Kontakt als erste Wirklichkeit

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4.2 Perls und Goodman – Das Selbst als »accepted ground«

In der Theorie des Selbst geht es um mehr als um Therapie, es geht um eine neue systemische Sichtweise des Menschen, um ein neues Paradigma. Die Theorie des Selbst ist umfassender als die verwandten Auffassungen der Objektbeziehungstheorien, die sich im Sinne von Perls auf die psychologische Dimension (»das Selbst und die anderen«) des Organismus/Umwelt-Feldes beschränken (vgl. F. Perls 1980, 121, 130). Aus therapeutischer Sicht könnte man jedoch dem Modell eines prozesshaften Selbst vorwerfen, dass es beispielsweise nicht genügend die Bedeutung von leibgegründeter ontologischer Sicherheit berücksichtigt bzw. die Bedeutung von konservativen Systemen für die Identität vor lauter Betonung des Neuen und sich Verändernden unterschätzt. Perls und Goodman waren sich aber meiner Ansicht nach über den Charakter ihres Entwurfs im Klaren. Natürlich haben sie recht, wenn sie schreiben: »Die Definition eines Lebewesens bezieht … seine Umwelt mit ein« (Perls et al. 1951/1991, 43). Richtig, denn hier wie an anderen Stellen (a. a. O., 166) wird von »definieren« gesprochen und nicht von erleben. Sie sind sich des Unterschieds von Konzept und Erfahrung bewusst: »Das heißt, in einer paradiesischen Welt spontaner Identifikation und Entfremdungen, ohne absichtliche Einschränkungen, wäre (Hervorhebung B.B.) das Ich nur eine Phase im Prozess des Selbst« (a. a. O., 175). Es ist auch stimmig, davon auszugehen, dass bei der Theorie des Selbst Introspektion als hauptsächliche Methode der Beobachtung ungeeignet ist, denn Introspektion ist Wahrnehmung der psychophysischen Einheit bei Ausschluss der Außenwelt (vgl. a. a. O., 184 f.). Das »introspektive Ich« ist eine absichtlich einschränkende Haltung, die als neurotisch gelten muss, wenn sie außerhalb des Gewahrseins bleibt. Geschieht Introspektion allerdings »innerhalb des Gewahrseins …, dann bilden das abgegrenzte Selbst und sein aktives Zentrum eine gute Gestalt« (a. a. O., 185).

In der Theorie des Selbst bildet sich das Selbst nur am Neuen, es fühlt nicht so sehr »die eigene Existenz als vielmehr die Einheit der Kontakte« im Feld (a. a. O., 182). Nach Ablauf des Kontaktzyklus erlischt dieses Selbst quasi und was bleibt, ist der gewachsene Organismus mit neuen Grenzen (a. a. O., 226), erweiterten Ich-Grenzen, wie Perls sagen würde. Für die therapeutische Praxis ist es von Bedeutung, dass dieses Konzept natürlich nicht ein Erleben ausschließt wie »das Gefühl des Organismus von sich selbst als einem ›Ich‹ (accepted ground) …« (a. a. O., 215).16 Accepted ground – Goodmans Begriff für Selbstgefühlsphasen leibgegründeter Ganzheit, existenzieller Sicherheit und Identität.

Die Gestalttherapie arbeitet auf Grundlage der Vorstellung eines sich dem Kontext entsprechend dialektisch ausdifferenzierenden Feldes (z. B. in Organismus und Umwelt, das Selbst und den Anderen, Individuum und Gesellschaft etc.). Lore Perls, Fritz Perls und Paul Goodman haben sich ihren persönlichen Schwerpunkten entsprechend theoretisch und praktisch im Rahmen unterschiedlicher Dimensionen dieses Feldes bewegt. Hier lediglich Brüche und Widersprüche zu sehen bedeutet, hinter den 1951 erreichten Stand der Integration zurückzufallen und zu übersehen, dass es gerade zum Kern des Gestalt-Ansatzes gehört, dass er die tiefenpsychologische wie die systemische Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit zu umfassen versucht.

