Zweiundsiebzig

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Heute, Montag,
Bad Godesberg

Bepackt mit Taschen und Tüten vom Bäcker schob sich Detektivin Laura Peters durch den Vorgarten der Altbauvilla, vorbei an wuchernden Büschen, die die Zweige nach ihr ausstreckten und mit den Blättern sanft über ihr Gesicht fuhren. Unter ihren Armen klemmten Tageszeitungen und Zeitschriften, den Schlüssel hielt sie zwar vorsorglich schon in der Hand, trotzdem grenzte es an ein Zirkuskunststück, die Tür zu öffnen, ohne etwas fallenzulassen.

Aufatmend lächelte sie der jungen Assistentin, Gilda Lambi, zu, die im Vorraum an ihrem Arbeitsplatz saß und sie erwartungsvoll ansah.

„Guten Morgen.“

„Morgen Laura.“ Gilda sprang auf, strich die langen, braunen Haare zurück, lief um den Schreibtisch herum und nahm der Chefin die Tüten ab.

„Schoko-Croissants?“

„Natürlich. Und belegte Brötchen. Die vom Kiosk auf dem Busbahnhof.“

„Wunderbar. Das sind die Besten. Ich hole uns Teller und setze Kaffee auf. Gut?“

Laura nickte. „Perfekt.“

Gildas Familie stammte aus Süditalien. Als sie in der Detektei Peters angefangen hatte, hatte sie eine Napoletana mitgebracht. Eine Metall-Kaffeekanne, die auf die Herdplatte gestellt wird, um richtigen Kaffee zu machen, wie Gilda es nannte. Doch das bittere, starke Gebräu, das in kleinen Tassen serviert wurde, hatte Laura und Marek, den zweiten Detektiv, nicht dauerhaft überzeugen können. Sie liebten den Kaffee in großen Mengen und aus großen Bechern. Die italienische Variante war wunderbar, um nach einem opulenten Essen nicht in Tiefschlaf zu verfallen, aber zum Tagesgeschäft gehörte klassischer Büro-Kaffee. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie die junge Assistentin überzeugt hatten. Doch mittlerweile fragte sie schon gar nicht mehr, welche Art von Kaffee sie zubereiten sollte, sondern befüllte direkt die Maschine für den Filterkaffee.

Laura öffnete die Tür zu ihrem Büro und warf die Zeitungen auf den Tisch. Die Schlagzeilen hatten alle dasselbe Thema und waren der Grund, warum sie so viele Exemplare gekauft hatte: Es hatte einen Mord gegeben. Mitten in Bad Godesberg. Ein ganz junges Opfer. Ähnlich wie vor einem Jahr. Und fast genau an derselben Stelle, wo der andere Junge zu Tode geprügelt worden war. Nicht weit entfernt von der Detektei Peters.

Der Mord damals hatte hohe Wellen geschlagen, die Bürger hatten sich zu Mahnwachen und Demonstrationen gegen Gewalt zusammengefunden und selbst ausländische Fernsehsender hatten darüber berichtet. Jetzt gab es wieder einen toten Jungen. Das kleine Bad Godesberg, in dem auf engstem Raum die ganze Bandbreite sozialer Schichten und kultureller Gegensätze aufeinanderprallte, kam nicht zur Ruhe.

Laura ging zu den hohen Flügeltüren, die in den Garten hinaus führten, und öffnete sie. Sie betrat die Terrasse, legte den Kopf in den Nacken und fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Die Vögel zwitscherten und übertönten fast den Verkehrslärm. Was für ein schöner Tag. So friedlich und verheißungsvoll.

Es war unvorstellbar, dass ganz in der Nähe ein Junge getötet worden war.

Ein kalter Schauer lief ihr über die Haut, sie schlang die nackten Arme um sich. Trotz der Hitze, die bereits am frühen Morgen herrschte, war ihr innerlich kalt.

„Der Garten ist ein Urwald. Die Hausverwaltung muss irgendwann etwas dagegen unternehmen.“

Laura zuckte zusammen. Gilda war leise wie eine Katze neben sie getreten.

