Za darmo

Severins Gang in die Finsternis

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

VI

Unvermutet war es plötzlich Winter geworden. Als Severin eines Morgens aus dem Hause trat, lag der Schnee auf den Dächern und Steigen der Stadt und wirbelte in der Luft, in der noch die letzte Dämmerung der Nacht lagerte. Es war acht Uhr und die Straßengeschäfte öffneten laut und umständlich ihre Laden. Der Wind blies eine leichte Kälte in die verschneiten Gassen, und Severin fror ein wenig in dem dünnen Überrocke. Er war überrascht und ging langsam auf einem kleinen Umwege zur Kanzlei. Zum ersten Male seit Jahren kam es ihm wieder zu Bewußtsein, daß der Schnee einen eigenen Geruch habe, wie Äpfel, die lange Zeit zwischen den Fenstern gelegen sind. Schon als Kind besaß er eine empfindsame Witterung für das Aroma, das einem jeden Ding und einer jeden Zeit anhaftete. Er dachte an die Tage des Schulanfangs, wenn er nach den Ferien zum ersten Male wieder das Klassenzimmer betrat und ihm der feuchte Duft der Kreide entgegenschlug. Er entsann sich des Behagens, wenn er nach langen und schweren Frösten in der Frühe das Tauwetter durch die Ritzen der Türe spürte, wenn er dann draußen von dem Eiswasser kostete, das in glitzernden Strähnen von den Bäumen und Gesimsen niederrann und das in der Sonne ganz anders und milder schmeckte als im Schatten. Seine Kindheit war erfüllt mit dieser Freude an vielerlei Gerüchen, die ihm wohltaten oder ihn bedrückten, an denen er Folge und Wiederkehr erkannte und die die Jahreszeiten begleiteten. Nun war er froh, daß der Herbst vorbei und der Winter da war. Ihm war es, als ob sich damit etwas Neues ereignet habe, etwas, das ihm schon lange gefehlt hatte.

Im Bureau saß er still, den Kopf hinter den hohen Aufsatz des Schreibtisches gebeugt und sah hinter den schmutzigen Fensterscheiben die weißen Sterne in den Hof fallen. Auf dem Wege war er an den Buden der Nikoloverkäufer vorbeigegangen. Die geschnitzten Teufel streckten die roten Flanellzungen nach ihm aus und an den Straßenecken waren ganze Buschen von goldenen Ruten aufgestapelt, mit schreiend bunten Papierblumen beklebt. Auf grünlackierten Brettchen standen die Heiligen in ihren steifen Gewändern und hatten einen Bart aus Watte.

Am Abende ging er auf den Altstädter Ring, wo der Jahrmarkt war. Zwischen Pfefferkuchenreitern, gelben Trompeten und farbigen Kindertrommeln drängten sich die Menschen und die Mädchen schoben sich paarweise durch den Schwarm. Die Windflammen taumelten über den ausgebreiteten Süßigkeiten und beleuchteten flatternd den roten Turban der Männer, die den türkischen Honig feilboten. Vor dem niedrigen Zelte eines Panoptikums lehnte Zdenka und starrte den Mohren an, der an der Kasse saß und die Eintrittsgelder sammelte. Es war lange her, seitdem sie Severin zum letzten Male gesehn. Als er jetzt plötzlich ihren Arm berührte, schrie sie vor Schrecken.

Du – du – stammelte sie und ihre schöne, vom Weinen entstellte Stimme schwankte. Dann aber nahm sie seine Hände und führte ihn abseits aus dem Trubel in eine stille Gasse. Beim Licht einer Straßenlaterne sah sie in sein Gesicht und da bemerkte auch er, wie schmal und elend das ihre geworden war. Ihre Nase war mager und spitz wie bei einer Kranken und ihr Mund war dünn. Nur die Süßigkeit war noch da, in den verhärmten Winkeln und Schatten ihrer Augen, die sie zu ihm mit einem Blicke aufschlug, den er an ihr nicht kannte. Sie wollte reden, aber sie konnte es nicht. Und wie sie nun vor ihm dastand, wirr und hilflos, von der Liebe betäubt, da regte sich in Severin neben dem Mitleid mit Zdenka eine selbstgefällige Freude an ihrem Schmerz. Er verglich sie in der Erinnerung mit dem Mädchen aus dem Theaterstück, an das er immer denken mußte, wenn er mit Zdenka beisammen war. Er dachte bei sich, daß nun das Stück zu Ende sei und der Vorhang fallen müsse. Und etwas von der alten Zärtlichkeit des vergangenen Sommers war in der Bewegung, mit der er ihre Wange streichelte und über das Haar hinstrich, das ihr in die Stirne wollte. Da fiel sie ihm mit einem wehen Ausruf vor die Füße und faßte mit den Händen seine Knie.