Kapitel II. Revision der analytischen Praxis – Moderne Psychoanalyse, Gestaltpsychologie und Kleinkindforschung
Revision der analytischen Praxis
I. Der Psychoanalytiker als Attrappe

Für die Abwendung der beiden Perls’ von der orthodoxen Psychoanalyse sind ihre Erfahrungen mit der analytischen Therapiepraxis von Bedeutung. Insbesondere die Analyse von Fritz Perls bei Eugen Harnik in Berlin, die in einem »Setting der sensorischen und interaktiven Deprivation« (Moser 1987, 113) stattfand, war ein einschneidendes Erlebnis. Es ist erstaunlich, wie sich die Erfahrungen der beiden Perls aus den Zwanziger-Jahren mit dem decken, was Tilmann Moser 1987 in seinem Buch »Der Psychoanalytiker als sprechende Attrappe« beschrieben und kritisiert hat. In einem von Lore Perls verfassten Kapitel in »Das Ich, der Hunger und die Aggression« heißt es:

Die klassische psychoanalytische Situation, in der der Patient kaum merkt, dass der Analytiker zugegen ist, ist besonders gut als Attrappen-Situation geeignet. Hier wird der Patient tatsächlich ermutigt, die analytische Situation nicht als »reale« Situation und den Analytiker nicht als »reale« Person anzusehen; die ganze Beziehung zwischen dem Patienten und dem Analytiker wird auf diese Weise »unreal«, d. h. etwas, das an sich keine Bedeutung und keine Folgen hat. Jede Gemütsbewegung und jede Reaktion wird als »Übertragungsphänomen« gedeutet, d. h. als etwas, das nicht unmittelbar mit der aktuellen Situation zu tun hat (F. Perls 1942/1991, 148).

Wie das aus der Sicht des Klienten erlebt wird, schildert F. Perls sehr eindrucksvoll, wenn er über seine Analyse bei Harnik berichtet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Harnik aus dem Budapester Kreis um Sandor Ferenczi kam und am Berliner Institut auch Vorträge über dessen »aktive Technik« hielt. Ich vermute, dass die von ihm praktizierte Art der Lehranalyse, die alles andere als aktiv war, ein Ausdruck für die sich in dieser Zeit am Berliner Institut herausbildenden rigiden Tendenzen war, die zur Ausbildung der abstinenten Spiegelhaltung und sogenannten Standardtechnik führten. Für einige Autoren hängt diese Entwicklung auch mit dem Versuch zusammen, den jahrelangen »Inzest auf der Couch« (Krutzenbichler/Essers 1991, 147) zu vertuschen. Am Berliner Institut wurde der »Blechaffe zum Standard-Analytiker ausgerufen« (a. a. O., 106) und jedes Gefühl und jede Nähe wurden zwanghaft vermieden. An dieser Praxis kritisiert Perls (wie Moser) die Gefahr der Gottesübertragung auf den »großen Unsichtbaren« (Moser 1987, 139 f.). Fritz Perls erinnert sich:

Hier liegt der Patient auf einer Couch, und der Psychoanalytiker sitzt hinter ihm wie ein unsichtbarer Gott über den Wolken, der nicht gesehen werden darf. Das entspricht der Vorschrift, nach der der fromme Jude sich kein Bild von Gott machen darf, genauso wie auch der römisch-katholische Gläubige seinen Beichtvater nicht sehen darf. Wie kann ein Patient jemals Kontakt zur Realität herstellen, wenn die analytische Situation auf einer so mystischen Ebene gehalten wird? (…) Verwandeln sie den Psychoanalytiker, der ein so ehrfurchtgebietendes Bild bietet, in ein menschliches Wesen auf gleicher Ebene wie der Patient: Hören Sie auf, die Angst und den Protest des Patienten als »Gottesübertragung« zu deuten! Solange der Analytiker sich weiterhin wie ein Priester verhält, mit all den Riten der festgelegten analytischen Sitzordnung und der zwanghaften Zeitbeschränkung … muß der Patient den Analytiker korrekterweise als religiöses Objekt deuten, und kein Hinweis darauf, das dies ein Übertragungsphänomen sei, wird seine Reaktion – sei es als gläubiger Anhänger oder als Ketzer der psychoanalytischen Religion – zum Schweigen bringen (F. Perls 1942/1991, 248).