„Den Hausmeister kannst du vergessen. Der kommt nur, um Kaffee zu trinken, ein Schwätzchen zu halten und um dich Liebelein zu nennen. Wir müssten selbst Hand anlegen. Aber dazu haben wir keine Zeit.“

„Der Rosenbusch wuchert den halben Rasen zu. Bald wird alles so zugewachsen sein, dass wir wie zwei Dornröschen einschlafen und unsere Kunden sich nur noch mit dem Schwert Zugang verschaffen können.“

Laura lachte. „Zum Glück kommen sie durch den Vorgarten. Da ist der Weg noch relativ frei.“

„Könnte sich nicht die Anwältin von oben darum kümmern? Oder ist sie zu adelig dafür?“ Gilda deutete auf den Balkon über ihren Köpfen. „Hast du eigentlich schon jemals mit ihr gesprochen? Ich noch nie. Und gesehen habe ich sie auch nur ganz selten. Existiert die Kanzlei überhaupt noch?“

„Ich denke schon. Ich habe unsere Mitmieterin einmal getroffen, als ich bei den Godesberger Unternehmerinnen eingeladen war. Das ist schon etwas her, kurz nach dem ersten Fall. Sie wollten, dass ich einen Vortrag über das Erfolgsgeheimnis unserer Detektei halte. Ich habe über die Bedeutung von Teamchemie, offener Kommunikation und effektivem Delegieren als Schlüsselfaktoren gesprochen. Ehrlicherweise hätte ich wohl Zufall, Glück und Marek nennen müssen.“ Laura lachte. „Danach ist sie auf mich zugekommen und hat mich angesprochen.“

„Und? Wie ist sie so?“

Laura zuckte die Achseln. „Kaschmirpulli, Perlenkette, Siegelring. Selbstbewusst, Haare auf den Zähnen, aber ich fand sie sympathisch.“

„Verstehe, also keinen grünen Daumen. Wie du. Schade, dann bleibt es wohl an mir hängen. Vielleicht schaffe ich es am Wochenende, mich im Garten auszutoben. Ich rufe trotzdem den Hausmeister an, manchmal hat man Glück. Komm, der Kaffee ist fertig und bei der Hitze fängt die Schokolade in den Croissants an zu schmelzen.“

Laura folgte ihrer Assistentin ins Büro und überlegte, ob die knappen, ausgefransten Jeans-Shorts, das Tank-Top mit dem Logo einer Gamer-Mannschaft und die weißen Sneakers ein angemessenes Büro-Outfit waren. Sie entschied sich für ein eindeutiges Ja. Gildas lange, schlanke Beine waren glatt und gebräunt, sie wirkte korrekt angezogen, egal was sie trug.

Als hätte Gilda ihre Gedanken gelesen, drehte sie sich um und warf einen Blick auf Lauras Jeans. „Ist dir nicht zu warm?“

„Im Moment geht es. Und Shorts sind keine Option, ich werde leider nicht so schnell braun wie du. Fangen wir mit der Arbeit an. Was haben wir für Themen?“

„Zu den bestehenden Fällen ist einiges dazu gekommen. Meine Idee, Fake-Profiles in den sozialen Medien zu entlarven, ist wie eine Bombe eingeschlagen. Wir können uns vor Anfragen kaum retten. Es ist nicht zu glauben, wie viele Menschen sich im Internet ernsthaft verlieben, ohne den anderen jemals gesehen zu haben.“

„Gefälschte Profile?“ Laura ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, trank einen Schluck Kaffee und biss genüsslich in ein Croissant.

„Ja. Accounts von Frauen bei Facebook, Twitter oder irgendwelchen Dating-Plattformen mit tollen, sexy Fotos, die nicht der Wirklichkeit entsprechen.“

„Vermutlich steckt jemand dahinter, der nicht ganz so hübsch, schlank und jung ist?“

Gilda lachte. „Natürlich. Fast jeder benutzt Foto-Filter, um die Realität zu schönen. Aber es gibt Leute, die stehlen Bilder und nehmen, manchmal nicht nur optisch, die Identität einer anderen Person an. Als ich die Idee hatte, dass wir die wahren Menschen hinter den Accounts finden, war mir allerdings nicht bewusst, welche Dramatik damit verbunden ist. In einem Fall hat sich ein Pärchen über zwei Jahre geschrieben. Sie sind zu Seelenverwandten geworden, wollten heiraten und ihr Leben miteinander verbringen. Es kam jedoch nie zu einem realen Treffen. Oder auch nur zu einem Video-Anruf.“

„Das ist verdächtig. Ich vermute, irgendwann wurde der Belogene stutzig und hat uns beauftragt“, vollendete Laura Gildas Wortschwall.