Severin –

Ein paar Leute, die vom Jahrmarkt nach Hause gingen, blieben in der Ferne stehen und sahen auf das Mädchen hin, das weinend auf der Erde kauerte. Severin machte ihre Hände von seinen Knien los und ging davon, ohne sich umzukehren.

* * *

Im Zimmer des jungen Nikolaus war in die Wand ein kleines, mit Edelsteinen und Intarsien ausgelegtes Schränkchen eingelassen. Als Severin eines Tages nach dem Inhalt fragte, nahm Nikolaus einen dünnen Schlüssel aus der Tasche und öffnete es. Drin lagen sorgsam verpackt und übereinandergeschichtet rotkugelige Opiumpillen, Giftstaub in winzigen Glasröhren und indischer Tempelhaschisch in flachen Apothekerschachteln verwahrt.

Eine Liebhabersammlung – sagte Nikolaus.

Severin stand lange, von einer jähen Erregung gebannt, vor dem offenen Schranke. Seine Augen tasteten suchend in den zierlichen Fächern umher, in denen die Geheimnisse fremder Kulturen aufgespeichert waren, Stoffe, die einem Träume und Visionen brachten, die schwüle Räusche in das Blut träufelten, Gifte, die töten konnten. Ein liebkosender Wohlgeruch stieg ihm daraus entgegen. Nikolaus sah lächelnd die Spannung in seinem Gesichte und holte aus der Ecke ein blaues Fläschchen mit gläsernem Stöpsel hervor.

Das ist unfehlbar – meinte er – Aber Sie müssen vorsichtig sein –

Severin sah die trockenen Brocken einer tonigen Masse hinter dem geschliffenen Halse.

Was ist das? – fragte er.

Ein chinesisches Gift.

Und Sie wollen mir das schenken?

Nikolaus drückte die Türe des Schrankes langsam ins Schloß.

Ich habe mehr von dem Zeug – Und er drehte den Schlüssel um.

* * *

Als Severin die Treppe hinunterstieg, stieß er mit Karla zusammen. Sie hatte ihn tagelang vergebens erwartet und wollte eben zu Nikolaus, wo sie ihn zu finden dachte. Ihr schwarzes Samtkleid schleifte über die Stufen und ein paar Augenblicke stand sie hochaufgerichtet vor ihm und wandte ihm ihr regungsloses Gesicht zu, das weiß war wie vor einer Entscheidung.

Wo bist du? –

Severin hob seine Augen zu den ihren, die dunkel und abwesend über ihn hingingen und in denen er die Angst las, ihn zu verlieren. Er prüfte ihre hohe, königliche Gestalt, die wie eine fremde, sehnsüchtige Blume aus den Treppensteinen zu ihm emporwuchs und sah, daß sie schön war in dieser Sekunde. Auf ihren Lippen meinte er die Male der Küsse zu schauen, die er noch vor kurzem getrunken hatte. Aber es war ihm wie ein lange gewesenes, längst abgetanes Ereignis, das seine Seele nicht mehr erreichte. Mühsam, wie man im Schlafe die Worte sucht und kann sich nicht an sie besinnen, sagte er zu ihr:

Geh nach Hause, Karla – Ich liebe dich nicht mehr.

Ihre Hand löste sich vom Rande des Geländers los. Ein Windstoß kam durch das offene Tor des Hauses und machte sie beide frösteln.

Geh nach Hause – sagte er noch einmal und ging an ihr vorüber, wie er von Zdenka fortgegangen war, ohne den Kopf zu wenden.