Fritz Perls’ Begeisterung für Wilhelm Reich, zu dem er auf Rat von Karen Horney hin wechselte, ist auch im Zusammenhang mit der therapeutischen Arbeit nur zu verständlich. Reich, den Lore Perls »a disciple of Ferenczi’s« nannte, war aktiv und innovativ und hatte 1933 den »Sadismus« (Reich 1983, 148) des analytischen Schweigens und die unlebendige »mumienartige Haltung« (a. a. O.) mancher Analytiker kritisiert. Das Berliner Institut war sowohl eine Entwicklungsstätte für die abstinente Standardtechnik, die Perls später in Amerika als »normative Idealtechnik« (Mertens 1990, 199) einer medizinisch orientierten psychoanalytischen Orthodoxie vorfand, wie für die elastisch-aktive Praxis in der Tradition von Groddeck, Ferenczi und Rank.17 Diese hatte starken Einfluss auf spätere Dissidenten, von denen wiederum insbesondere Wilhelm Reich und Karen Horney große Bedeutung für die Gestalttherapie haben. F. Perls: »Mit einer Ausnahme – K. Landauer – waren all jene, die mir etwas genützt hatten, von der Linie der Orthodoxie abgewichen« (a. a. O., 88).

II. Therapie als Gestaltanalyse

Fritz und Lore Perls sehen im Rahmen ihres neuen Ansatzes die »Miniaturgesellschaft von Arzt und Patient« (Perls et al. 1951/1987, 30) geprägt durch Begegnung, Beziehung und Dialog. Lore Perls: »Wenn wir unseren Patienten helfen wollen, sich umfassender als wahrhaft menschliche Wesen zu erkennen, müssen wir selbst den Mut haben, die Gefahren des Menschseins zu riskieren« (L. Perls 1989, 84). Die Gestalttherapie ist keine Ansammlung von Techniken, sondern der Therapeut entwickelt im Sinne von Lore Perls wie der Künstler seinen individuellen »Stil«, eine »vereinheitlichte integrierte Art und Weise des Ausdrucks und der Mitteilung« (a. a. O., 99), mit der er sich auf den innovativen Prozess der Begegnung einlässt. Oder wie es Karl Landauer, der Lehranalytiker von Lore Perls, ausgedrückt hat: »Technik ist Persönlichstes« (1991, 148). Lore Perls ist sich der analytischen Tradition bewusst, in der sie nicht nur in dieser Hinsicht steht, wenn sie über Landauer, den sie im Vergleich mit anderen Psychoanalytikern seiner Zeit als »sehr viel freier« (L. Perls 1985) erlebt hat, berichtet: »Er war einer der ersten Freud-Schüler, aber auch sehr befreundet mit Ferenczi und Groddeck, die beide eine schon sehr viel offenere Haltung hatten, viel aktiver.« (a. a. O.).

Die Charakteranalyse weiterführend, die assimiliert wurde, stellt die Gestalttherapie die Arbeit im Hier und Jetzt und die aktuelle Situation in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit. Was Hilarion Petzold in der Formel »von den Phänomenen zu den Strukturen« zusammenfasst, gehörte zu den behandlungstechnischen Grundregeln der Berliner Charakteranalytiker um Wilhelm Reich, die mit dem aktuell vorhandenen Affekt und dem »wie« von Ausdruck und Mitteilung arbeiteten und die sich, die Widerstände beachtend, von der Oberfläche zum Tiefenmaterial bzw. von der Figur zum Hintergrund durcharbeiteten (vgl. Fenichel in Haynal 1989, 71). Aus einem existenzialistischen Blickwinkel heraus ist die Gegenwart der Punkt, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen und Bedeutung haben. F. Perls:

 

Für mich umschließt die Gegenwart eine Kindheitserfahrung, wenn sie jetzt deutlich erinnert wird; … die Konzepte von Freud und die Gedichte von Rilke sowie Millionen weiterer Erfahrungen, wann und in welchem Maße sie auch immer in meine Existenz treten, meine Existenz in diesem Moment. (F. Perls 1948/1980, 39)

Es geht Perls um das schon 1924 durch Rank und Ferenczi in »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« geforderte erlebnishafte »Wiederholen« von Erfahrungen und Erinnerungen, als Alternative zum unbeteiligten Spekulieren und Fantasieren.

An dieser Stelle ein Wort zur Annahme mancher Kritiken, die Gestalttherapie sei gegenwartsfixiert und an Vergangenheit und Zukunft desinteressiert. Freud hat, so schreiben die Perls und Goodman,

in den letzten Jahren seines Lebens kategorisch wiederholt, keine Methode könne psychoanalytisch heißen, wenn sie nicht die frühkindlichen Erinnerungen aufarbeitet. So, wie wir es sehen, wollte er damit sagen, dass ein großer Teil des Selbst immer noch alte, unerledigte Situation agiere. Und das muss richtig sein, denn wir leben davon, das Neue dem zu assimilieren, was wir geworden sind, in der Art, wie wir geworden sind. (Perls et al. 1951/1991, 78)

Eine Gestaltanalyse, die an Selbstgewahrsein, Experiment und schöpferischer Anpassung interessiert ist, legt unter Einbeziehung der polaren Ansätze von Freud und Adler

zugleich Wert auf das Wiedereinholen der Vergangenheit (›Kindheitserinnerungen‹) und auf die Erwartungen und Vorhaben in der Zukunft (›Lebensplan‹). Sicherinnern und Erwarten sind aber Handlungen in der Gegenwart, und wichtig ist für uns, ihren Platz in der Struktur des Gegenwärtigen zu analysieren. (a. a. O., 77)

Im ersten Band von »Gestalt-Therapie« heißt es in einem Kommentar zu einer Kritik an den dort vorgeschlagenen Gewahrseinsübungen, die das Erleben im »hier und jetzt« fördern sollen:

Was hier fehlt, ist das klare Verständnis dafür, dass dieses Experiment nicht darauf abzielt, uns noch ausschließlicher für die Gegenwart leben zu machen, auszublenden, was die Vergangenheit uns gelehrt haben sollte, und uns zu Bedenkenlosigkeit gegen das anzustacheln, was vor uns liegt und der Vorbereitung bedarf. Es soll uns vielmehr in der Gegenwart leben machen. Ganz in der Gegenwart leben, bedeutet zugleich, gegenwärtige Merkzeichen vergangener Lehren zu beachten und sich so in der Gegenwart angemessener zu verhalten, und es bedeutet auch, die gegenwärtigen Vorboten kommender Ereignisse zu bemerken und sich auf sie einzurichten. Der gesunde Mensch nimmt die Gegenwart als Bezugspunkt, von dem aus er vor- oder zurückzublicken imstande ist, wie es der Anlass erfordert (Perls et al. 1951/1987, 45).