„Ganz genau. Leider musste ich eine schlechte Nachricht überbringen: Die Frau war nicht die langhaarige Schönheit mit den sexy Kurven und dem strahlenden Lächeln von den Bildern, sondern eine Bohnenstange mit gepiercter Oberlippe und Igel-Frisur. Unsere Kunden möchten ja die Wahrheit erfahren. Trotzdem fühle ich mich wie das Gegenteil von Eros, dem kleinen, dicken Engel, der mit seinem Liebespfeil die Paare zusammenbringt. Ich bin Luzifer, der mit den Recherche-Ergebnissen die Liebenden trennt und in die Hölle schickt.“

Laura lachte. „Jetzt übertreib nicht. Es ist nicht deine Schuld, wenn das Glück zweier Menschen auf einer Lüge aufgebaut ist. Es wäre auf jeden Fall herausgekommen.“

Gilda verzog einen Mundwinkel, dann erschien wieder ihr strahlendes Lächeln. „Dafür macht die Entlarvung der Fuckboys alles wieder wett.“

„Bitte?“

Gilda lachte. „Fuckboys. So nennt man die Männer, die sich Frauen für Sex warmhalten, nur in der Nacht texten, wenn sie scharf sind, aber bei den Mädels die Hoffnung wecken, sie wären ernsthaft interessiert. Die sind die Pest.“

„Fuckboys“, murmelte Laura, „soso.“ Grell blitzte die Erinnerung an ihren Ex-Liebhaber auf, doch sie verscheuchte den Gedanken sofort.

Darin hatte sie Übung.

„Ja. Da tue ich echt ein gutes Werk. Ich finde für die Mädchen heraus, dass ihre Typen noch mit anderen herummachen und nicht im Traum an eine feste Beziehung denken. Das ist zuerst ein Schock, aber dann sind die Girls total dankbar.“

„Und wie bewirbst du unsere Dienstleistung? Unterstützung bei der Entlarvung eines ...“, Laura machte eine kurze Pause, „Fuckboys? Benutzt du den Fachterminus in den Anzeigen? Damit dürften wir uns definitiv von der Konkurrenz abheben.“ Sie konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken.

„Nein. Obwohl man die wirklich so nennt. Ernsthaft.“ Gilda gluckste. „Das geht über Mundpropaganda. Du glaubst nicht, wie schnell sich das herumgesprochen hat. Täglich kommen neue Anfragen.“

„Sehr schön. Mir gefällt deine Initiative. Es ist wichtig, neue Dinge auszuprobieren und sich als Firma weiterzuentwickeln. In dem Unternehmen, in dem ich früher angestellt war, hieß es immer, Stillstand ist Rückschritt. Da ist was Wahres dran. Aber zurück zum klassischen Teil unserer Dienstleistungen: Steht heute etwas Spezielles an?“

 

Gilda nickte. „Gleich kommt eine frühere Schulkameradin von mir. Wir haben am Freitag telefoniert. Sie hat nicht gesagt, worum es geht, aber sie möchte unsere Hilfe in Anspruch nehmen. Kannst du bei dem Treffen dabei sein?“

„Wenn es deiner Freundin nicht unangenehm ist, kein Problem. Ich bin flexibel. Keine Termine.“

„Kommt Marek heute?“ Gilda blies unschuldig in den heißen Kaffee.

„Weiß ich nicht.“ Lauras Stimme wurde kratzig, das Croissant, auf dem sie herumkaute, schmeckte plötzlich nach Sägemehl.

Da sie nichts weiter sagte, stand Gilda auf und räumte das Geschirr zusammen. „Ich muss noch viel erledigen, wir sehen uns nachher.“

Laura nickte nur.