In seinem Zimmer blieb Severin eine Weile im Finstern. Er fühlte nach dem Fläschchen in seiner Tasche, das die Wärme des Körpers an sich sog und merkte, wie kalt seine Hände waren. Dann zündete er die Kerze an.

Auf seinem Tische lag ein Brief, auf dessen Umschlag die schiefe und lüsterne Hand eines Weibes seinen Namen geschrieben hatte. Ein Bote mußte ihn gebracht haben, während er bei Nikolaus weilte. Er öffnete ihn und sah nach der Unterschrift. Und ungelesen hielt er den Brief der blonden Ruschena über die Flamme.

VII

Seitdem Severin das Pulver aus dem Giftschranke seines Freundes an sich genommen hatte, gewann eine unbezwingliche Unruhe über ihn Gewalt. Er war jetzt wieder ganz allein und verkehrte mit niemandem mehr. Er ging nicht zu Nikolaus, und mit dem alten Lazarus war er schon seit Wochen nicht mehr beisammen gewesen. Zum letzten Male hatte er ihn an jenem Tage gesehen, wo er den Buchhändler auf der Straße getroffen und mit ihm in das Atelier des Doktor Konrad gegangen war. Von Susanna hörte er nichts mehr. Seit dem Abende im Herbst, wo sie ihn von einer plötzlichen Flamme entlodert, in ihr Zimmer geführt, war er ohne Nachricht von ihr. Er hielt sich mit Absicht von dem Laden ihres Vaters fern, der spielerischen Vorliebe gemäß, die er für halbe und unausgeglichene Ereignisse besaß. Er fürchtete sich, die Erinnerung an die Jüdin durch eine gewöhnliche Folge zu verflachen und ihr den Reiz zu nehmen. Ihm drängten sich die unklaren Wünsche eines Genießers auf, der es zuwege brachte, ein Zuschauer des eigenen Lebens zu sein. Es kam ihm gelegen, daß Susanna keinen Versuch machte, zu ihm zu gelangen; mit Karla und Zdenka hatte er abgeschlossen. Eine zitternde Sehnsucht bohrte beständig in seinem verworrenen Herzen. Wenn er jetzt am Nachmittage aus der Kanzlei nach Hause kam, legte er sich wieder wie früher zu einem stumpfen und stundenlangen Schlafe nieder. In der Nacht lag er dann wach in seinem Bette und sah mit offenen Augen in die Dunkelheit. Er zählte die Stundenschläge der Uhr hinter der Mauer der Nachbarswohnung und wehrte sich gegen die Angst, die ihn befiel. Am Morgen ging er mit geränderten Lidern in sein Bureau.

Es kam auch vor, daß er mitten in der Nacht aufstand und sich ankleiden mußte. Es litt ihn nicht länger in dem zerwühlten Bett, in dem niedrigen und langen Zimmer, aus dem die Finsternis sich nur zögernd entfernte, wo es noch dunkel war, während draußen schon die Frühstreifen über den Himmel gingen. Oft schloß er in der zweiten oder dritten Stunde nach Mitternacht die Türe seiner Wohnung hinter sich zu und tappte die schwarzen Treppen hinunter zur Straße. Die Stadt, die er sonst tagsüber oder in den Abendstunden kreuz und quer durchstreift hatte, erhielt eine ungekannte und scheue Macht über ihn. Sie zerrte ihn aus schreckhaften Träumen in ihren Schoß. Dann ging er frierend, die verkohlte Zigarette zwischen den Lippen, an den schlafenden Häusern vorbei, sah in die späten Lichter einsamer Fenster hinein und horchte auf den Gesang der heimkehrenden Schwärmer und auf den schweren Schritt der Schutzleute. Früher war er auch häufig mit weinheißen Augen und ermattet vom Lärm in den Kneipen in den Nachtstunden nach Hause gegangen. Nun merkte er erst den Unterschied. Seine Sinne waren hell und wachsam; er sah, wie die Nacht alle Dinge veränderte, daß sie ein zweites und anderes Leben als am Tage lebten. Er sah, wie sie aus nüchternen und kahlen Plätzen melancholische Landschaften machte, aus engen Gassen feuchtwandige Burgverließe. Seine Unrast trieb ihn bis zu der äußersten Grenze der Vorstädte, wo die Zinskasernen in endloser Reihe hintereinander standen, in das fünfte Viertel, in dessen langweilig modernen Straßen man sich bei Lichte verirrte. Hie und da krochen noch ein paar Trümmer der alten Judenstadt aus dem Dunkel hervor, das Kloster der barmherzigen Brüder schob seinen ungeheuern Rumpf gegen die nachrückenden Neubauten, an denen noch die Gerüste hingen. Am Ufer des Frantischek brannten nur ein paar vereinzelte Lampen, und das Wasser des Flusses schlug schwer und gleichmäßig gegen die Brücke.