Fritz Perls sieht 1942 als Faktoren, die (im therapeutischen Setting) die Gegenwart beeinflussen, neben dem Erbgut die alltäglichen Gewohnheiten und Konditionierungen. Aus der Vergangenheit kommen die »futuristischen Erinnerungen« (F. Perls 1942/1991, 108 f.), womit er Erinnerungen an schmerzhafte Erlebnisse meint, die als Gefahren- und Stoppsignal in der Gegenwart wirken, da Schlimmes befürchtet wird (»Gebranntes Kind scheut das Feuer«). Außerdem noch die nach Vollständigkeit drängenden unabgeschlossenen Situationen (»Wiederholungszwang«) und unverdaute, unassimilierte Erlebnisse, die »große Klasse der traumatischen und introjizierten Erinnerungen« (a. a. O., 113). All das wirkt sich auf die aktuelle Situation des Klienten aus, »auf seine Einstellung zu sich selbst, zum Therapeuten, auf seine allgemeinen Verhaltensweisen (in Familie, Sexualität, Beruf)« (Perls et al. 1951/1991, 73). In der »geschützten Notsituation« (a. a. O.) der »Therapie als Gestaltanalyse« (a. a. O., 14) wird die Struktur der aktuellen Erfahrung gemeinsam erkundet Diese Erfahrung enthält Elemente des gesellschaftlichen und sozialen Feldes, der Biografie wie der augenblicklichen Therapeut-Klient-Beziehung. Es wird mit neuen Möglichkeiten und Erfahrungen experimentiert, das orthodoxe Monopol des ausschließlichen »Warum?« wird gebrochen und durch Fragen ersetzt nach dem »Wie?, Wann?, Wo? und Wozu?« (F. Perls 1942/1991, 245).

III. Kontext und Hintergrund

Wahrnehmung ist selektiv und aktiv. Die Welt, die für mich existiert, wird bedingt durch mein Bedürfnis und mein Interesse, das sich aus meinem eigenen Hintergrund ergibt. Fritz und Lore Perls benutzen wie Kurt Lewin in seinen frühen »Berliner Arbeiten«,18 die den beiden Perls gut bekannt waren, die Begriffe »Bedürfnis« und »Interesse« als Synonym für den persönlichen Hintergrund, der das Feld organisiert. Den Begriff »Hintergrund« behalten sie sich meist für die Umwelt vor, die durch ihren Aufforderungscharakter (»Valenz«) dem individuellen Interesse entgegenkommt, dieses variiert und sich für den Wahrnehmenden in Figur und Grund scheidet. Die Bedeutung einer Sache oder eines Ereignisses wechselt mit dem Kontext. Fritz Perls macht dies an den unterschiedlichen Sichtweisen eines Kornfeldes durch einen Bauern, Piloten, Maler usw. deutlich (vgl. a. a. O., 42 f.). Dies ist sicher inspiriert durch Kurt Lewins »Kriegslandschaft« von 1917. Wie gesagt bleibt Perls in seiner Wortwahl meist dabei, den persönlichen Hintergrund mit »Interesse«, »Bedürfnis« oder »Bedeutung« zu benennen. Die Ansicht von Gordon Wheeler (1993), F. Perls würde in seinem Ansatz den persönlichen Hintergrund nicht berücksichtigen, stimmt weder sachlich noch in Bezug auf die Wortwahl. Perls bezeichnet beispielsweise mit Bezug auf Freud das »Vorbewusste« als den »Hintergrund«, aus dem die Figur hervortritt (vgl. F. Perls 1980, 92) und schreibt in seinem letzten Buch:

Unsere Geschichte ist der Hintergrund unserer Existenz; sie ist nicht eine Anhäufung von Fakten, sondern das Protokoll darüber, wie wir zu dem wurden, was wir sind. Nur wenn die Störungen im Hintergrund, die dem Support unseres gegenwärtigen Lebens entgegenwirken, in den Vordergrund treten, damit sie behandelt werden können, ist es möglich, dass sie sich von Defiziten (unvollständigen Gestalten) zu Funktionen des Supports verwandeln. (F. Perls 1979, 76)

In seiner Kritik an der »Figurfixiertheit« der Gestalttherapie hat Wheeler Lore Perls im positiven wie im negativen Sinne ausgelassen, so sind ihm ihre beiden exemplarischen Fallbeschreibungen aus dem Jahr 1956 entgangen. Obwohl es Lore Perls darum geht, das auf die aktuelle Situation bezogene Neue des Gestaltansatzes darzustellen, wird deutlich, dass sie nicht nur das augenblickliche Kontaktverhalten der Klienten und ihren Körperausdruck berücksichtigt, sondern auch deren soziale Lebenssituation und die jeweilige Familiengeschichte als Hintergrund mit einbezieht (vgl. L. Perls 1989, 61 f.).