Ihr Blick wanderte über die Wände des Büros. Streifte die Magnetleisten, die blank und kahl waren, weil es zurzeit keine Fälle gab, die tiefer diskutiert werden mussten. Flog über die Lithografie der kämpferischen Brunhild aus der Nibelungensage, die sie von ihrer Freundin Barbara zur Firmengründung geschenkt bekommen hatte. Blieb schließlich auf den gerahmten Zeitungsausschnitten mit den Fotos des Teams der Detektei Peters ruhen.

Sie nahm die Kaffeetasse und stand auf, um die Bilder aus der Nähe zu betrachten. Der Empfang im Bonner Rathaus. Der Bürgermeister hatte sie nach der Lösung des ersten, großen Falles eingeladen, um sich persönlich bei ihnen zu bedanken, und Presse, Funk und Fernsehen dazu gebeten. Sie erinnerte sich, dass er viel zu lange ihre Hand geschüttelt hatte, um allen Journalisten die Gelegenheit zu geben, sein Nussknacker-Lächeln im Großformat zu knipsen. Wie unwohl sie sich gefühlt hatte, zeigte ihr angespannter Gesichtsausdruck. Sie gefiel sich gar nicht auf dem Foto. Aber damals hatte sie eine Trennung und eine schwere Zeit hinter sich gehabt. Mittlerweile waren die nach der gescheiterten Beziehung in einem Anfall von Verzweiflung selbst abgeschnittenen Haare zum Glück wieder gewachsen und reichten bis zur Schulter. Und die türkise Bluse, von der sie gehofft hatte, sie würde ihr deutlich besser stehen, war nach dem Termin kurzerhand in die Kleidersammlung gewandert. Nur die Abneigung gegen öffentliche Auftritte hatte sie bis heute nicht ablegen können.

Neben ihr auf dem Foto stand ihre Freundin Barbara, die selbstbewusst strahlte und in einem orientalisch angehauchten Kleid mit tiefem Ausschnitt eine gute Figur machte. Als bekannte Pianistin war sie Publicity gewohnt und hatte Routine darin, ihre Schokoladenseite zu präsentieren.

Gilda, das Küken des Teams, lehnte auf dem Bild so dicht neben Barbara, als wollte sie sich hinter ihr verstecken. Ihr Kopf war gesenkt, die langen, glänzenden Haare verdeckten die Hälfte des Gesichts. Wie immer trug sie ausgebleichte Jeans und T-Shirt. Ein Empfang beim Bürgermeister und ein Pressetermin waren für sie kein Grund, sich extra in Schale zu werfen. Sie sah trotzdem umwerfend aus mit der grazilen Figur und den dunklen Augen. Wer sie kannte, dem fielen allerdings die Schatten unter den Augen und eine für sie untypische Blässe auf.

Beim ersten, großen Fall der Detektei war Gilda in die Fänge eines sadistischen Mörders geraten. Auch wenn sie danach behauptet hatte, es gehe ihr gut, hatte Laura das Gefühl gehabt, dass das Erlebnis ein Trauma hinterlassen hatte. Doch vor ungefähr einem halben Jahr schien die Last von Gilda abgefallen zu sein. Sie war eines Morgens wie ausgewechselt im Büro erschienen und hatte wieder so frei und zuversichtlich gewirkt, wie zu Beginn, als Laura sie kennengelernt hatte. Was diese Verwandlung in ihrem Wesen bewirkt hatte, hatte sie nicht erzählt.

Vielleicht war es einfach die Zeit gewesen, die die Wunden geheilt hatte.

Marek fehlte auf dem Zeitungsfoto. Dabei hätte er sich gut darauf gemacht: attraktiv, trainiert, in Lederjacke, Jeans und Biker-Boots. Optisch definitiv eher Action-Hero als sensibler Schöngeist. Aber er war direkt nach der Lösung des Falls verschwunden. Oder, besser ausgedrückt, er hatte sich aus dem Staub gemacht.

Weil er in Wirklichkeit nur seine eigenen Ziele verfolgt hatte.