 

In den Nachtlokalen spielten die Musikanten auf den heiseren Violinen. Severin blieb vor den trüben Scheiben stehen und spähte zwischen den Fenstervorhängen ins Innere. Er hörte die Billardkugeln auf den grünen Brettern aneinanderschlagen und das Klappern des Büfettgeschirres. Wenn sich die Türe öffnete, kam der fade Geruch der Frühsuppe auf die Straße. Der Winter war kalt, und Severin drückte die Hände mit den schmerzenden Gelenken in die Tasche. Zuweilen ging er auch zu der Musik hinein. Dann ließ er sich einen brennenden Punsch bringen und hielt die Finger über die blaue Flamme. Der abgestandene Zigarrenrauch beizte ihm die Augen, aber die Wärme tat ihm wohl.

Es waren zumeist immer dieselben Lokale, in denen sich Severin vor der Kälte versteckte, der »Weiße Kranz« auf dem Obstmarkte, wo die Gäste den Kopf auf die überschlagenen Arme legten und bei den Tischen schliefen, die »Falte« in der Kleinen Karlsgasse, wo er oft stundenlang der einzige Besucher blieb, oder das russische Kaffeehaus an der Grenze zwischen Prag und Weinberge, wo die südslawischen Studenten verkehrten. Er kannte das alles noch von früher her, als er in den Nächten den Abenteuern nachgegangen war. Jetzt saß er fremd und erwartungslos in dieser Welt, die ihm unwirklich und automatenhaft erschien, in den Spelunken, wo die schäbigen Reste der Lustigkeit an der eigenen Stumpfheit erloschen, in den Kaffeesalons, wo die Bänke mit rotem Samt gepolstert waren und wo die Gäste wie Kellnerburschen und die Kellner wie Lebemänner aussahen. Er mußte über sich selber lächeln, daß er hier einmal den Hunger der Seele zu stillen gedachte. Jahre waren seitdem vergangen und es hatte sich nichts gewandelt in ihm. Nur bitterer, eigensinniger und verstockter war er inzwischen geworden. Seine übernächtige Erregung hatte nichts Gemeinsames mit dem lässigen Taumel um ihn her, und die Starrheit, die ihn lähmte, war eine andere als die auf den Gesichtern der Kokotten, die sich an den Marmortischchen räkelten oder zu ihm kamen und um ein Glas Tee zu betteln begannen. Er wußte es nicht, wie lange er sich nun schon in den Nächten in der Stadt herumtrieb und in den Wirtsstuben lungerte, die bis zum Morgen geöffnet hielten. Aber er fühlte, daß er im Kreise um einen Punkt herumging wie ein angepflocktes Tier an der Kette. Mit einem ohnmächtigen Grauen tastete er über sein Kleid, wo er das Giftfläschchen aufbewahrte. Als einmal die Winterfrühe nach einer durchwachten Nacht in den Straßen dämmerte, ging er zu Nikolaus.

Es war noch sehr zeitlich am Morgen, als die Türklingel hastig und verdrossen durch den Flurgang tönte. Nikolaus lag noch zu Bett und empfing den Besucher mit unverhohlenem Staunen. Aber als er in das verfallene, von Schatten durchfurchte Gesicht Severins blickte, gab er ihm die Hand.

