ganzheitlichen Standpunkt aus revolutioniert und mit dem Kreis der Gestalttheoretiker um Wertheimer eng verbunden ist, setzt er seine Analyse bei Clara Happel fort. An Goldsteins Institut lernte er u. a. Siegmund Heinz Fuchs kennen, der, nach seiner Emigration aus Hitlerdeutschland, in England unter dem Namen S. H. Foulkes zu einem Pionier der analytischen Gruppentherapie werden wird. Foulkes (1992) hat ebenso wie Perls in seinen Arbeiten gestaltpsychologische Termini und Erkenntnisse verwendet. Als Clara Happel Perls’ Analyse nach ca. einem Jahr für beendet erklärt, rät sie ihm, zur Supervison nach Wien zu gehen. Perls folgt ihrem Rat und geht im September 1927 im Rahmen seiner Facharztausbildung für ca. sechs Monate an die Wiener Nervenklinik, wo er unter Julius Wagner-Jauregg und Paul Schilder arbeitet. Psychoanalytische Supervision bzw. Kontrollanalysen erhält Perls durch Helene Deutsch, Leiterin des Lehrinstituts der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und durch Eduard Hitschmann, Direktor des psychoanalytischen Ambulatoriums in Wien. Er nimmt intensiv an den Aktivitäten der Wiener Vereinigung teil, besucht zahlreiche Seminare und Vorträge, hört u. a. Referate von Paul Federn und Anna Freud und beteiligt sich an einigen der nach den Vorträgen stattfindenden Diskussionen. Im »Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« wird er neben Wilhelm Reich, Paul Federn, Heinz Hartmann und anderen Diskutanten als »Dr. Perls (a. G.)« vermerkt. Als Kandidat des Berliner Instituts gilt er in Wien »als Gast« (vgl. IZP 14/1928, 436 f.). In der Wiener Zeit haben die Pionierarbeiten Paul Federns (1978) zur Ich-Psychologie und zur Psychosenforschung Einfluss auf Perls, und Federns Begriff »Ich-Grenze« soll für Perls lebenslang von Bedeutung bleiben. Von Bedeutung ist weiterhin, dass Perls bereits in Wien an Wilhelm Reichs »therapeutisch-technischem Seminare« im Ambulatorium der Wiener Vereinigung teilnahm und somit bereits zu diesem Zeitpunkt mit der sich vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Ich-Psychologie gerade entwickelnden Charakteranalyse in Kontakt kam, und nicht erst, wie bisher angenommen, als Reich im Jahre 1930 von Wien nach Berlin übersiedelte (vgl. Bocian 2007, 200 f.). Im März 1928 geht er nach Berlin zurück, arbeitet sowohl ärztlich wie psychoanalytisch und setzt seine Ausbildung als Kandidat des Berliner Instituts fort.

In Frankfurt hatte er Lore Posner (1905-1990) kennengelernt, die seine Frau werden wird. Lore Posner, aus einer jüdischen Familie des Pforzheimer Bürgertums stammend, ist dort eine der ersten weiblichen Studentinnen. Sie studiert Gestaltpsychologie, nimmt an Veranstaltungen von Goldstein teil und promoviert bei dem Gestaltpsychologen Ademar Gelb. Durch Perls inspiriert, beginnt sie ebenfalls eine kurze Analyse bei Clara Happel, um danach zu Karl Landauer zu wechseln, den sie als Person und als Lehranalytiker sehr schätzt. Dass sie parallel zu ihrer Analyse modernen Ausdruckstanz und rhythmische Gymnastik praktiziert, ist für ihre therapeutische Entwicklung von großer Bedeutung. Karl Landauer, ein Analysand von Freud, ist zu dieser Zeit eine bedeutende Persönlichkeit innerhalb der deutschen Psychoanalyse. Seine Arbeiten zur »Theorie der Affekte« (1991), seine Betonung des Zusammenhangs von eigenständigem Denken und Fühlen, sowie seine therapeutische Haltung, die auf eigenständige Weise die Anregungen von Ferenczi, Rank und Groddeck zur aktiven Technik aufgreift, beeinflussen Lore Perls und somit auch die Gestalttherapie. Karl Landauer stirbt im Januar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen den Hungertod. Da er nicht nach Amerika emigriert war, wird er von der Psychoanalyse quasi vergessen. Seine Bedeutung wird von der deutschen Psychoanalyse der Nachkriegszeit erst durch die Bemühungen von Hans Joachim Rothe (1987) wiedererinnert. Innerhalb der Gestalttherapie bleibt er bis 1997 so gut wie unbekannt.5

 

Nach der ca. zweieinhalb Jahre dauernden Lehranalyse bei Landauer setzt Lore Perls ihre psychoanalytische Ausbildung bei Frieda Fromm-Reichmann fort, die später in den USA eine bedeutende Psychosenforscherin wird. Frieda Fromm-Reichmann war einige Jahre enge Mitarbeiterin von Kurt Goldstein und ist 1926 an der Konstituierung der »Südwestdeutschen Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft« beteiligt, zu der noch Karl Landauer, Heinrich Meng, Clara Happel und Erich Fromm gehören. Dieser Kreis ist eng mit dem »wilden Analytiker«, Philosophen des Es und Pionier der Psychosomatik Georg Groddeck verbunden (vgl. Will 1987). Sie besuchen ihn oft in Baden-Baden und treffen dort weitere kreative Geister der psychoanalytischen Bewegung, wie Sandor Ferenczi und Karen Horney, die ebenfalls von Groddeck (der in mancher Hinsicht ein Pendant zu Freud bildet) angetan sind. Auch Lore Perls nimmt an Besuchen bei Groddeck teil. Im Februar 1929 wird durch die Arbeitsgemeinschaft das »Frankfurter Psychoanalytische Institut« (FPI) gegründet (vgl. Laier, 1989), zu dem ab 1930 noch Siegmund Heinz Fuchs gehört, ebenfalls ein ehemaliger Assistent Goldsteins. Das Frankfurter Psychoanalytische Institut (an dem Lore Perls bis zu ihrem Wegzug nach Berlin 1930 vor allem bei Fromm-Reichmann Theorie studiert), ist neben Berlin nun das zweite in Deutschland und wird als Gastinstitut in die Räume des Instituts für Sozialforschung (IfS) aufgenommen. Der Direktor des IfS ist Max Horkheimer, der kurze Zeit bei Karl Landauer in Analyse war. Erich Fromm ist Mitglied beider Institute und schafft so eine kontinuierliche persönliche Verbindung. Aus dem IfS wird die sogenannte Frankfurter Schule bzw. Kritische Theorie (Horkheimer, Adorno, Marcuse etc.) hervorgehen.

In diesen Jahren (bis zur Machtergreifung Hitlers 1933) entwickelt sich in Frankfurt eine einzigartige Verbindung von Psychoanalyse, marxistischer Sozialwissenschaft und Gestaltpsychologie. Meiner Meinung nach enthielt die spezielle interdisziplinäre und integrative Atmosphäre Frankfurts6 bereits alle Einzelbausteine der Gestalttherapie in Rohform, und die Gestalttherapie ist eine Fortsetzung des dort begonnenen Versuchs der dialektischen Synthese unterschiedlicher Elemente der menschlichen Wirklichkeit.