Vermutet hatte sie das von Anfang an. Trotzdem war sie verletzt gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass es stimmte. Und dass er sich so lange nicht gemeldet hatte, ärgerte sie heute noch. Zum Glück war er rechtzeitig wieder aufgetaucht, als sie es mit dem zweiten großen Fall zu tun bekommen hatten. Nicht nur, weil sie ihn vermisst hatte, sondern auch, weil sie ohne ihn ganz schön in Schwierigkeiten gewesen wären.

Seitdem hatte er seine Tätigkeit als polnischer James Bond, wie sie ihn gern nannte, an den Nagel gehängt und sich auf die Arbeit in der Detektei konzentriert. Er hatte sogar überlegt, als Teilhaber in die Firma einzusteigen. Voller Elan hatte er sich in die Fälle gestürzt, hatte untreue Ehemänner bespitzelt, verschwundene Familienmitglieder gefunden und Zeitungsdiebe gestellt.

Doch in letzter Zeit wirkte er rastlos, zeigte wenig Interesse an den Jobs und tauchte nur noch selten im Büro auf. Laura seufzte. Sie wusste, wie sehr Marek sich bemühte, ein geregeltes, normales Leben zu führen. Er wollte sein Team nicht im Stich lassen. Aber sie machte sich nichts vor. Lange würde er es nicht mehr aushalten, dieses tägliche Bad im Trivialen, im immer Gleichen. Er brauchte die Herausforderung, die Gefahr, den Adrenalin-Kick wie die Luft zum Atmen. Irgendwann würde er gehen. Und sie würde ihn nicht aufhalten können. Aber sie konnte sich darauf vorbereiten. Sie musste Verstärkung finden. Einen Detektiv, der die Lücke ausfüllen konnte, die Marek hinterlassen würde.

Und das möglichst bald.

4

Eine Stunde später hörte Laura die Türklingel, dann gedämpftes, erregtes Gemurmel und Schluchzen im Vorraum. Doch erst nach einer Weile bewegte sich die Klinke der Bürotür und zwei Mädchen schoben sich in den Raum: Gilda, die die Haare oben auf dem Kopf zu einem wilden Dutt geschlungen hatte, und dahinter ein molliges Wesen mit verweintem Gesicht, Kopftuch und maritimem Ringel-T-Shirt, das mindestens zwei Nummern zu klein war. Die Linien, eigentlich als Querstreifen gedacht, wanderten in abenteuerlichen Bögen über einen üppigen Busen und darunter liegende Rollen und Dellen. Die Nase lief, die schwarzen Augen sahen Laura misstrauisch an.

„Guten Morgen, immer herein.“ Laura erhob sich und setzte ein munteres Lächeln auf. „Sie müssen Gildas Schulfreundin sein.“

Gilda zog die Besucherin vollends in den Raum. „Das ist Merve, eine frühere Klassenkameradin. Soll ich dir noch einen Kaffee holen?“

„Danke, das mache ich gleich selbst. Wollt ihr euch setzen?“ Laura wies auf die hellblauen Besuchersessel.

Ihre Assistentin warf einen fragenden Blick auf die Bekannte, dann zuckte sie die Achseln. „Merve, möchtest du uns beauftragen? Du musst nicht mit uns sprechen. Du bist freiwillig hier.“

Die junge Frau schluchzte und wischte sich mit plumpen Fingern durch das Gesicht. Über ihrem Arm hing ein schwarzer Mantel, von dem ein strenger Geruch ausging, der sich schnell im ganzen Raum verbreitete. Laura verspürte einen Anflug von Übelkeit. Das Mädchen sagte keinen Ton, schniefte vor sich hin und schien sich immer tiefer in ihr Kopftuch und den Panzer aus Speck zurückzuziehen.

Laura bekämpfte die Gereiztheit. Es kam vor, dass Klienten plötzlich unschlüssig wurden. Und auch, dass sie weinten. Vor allem Frauen. Fast jedem Auftrag, den sie erhielten, war aufseiten des Auftraggebers eine Phase des Kummers vorausgegangen. Aber es machte einen Unterschied, ob ein schöner, sympathischer Mensch weinte oder ein mürrisches Teiggesicht, das den Mund nicht aufkriegen wollte und streng roch. Laura wusste, wie unfair die Gedanken waren, und bemühte sich, den Anflug von schlechtem Gewissen mit aufgesetzter Freundlichkeit zu kompensieren.