Nikolaus schlief in einem Boudoir. Sein erlesener Geschmack hatte die hundert Dinge einer künstlerischen Kultur in dem Raume zusammengetragen, der eher dem üppigen Nest einer Kurtisane als dem Schlafzimmer eines Junggesellen glich. Eine silberne Ampel hing von der Decke herab, in der das Licht hinter honigfarbenen Gläsern glomm. Auf den Stühlen und den niedrigen Tischchen leuchteten die schweren Farben der Seide und des Brokat. Statuetten aus dunkler Bronze, Sandelholzbüchsen und japanische Lackmalereien standen neben zierlichen Gläsern und Schatullen, neben Meßkelchen und asiatischen Nippes, und ein großer, vom Alter geschwärzter Leuchter hielt sieben dicke und feierliche Kerzen in seinen Armen. Durch das gotische Muster des Vorhangs fiel der erste und trostlose Schimmer des Wintertages. Severins Augen gingen durch das Gemach, über die matten Linien der Tapete zu der Stelle, wo Nikolaus halbaufgerichtet in seinem goldenen Bette saß. Es war ein Ausdruck in ihnen, als ob sie sich nicht zurechtfinden könnten in der Umgebung, in der schwülen und gediegenen Schönheit, die sie schmückte. Es war ein Schrei, mit dem er die Hand erfaßte, die Nikolaus ihm bot. Alle Not, alle Gequältheit offenbarte sich in seiner Stimme. Er lag vor dem Bette des Jünglings und hatte den Kopf in die Kissen gewühlt.

Nikolaus – schrie er – wie war das, – – als Sie damals Ihren Freund getötet hatten – – – – – –

Nikolaus sah zu ihm nieder, wie sein Körper in einem namenlosen Krampf sich streckte. Ein Schrecken stieg mit dem Blute in sein Gesicht. Er hob den Arm und hielt ihn in die Höhe und seine Finger spreizten sich. Es war eine große, mitleidige Trauer, mit der er immer von neuem den Namen des andern rief:

Severin! Severin!

VIII

Doktor Konrad war tot. Nach einer laut verlärmten Nacht, die seine Gäste zum letzten Male bei ihm vereinigte, hatte er sich eine Kugel in den Kopf geschossen. Mit der ungefähren Sinnlosigkeit, die in seinem Leben gewesen, war auch das Sterben zu ihm gekommen. Er lag auf dem Boden neben dem türkischen Sofa zwischen zerbrochenen Gläsern und verschütteter Zigarrenasche, die noch feucht vom vergossenen Wein war. Aus einer kleinen Schläfenwunde rann das Blut auf die Parketten. In dieser Nacht hatte er den letzten Rest seines Vermögens ausgegeben. Als die Gäste gegangen waren, schoß er sich tot.

Es war eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Trauernden, die ihm die letzte Ehre gab. Junge Akademiker in abgeschabten Überziehern, die frostroten Hände in den Taschen vergraben. Sie blickten mit aufrichtiger Teilnahme auf den Sarg vor ihnen. Der, den sie heute zum Grabe geleiteten, hatte immer eine offene Hand für sie gehabt. Bummler mit Künstlerhüten und verwahrlosten Gesichtern. Dämchen mit enganliegenden Röcken, die beim Gehen die Beine sehen ließen. Elegante Frauen mit Pelz und ungeheuern Müffen, und Herren mit sorgfältig gebügelten Zylinderhüten, die sich kokett in der modischen Taille ihrer Winterröcke wiegten. Die blonde Ruschena ging hinter dem Leichenwagen. Severin war auf sie zugetreten und drückte ihr schweigend die Hand. Sie antwortete mit einem bösen und flackernden Blick, aber sie sagte nichts. Ihr glattes, ein wenig zu sehr gepudertes Gesicht ließ nichts davon erraten, daß sie dem Toten mehr gewesen, als die übrigen. Severin forschte in ihren Augen, aber sie wandte den Kopf zur Seite.