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für Perls und Goodman das »Kontext-Prinzip« (PHG 1951/1991, 194) bzw. die »kontextuelle Methode« (a. a. O., 26) die »Anwendung des Gestaltansatzes darstellt« (a. a. O.). Diese Methode, die beim folgenden Zitat auf den Umgang mit anderen Theorien und Auffassungen gemünzt ist und auch für die Therapie gilt, soll eine Reorganisation bzw. Neukonfiguration des Feldes bewirken:

Wir weisen nach, dass der Betrachter innerhalb seiner Erfahrungsbedingungen diese Überzeugung haben muss, und dann ermöglichen wir, durch spielerische Bewusstmachung der einschränkenden Bedingungen, die Entstehung eines besseren Urteils (in ihm und in uns). (a. a. O., 27)

Für die Therapie, die Gestaltanalyse, heißt das:

Jeder Konflikt ist wesentlich ein Konflikt im Grund des Handelns, ein Konflikt von Bedürfnissen, Wünschen, Faszinationen, Selbstbildern und Zielhalluzinationen; … Ein starker Konflikt im Vordergrund ist ein Zeichen dafür, dass der echte Konflikt im Hintergrund entfremdet und verhüllt ist, wie bei zwanghaft er Bedenklichkeit. (Verhüllt sein könnte der Wunsch, überhaupt nichts zu bekommen oder in zwei Hälften gerissen zu werden.) (…) Die einzige Therapiemethode, die das Selbst stärken kann, ist daher, auf der Verbindung der schwachen Vordergrund-Gestalt (zum Beispiel jemandes Selbstbild) mit ihrem Grund zu beharren, damit der Grund stärker ins Gewahrsein tritt. (a. a. O., 209 f.)

Von einer »Figurfixiertheit« im theoretischen Konzept der Gestalttherapie kann meiner Ansicht nach also nicht die Rede sein. Dass die Gestalttherapie den sozialen, gesellschaftlichen oder ökologischen Hintergrund nicht berücksichtigen würde, kann niemand behaupten, der das Leben der Gründer kennt und die wenigen Grundlagenwerke im jeweiligen historischen Kontext gelesen hat.

IV. Denken, Sprache und Freie Assoziation

Die Behauptung, Fritz Perls hätte es an Wertschätzung für die Phänomene Denken und Sprache fehlen lassen, verweist meines Erachtens ebenfalls auf ungenügende Kenntnisse oder auch auf Unkenntnis des gestalttherapeutischen Hintergrundes bei den jeweiligen Kritikern. Wie tief die Gestalttherapie in der Tradition der europäischen Philosophie, vor allem der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der Frühromantik (v. a. Schelling) sowie der Lebensphilosophie von Nietzsche und Bergson steht, zeigt sich gerade an diesem Punkt. Die ursprüngliche Intention der Lebensphilosophie (in Fortsetzung der Naturphilosophie) war die Verschmelzung von Leben und Bewusstsein angesichts der zivilisatorischen Spaltung von Leib und Geist, die als Unbehagen in der Kultur wahrgenommen wurde. Perls geht es um den Versuch, diese Spaltung zu heilen. Es geht ihm, mit einem Begriff von Henry Bergson, um »Intuition (Harmonie von Denken und Sein)« (F. Perls 1942/1991, 228). Er bespricht in seinem ersten Buch, in dem die gemeinsame Arbeit des Ehepaares Perls steckt, unterschiedliche Aspekte des Denkens, nimmt auf Freuds Auffassung vom Denken als energiesparendem Probehandeln und Goldsteins Konzept des kategorialen Denkens Bezug (a. a. O., 28) sowie auf die Arbeit des Semantikers Alfred Korzybski, in dessen Zeitschrift »E.T.C.: Review of General Semantics« F. Perls und der Literaturwissenschaftler Goodman in Amerika Artikel veröffentlicht haben (vgl. Petzold 1984, 19 f.). Wogegen sich Perls richtet, ist die Trennung der Sprache von der Gesamtpersönlichkeit, die Herausbildung einer isolierten Sprachpersönlichkeit, die den Kontakt zu ihrem tieferen Wesen verloren hat, aus Abwehr intellektualisiert, leere Worthülsen von sich gibt und »mind fucking« betreibt, wie er das später nannte.