„Kann ich etwas für Sie tun? Nehmen Sie sich Zeit. Möchten Sie ein Stück Schokolade? Ist gut für die Nerven. Oder einen Kaffee? Verdammt noch mal!“

Laura fing Gildas verwirrten Blick auf, verzog einen Mundwinkel und zuckte mit den Schultern. Ihr Büro roch sauer nach Mensch, das Mädchen war bockig wie ein Esel, sie hatte ihr Bestes versucht. Sie sprang auf, ging zur Flügeltür, rüttelte an den alten Griffen, bis sie aufsprang, und sog tief die warme Sommerluft ein.

„Merve“, Gilda probierte es auf die sanfte Tour. „Jetzt erzähl uns, was dich beunruhigt. Du kannst uns vertrauen. Wir werden dich nicht bei deinen Leuten verraten.“

„Verraten?“ Laura drehte sich um, verließ jedoch nicht ihren Posten an der frischen Luft.

Gilda setzte sich auf die Sessellehne und legte den Arm um die Freundin. Laura bewunderte sie dafür. Sie schreckte wirklich vor nichts zurück. Merve entwand sich unwillig der Umarmung und betrachtete Laura mit wässrigem Blick.

„Kommen Sie.“ Lauras Lächeln funktionierte wieder. „Entspannen Sie sich. Erzählen Sie, was Sie bedrückt. Wir kriegen das wieder hin.“ Warum bemühte sie sich so um diese Person? Auf den Auftrag waren sie nicht angewiesen. Und ihr schlechtes Gewissen war in dem Mief auch schon längst wieder verflogen.

Das Mädchen faltete die molligen Hände über dem großen Bauch. „Es ist nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes. Mein Bruder ist verschwunden. Yasin. Aber er kann auf sich aufpassen.“

„Seit wann ist er nicht nach Hause gekommen?“

„Seit ein paar Tagen. Ich habe deshalb Freitag bei Gilda angerufen.“

„Wie alt ist er?“

„Achtzehn.“

„Ok. Das ist alt genug, um eigene Wege zu gehen. Wohnt er noch zu Hause?“

„Natürlich. Er ist nicht verheiratet.“ Merves Gesichtsausdruck drückte deutlich aus, was sie von der Frage hielt.

„War er schon mal länger weg, ohne zu sagen, wo er sich aufhält?“

„Nein. So etwas macht er nicht. Er lässt die Familie nicht im Stich. So einer ist er nicht.“

„Sind Sie Türkin?“ Laura sah ihr fest in die Augen, verbot ihrem Blick, über das Kopftuch zu wandern.

„Nein, ich bin Deutsche. Ist das wichtig? Seid ihr so asi-deutsch, dass ihr nur Aufträge von Bio-Deutschen annehmt?“

Laura ignorierte die Unverschämtheit. „Nein. Wir suchen uns die Fälle zwar aus, die wir bearbeiten, aber die Nationalität des Auftraggebers spielt keine Rolle. Wir sind ja auch ein international gemischtes Team. Ich habe das nur gefragt, um mehr Informationen über das Umfeld Ihres Bruders zu bekommen.“

Sie warf Gilda einen schnellen Blick zu, die nickte knapp. Sie würde Laura später über die Details von Merves Herkunft ins Bild setzen.

„Gibt es weitere Gründe, warum Sie sich Sorgen machen? Also außer, dass Yasin nicht nach Hause gekommen ist?“

Merve zuckte die Achseln und zwirbelte an den Enden des Kopftuchs. Mehrmals wippte sie mit dem Oberkörper, dann wuchtete sie sich aus dem Sessel. „Das hier ist ein Fehler. Ich hätte nicht kommen sollen. Wir regeln das besser unter uns.“

Bevor Laura erfreut zustimmen konnte, legte Gilda dem Mädchen die Hand auf den Arm und zog sie in den Sessel zurück.