Neben einem großen Menschen mit schmalen Lippen ging Karla. Ihre hohe Figur war womöglich noch schlanker geworden und sie hielt sich ein wenig vornüber geneigt. Der weite Mantel schlotterte um ihren Körper und sie ging mit unsichern und schleppenden Schritten, ohne die hochmütige Anmut, die Severin an ihr kannte. Ihr Gesicht war alt und straff geworden in den wenigen Wochen, seit er ihr auf der Treppe begegnet war. Und er konnte es nicht unterscheiden, ob die Farbe ihrer Wangen von der Kälte oder der Schminke herrührte. Vor dem Museum in der Höhe des Wenzelsplatzes stockte der Zug. Der Priester nahm die Einsegnung vor und die Schar der Teilnehmer verlief sich. Nur die nächsten Bekannten folgten dem Sargwagen im Fiaker auf den Friedhof.

Auch Severin fuhr mit den andern. Er wischte mit dem Handschuh den Hauch von den Fenstern, der an den Rändern der Scheibe sich langsam zu Eis zu verkrusten begann. Draußen sah er die Wolschaner Straße mit ihrem trüben und einförmigen Panorama. Seit seiner Kindheit war er bei keinem Begräbnis gewesen. Er erinnerte sich, wie damals der Wagen, in dem er mit seinen Eltern saß, in einen Trupp tschechischer Demonstranten geraten war. Sie hatten auf dem Kirchhofe einen ihrer Märtyrer bestattet und kehrten nun nach Hause. Ein von tausend Stimmen gesungenes Kampflied kam drohend mit ihnen des Weges, daß die Pferde sich bäumten und zitternd stehen blieben. Severin dachte an die wunderschöne, mit Andacht und Grausen vermischte Angst, die ihn damals umklammert hatte und horchte auf das Rollen der Räder.

Es war beinahe schon dunkel, als er draußen vor dem Tore des Friedhofs ausstieg. Er stand neben Karla, als die gefrorene Erde in die Grube rollte und polternd auf den Sarg aufschlug. Erst jetzt in der Nähe bemerkte er, wie verbraucht und gelb ihr Gesicht aussah. Die Schminke lag in kreisrunden Flecken darauf und ihre schöne Stirne war welk und traurig. Und hier auf dem Friedhofe neben dem offenen Grabe erkannte er ihr Geschick; wie sie aus einem Schmerz in den nächsten und aus einer Liebe in die andere geriet. Sie zuckte zusammen, als er mit den Augen nach dem großen Menschen wies, neben dem sie heute unter den Leuten gegangen war. Leise und weich, wie man mit einem Kinde redet, fragte er sie:

Der da ists? –

Ja – sagte sie einfach und nickte nur.

* * *

Severin kehrte zu Fuße in die Stadt zurück. Er hatte den Kutscher entlohnt und verließ als Letzter den Friedhof, als die übrigen alle schon gegangen waren. Das bleiche Violett des Spätnachmittages lagerte über den Feldern und aus der Ferne kam das gedämpfte Brausen eines Eisenbahnzuges. Hie und da stand ein Baum am Rande der Straße und streckte die nackten Äste gegen den trüben Himmel. Der aufsteigende Abend spann langgedehnte Schatten und aus dem Rübenacker stieg der Nebel auf. Die Spatzen flogen über den Weg und flatterten wie große und schwarze Vögel in der Dämmerung. Die elektrische Straßenbahn fuhr mit gelben Augen vorüber und in der Stadt entzündeten sich die Lichter. Severin dachte an Konrads Tod. Ein lahmer und lächerlicher Gedanke hockte in seinem Gehirn, der ihn nicht losließ und dem er nachsinnen mußte. Er stellte sich das Antlitz des Mannes vor, den sie drüben gerade begraben hatten, wie es unter dem Sargdeckel in der Erde lag. Ein Schauer strich leise über seine Haut, fröstelnd, wie die Wolken am Horizonte. Er prüfte den Pulsschlag in seinen Handgelenken; aber er hatte gar keine Furcht. In der Weite rollten sich weiße Gestalten zusammen, aber er wußte, es war nur der Winterdunst. Die ersten Häuser der Weinberge lösten sich aus dem Grau. Er sah noch einmal den Weg zurück. Die Luft hing schlaff und reglos vom Himmel und der Frost hatte zugenommen. Aus den Schaufenstern der Kaufmannsgeschäfte fiel schon der Lampenschein auf den Gehsteig der Vorstadtstraßen.