Für Perls ist »Intellekt immer an Wörter geknüpft – Intelligenz nicht!« (F. Perls 1942/1991, 228). Die Kraft des Wortes, die »Kraft die im ›Logos‹ eines jeden Wortes verborgen ist« (a. a. O., 229) soll durchgekaut, geschmeckt und erlebt werden. Zu diesem Zweck schlägt er Übungen vor, auch »inneres Schweigen«, um überhaupt erst einmal die Flut der sich überstürzenden Gedanken und Wörter wahrzunehmen, das zwanghafte »innere Geplapper«. Es geht um die »Neuorientierung des Verstandes« (a. a. O., 228) und die »Reorganisation des Denkens« (a. a. O., 229) und um ein therapeutisches Vorgehen, das dem Klienten helfen soll, wieder zu Sinnen zu kommen, statt nur im Pseudokontakt mit seinen Projektionen (Übertragung, Maya usw.) zu sein. Es gilt, mit der ureigenen subjektiven Realität in Kontakt zu kommen und sinnliche Vernunft zu entwickeln, statt wortgebundenen Intellekt.19 So kommt der Mensch »wieder zu Sinnen, indem er seine Vernunft anwendet« (a. a. O., 257) und er kommt vielleicht in Kontakt mit jener existenziellen Schicht hinter dem Schleier der Worte und Begriffe, die Bergson als Intuition bezeichnet hat und die Perls das »tiefste Wissen unseres Daseins« nennt (a. a. O., 227).

In »Gestalt-Therapie« (Kap. 7. »Verbalisieren und Poesie«) setzen sich die beiden Perls’ und Goodman noch einmal intensiv mit dem Phänomen Sprache auseinander. Für mein Anliegen ist wichtig, dass hier davon ausgegangen wird, dass sich »in unserer Zivilisation als ganzer eine symbolische Kultur herausgebildet hat, die ohne Kontakt oder Affekt, von animalischen Befriedigungen und spontanem sozialen Erfinden isoliert ist« (Perls et al. 1951/1991, 111). Entsprechend bildet sich im einzelnen Menschen eine »Verbal«-Persönlichkeit heraus, eine Sprechweise ohne Gefühl und Affekt, fad, monoton, stereotypen Inhalts, unbeweglich in der rhetorischen Haltung, von mechanischer Syntax, bedeutungslos« (a. a. O.). Gutes Sprechen, im Sinne von Perls und Goodman, ist

 

voll der leidenschaftlichen Töne aus der Kindersprache, seine Wörter sind komplexe funktionale Strukturen wie die Wörter der Primitiven, seine Syntax ist poetisch (a. a. O., 122). (…) Sprechen ist guter Kontakt, wenn es seine Energie aus den drei grammatischen Personen schöpft und sie in ein Verhältnis bringt: Ich, Du und Es, der Sprecher, der Angesprochene und das worüber man redet – sofern ein Bedürfnis besteht, sich etwas mitzuteilen. (a. a. O., 112)

In einer Gestalttherapie wird aufmerksam mit Sprache umgegangen und beispielsweise dem Klienten vorgeschlagen, es einmal mit dem integrativen und verantwortlichen »ich« statt dem entfremdeten »man« zu versuchen. Lore Perls (1989) hat sich in ihrem Artikel »Support« (a. a. O., 57 f.) eingehend mit Sprachformen (Muttersprache, Dialekt etc.) und Sprache als »sozialer Kontaktfunktion« und wichtiger »Stützfunktion« auseinandergesetzt.