„Lass mich erzählen. Ich kenne Yasin aus der Schule und habe einiges mitbekommen.“ Sie drehte sich zu Laura um. „Merves Bruder hatte es ziemlich schwer. Er war damals Zielscheibe von üblen Streichen. Zu Hause wurde er streng erzogen“, sie machte eine kurze Pause, sah Merve an, diese nickte widerwillig. „Nach dem Realschulabschluss hat er eine Lehre als Schreiner begonnen. Die müsste er jetzt abgeschlossen haben, oder?“

Merve schüttelte den Kopf. Sie sprach kein Wort zu viel.

„Ok, also ist er noch in der Ausbildung. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist er dort nicht glücklich. Das kann ich mir auch denken, er wirkte immer so sanft, weich, sensibel. Mehr Ästhet als Handwerker. Ach, schwer zu beschreiben. Jedenfalls kann man ihn sich kaum zwischen Dreck, Sägespänen, Lärm und dicken Brettern vorstellen. Aber ein Kopfmensch ist er auch nicht gerade.“

Langsam dämmerte es Laura, was Gilda andeuten wollte. „Ist er homosexuell?“

„Nein!“ Merve fauchte wie eine wütende Katze. „Sind Sie total bescheuert? Mein Bruder ist nicht schwul! Sie haben wohl einen an der Klatsche! Typisch deutsch!“ Gilda wollte wieder ihre Hand auf Merves Arm legen, doch die schlug sie weg. „Ihr seid solche Arschlöcher. Alle. Mit diesen schwachsinnigen Behauptungen habt ihr sein Leben zerstört.“

Gilda biss sich auf die Lippen und sah Laura an. „In der Schule wurde er 'schwule Sau' genannt. Sie haben ihn ständig damit aufgezogen, obwohl er sich für Mädchen interessiert hat. Mich hat er mal gefragt, ob ich mit ihm ausgehen möchte.“

 

„Was?“ Merve sah sie überrascht an. „Das habe ich gar nicht gewusst. Ihr hattet ein Date?“

Gilda schüttelte den Kopf und wich ihrem Blick aus.

„Du hast abgelehnt? Bestimmt, weil wir Muslime sind. Warst dir zu fein? Du kamst dir ja immer wie etwas Besseres vor. Nur weil deine Eltern ein Restaurant haben. Dabei bist du nichts weiter als eine blöde, italienische Schlampe. Eine Bitch. Gehst glatt als Deutsche durch.“

„Was soll das heißen?“ Gilda wurde auch laut. „Ich glaube, jetzt hackts. Du weißt genau, was die meisten muslimischen Jungs in unserer Schule über die Mädchen dachten, die mit ihnen ausgegangen sind: Sie haben sie für Hoes gehalten. Verachtet haben sie sie. Ausgenutzt. Ihre Witze über sie gemacht. Nackt-Videos von ihnen ausgetauscht. Denkst du, mit so jemandem gehe ich aus? Und du hast die Mädchen auch für Huren gehalten. Du bist keinen Deut besser.“

Die beiden waren aufgesprungen und standen sich wie Kampfhähne gegenüber.

„Ladies, beruhigt euch.“ Laura versuchte, die Wogen zu glätten. „Ich habe verstanden, dass Yasin schwierige Zeiten durchgemacht hat. Aber das ist jetzt vorbei. Oder hat das mit seinem Verschwinden zu tun? Vermutlich nicht. Ich nehme an, Sie haben bei seinen Freunden nach ihm gefragt?“ Sie sah Merve fest in die Augen.

Die schluckte, senkte den Kopf und nickte.

„Freunde? Hat er Freunde?“ Gilda zog eine Augenbraue hoch.

„Nun, er wird doch Freunde haben? Jeder hat irgendwelche Freunde oder Leute, mit denen man zu tun hat.“ Laura sah zu Merve, die zuckte die Achseln und wich ihrem Blick aus.

„Jungs, mit denen er etwas unternimmt?“, versuchte es Laura. Erneutes Schulterzucken.

„Kollegen, mit denen er sich gut versteht?“ Merve schaute zur Seite.