Vor der Tür eines Pferdeschlächters blieb Severin stehen. Ein warmer Blutgeruch schlug ihm entgegen und der Ekel schüttelte ihn. Zwei Männer mit aufgestreiften Rockärmeln trugen eine Schüssel vorbei, aus der ein feuchter Dampf aufstieg und sich widerlich mit der Kälte vermengte. Severin knöpfte bedächtig seine Handschuhe zu, bevor er die Finger auf den schmutzigen Türgriff legte. Ein breitschultriger Mann mit roten Haaren sah ihn mißtrauisch an, als er für ein paar Kreuzer ein Stück Fleisch verlangte. In Zeitungspapier eingeschlagen trug er ein weiches und klebriges Bündel aus dem Laden. Beim Licht einer Straßenlaterne löste er vorsichtig die Schnur und öffnete es. Er nahm das Giftfläschchen aus der Tasche seines Rockes und schüttete den Inhalt auf das Fleisch; aufmerksam sah er zu, wie der feine und trockene Staub zwischen den blutigen Fasern glänzte.

* * *

Susanna saß neben dem Ofen und hörte dem Feuer zu, als Severin eintrat. Sie hielt die Hand vor die Augen, als ob sie schliefe und schaute zwischen den Fingern nach der Türe. Der alte Lazarus war ausgegangen und der Platz hinter dem Pulte war leer.

Guten Abend, Susanna – sagte Severin.

Susanna hob den Kopf in einem langen und verwunderten Schrecken. Ihre Schultern zitterten und die Falte zwischen ihren Brauen wurde tiefer und dunkler, als sie ihm den Gruß zurückgab. Und dann fragte sie mit einem besonderen Klang in der Stimme:

Woher kommst du, Severin?

Severin antwortete nicht. Unschlüssig stand er da und ein Gefühl durchrieselte ihn, das er kannte und das ihm schon lange entschwunden war. Als Student war es manchmal über ihn gekommen, wenn er zu Hause in alten englischen Romanen las und die Lampe summte. Dann war ihm zumute, als ob das Zimmer, in dem er wohnte, ein Teil der Erzählung sei, in die er sich eben vertiefte. Auf der Wand gegenüber huschten die Schattenrisse der Personen vorbei, deren Schicksale ihn beschäftigten. Und in dem trüben Lichte der Stube erkannte er ihre Gebärden.

 

Der Doktor Konrad ist tot – sagte er endlich und setzte sich in den Lehnstuhl mit den ledernen Armpolstern, der neben dem Pulte stand. Er sah an Susanna vorbei auf das Bild, das neben ihr in der Ecke hing und das er früher niemals bemerkt hatte. Es war eine Landschaft mit einem absonderlichen und traumhaften Baum, unter dem ein paar Menschen im Halbdunkel gingen. Ein Lufthauch streifte seine Wange; der Rabe flog hinter ihm auf und setzte sich auf seine Knie. Severin beugte sich über das Tier. Langsam zog er das vergiftete Fleisch aus der Tasche.

Das ist der Tod – sagte er und hielt es ihm vor den Schnabel. Der Vogel schnappte zu und floh damit in sein Versteck zurück.

Severin sah nach Susanna hinüber. Ihre schweren Zöpfe hatten sich gelockert und waren in ihren Schoß geglitten. Ihr Gesicht war undurchdringlich und fremd und ihr Mund war fest geschlossen. Es war ganz still und man hörte draußen die Schritte der Leute auf dem Pflaster, die an dem Laden vorübergingen. Über das Gemälde neben dem glühenden Ofen zuckten die Reflexe und malten Figuren auf die Leinwand.

Severin suchte in seinem Gedächtnis. Der Baum auf dem Bilde kam ihm bekannt vor und er hatte ihn schon einmal irgendwo gesehn. Aber er konnte sich nicht entsinnen.

Ich will gehn – dachte er und stand auf.

Guten Abend, Susanna! – grüßte er wieder und nahm seinen Hut. Dann horchte er noch eine Weile in den Winkel hinein, wo der Rabe sich zum Fraße verkrochen hatte und sich gar nicht mehr regte.