„Er wird doch irgendjemanden haben, mit dem er sich mal trifft. Was macht er denn, wenn er nicht arbeitet? Sitzt er den ganzen Tag zu Hause?“

„Nein. Er geht in die Moschee. Und zu solchen Treffen. Er verbringt dort viel Zeit. Er ist ein guter Mensch.“ Merves Stimme war leise, fast nur noch ein Flüstern.

„Yasin? Bei den Bärten? Das glaube ich jetzt nicht.“ Gilda riss die dunklen Augen auf.

„Doch. Es gefällt ihm. Sie diskutieren viel. Über den Koran. Über das Leben. Er ist gerne dort.“

„Haben Sie diese“, Laura räusperte sich, „Leute nach ihm gefragt?“

Merve nickte.

„Die wissen also nichts.“ Jedes Wort musste sie dem Mädchen aus der Nase ziehen.

„Aber er ist doch nicht radikal geworden?“ Gilda sprach aus, was auch Laura durch den Kopf spukte.

„Nein! Spinnst du?“ Merve wurde wieder laut. Doch sie klang nicht überzeugt.

Laura merkte, dass das der Punkt war, der dem Mädchen die größten Sorgen bereitete und weshalb sie zu ihnen in die Detektei gekommen war. Sie wollte Gewissheit haben, gepaart mit Diskretion. Zu den eigenen Leuten konnte sie nicht gehen, das hätte sofort die Runde gemacht. Und der Polizei konnte sie sich auch nicht anvertrauen. Der Verdacht, mit Islamisten zu sympathisieren, konnte ihrem Bruder große Schwierigkeiten einbrocken.

Am liebsten hätte sie das Mädchen fortgeschickt und nie wieder an sie gedacht. Doch so ein Thema durfte sie nicht ignorieren. Sie setzte ein Lächeln auf und legte die Handflächen gegeneinander. „Wir wollen nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Yasin wird schon auftauchen. Wir werden uns ein bisschen umhören, dann finden wir ihn bestimmt bald.“

„Da ist noch etwas.“ Merve kramte in der Tasche, die zusammen mit dem Mantel auf ihrem Schoß lag, zog ein zerknittertes Papier hervor und hielt es ihnen unter die Nase.

„Das können wir nicht lesen. Was steht da? Hat Yasin das geschrieben?“ Gilda sah stirnrunzelnd auf die Wörter in schön geschwungener Schrift.

„Ja, das ist von ihm. Ich habe es im Papierkorb gefunden. Anscheinend hat er einen Brief schreiben wollen und auf diesem Blatt die Formulierungen entworfen. Er möchte mit jemandem sprechen, um ihn zu warnen. Er sagt, er kenne eine Person, die alles entlarven kann. So in der Art. Er hat die beiden Sätze mehrfach umformuliert.“

„An wen ist das Schreiben gerichtet?“ Laura kniff die Augen zusammen.

„Das steht hier nicht. Ich habe doch gesagt, er hat auf dem Zettel nur geübt.“

„Ok. Aber das klingt natürlich“, Laura suchte nach der passenden Formulierung, „nach einer ernsten Sache. Auch wenn wahrscheinlich nichts Dramatisches dahinter steckt. Aber es scheint Yasin wichtig genug zu sein, um seine Worte sorgfältig zu wählen. Sonst hätte er den Brief nicht vorgeschrieben.“ Sie bemerkte Merves erschrockenes Gesicht und ruderte schnell zurück: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, dass es sich um etwas Harmloses handelt. Wir finden Yasin und dann kann er uns erzählen, was er sich dabei gedacht hat.“

Sie streckte Merve die Hand zum Abschied hin. „Gehen Sie bitte mit Gilda zu ihrem Schreibtisch im Vorraum, da können Sie den Auftrag unterschreiben. Und verzeihen Sie, wenn ich zu direkt bin, aber Sie kennen unsere Tarife?“

„Nein, ich dachte, ihr macht das umsonst.“ Das Mädchen zog eine Grimasse und stemmte sich aus dem Sessel. „Aus alter Freundschaft.“ Sie warf einen giftigen Blick auf Gilda.

Doch die ließ sich kein weiteres Mal provozieren, sondern lachte. „Die Preise habe ich dir schon genannt. Sowie du überwiesen hast, fangen wir an.“