Multiple Sklerose? Keine Angst!

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Multiple Sklerose? Keine Angst!
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Nele Handwerker

Multiple Sklerose? Keine Angst!


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Nele Handwerker

https://www.ms-perspektive.de

Covergestaltung: Giessel Design

Coverfoto: Sarah Hübner

Lektorat: Sarah Strehle

Korrektorat: Teresa Ende

Buchsatz: Nele Handwerker

1. Auflage: April 2020

Verlag: Nele Handwerker

ISBN: 978-3-947687-05-3

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, mechanische, elektronische oder fotografische Vervielfältigung, eine kommerzielle Verwertung des Inhalts, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

Für meine große Liebe und unsere wunderbare Tochter.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mein Vorwort

I. Juli 2003 bis September 2005

Mein Leben davor

Die ersten Anzeichen

Sechs Tage Krankenhaus

Weitere Untersuchungen

Weiter wie bisher

Verlaufskontrollen bei der Neurologin

Die Diagnose

Angst vor der Zukunft

Lebensfreude auf vier Pfoten

Praktikum in München

Liebe und Frust

Rückhalt durch Freunde

Eine neue Lebensweise

II.August 2006 bis Dezember 2010

Ein halbes Jahr Chicago

Urlaub an der Westküste

Noch ein Jahr Chicago

Zurück in Deutschland

Ein neuer Schub

Start der Basistherapie

Urlaub in Australien

Mit Spritzen auf Dienstreise

Erste Erfolge der Basistherapie

III. Januar 2011 bis Dezember 2018

Meine große Liebe

Aufbrechen alter Muster

Yoga zur Entspannung

Schreiben für die Seele

Wieder ein neuer Schub?

Ein großer Wunsch

Nachwort

Danksagung

Glossar

Mehr Informationen

Kinderbücher der Autorin

Vorwort

Fragt man den Volksmund, so handelt es sich bei der Multiplen Sklerose um die Erkrankung der tausend Gesichter: Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark können je nach dem Ort, an dem sie auftreten, unterschiedlichste neurologische Auffälligkeiten mit sich bringen, eben die tausend Gesichter. Das erschwert die Diagnose und das Management der Gehirnerkrankung, die meistens im jungen Erwachsenenalter auftritt und die jeweiligen Patienten ein Leben lang begleitet.

Dabei zeigen sich die tausend Gesichter nicht nur in der Erkrankung selbst. Multiple Sklerose tritt bei höchst unterschiedlichen Menschen auf, die jeweils auf ihre individuelle Art mit ihr umgehen. Das Aufeinandertreffen dieser neurologischen Erkrankung und der ereignisreichen Entwicklungsphase des jungen Erwachsenenalters stellt nicht nur das Management der Erkrankung selbst in den Vordergrund, sondern auch die Art und Weise, inwieweit die Erkrankung in die persönliche Lebensgeschichte integriert werden kann und sollte.

Das heißt: Weg von den medizinisch tausend Gesichtern der Erkrankung, hin zum Alltag des Individuums, auf das die Erkrankung hereinbricht. Hier kann uns helfen, einzelnen Patienten zuzuhören und zu erlernen, wie man mit der Erkrankung umgehen kann. Wie trifft ein Leben auf Diagnose und Therapie? Wie wird es dadurch verändert? Natürlich gleicht keine Krankengeschichte der anderen, trotzdem kann nur eine solche Auseinandersetzung sowohl Patienten als auch Therapeuten wichtige Aufschlüsse bezüglich des Umganges mit der Erkrankung geben.

Dieser Umgang ist immer noch eine große Herausforderung für uns alle. Ziel muss sein, dass medizinischer Fortschritt beim Patienten ankommt, dass der Patient gut informiert bewusst seine Entscheidungen fällen kann, dass wir es schaffen, trotz der Erkrankung den Patienten sein Leben leben zu lassen.

Ich hoffe, dass Nele Handwerkers Buch uns dabei helfen kann, diesen Weg zu gehen. Sie zeigt in ihrem Sachbuch, wie ihr individueller Weg bisher ausgesehen hat. Dabei lernen wir wichtige Prozesse beim Management der Multiplen Sklerose kennen. Wir wissen, dass es ein langer Weg ist, trotzdem können wir an Nele Handwerkers Geschichte sehen, was in den letzten Jahren bereits erreicht werden konnte. Ich wünsche dem Sachbuch vor allem, dass es seinen Zweck erfüllt: zu informieren und zu unterstützen.

Prof. Dr. Tjalf Ziemssen, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums des Universitätsklinikums Dresden, Leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor der Neurologischen Klinik

Mein Vorwort

Liebe Leser*in,

vielleicht stehst Du noch am Anfang deiner Reise, lebst schon lange mit der Diagnose, ein Dir nahestehender Mensch hat Multiple Sklerose (MS)* oder Du willst einfach mehr über diese Krankheit erfahren. In jedem Fall hoffe ich, Dir mit dem Buch Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln, Trost zu spenden oder Anregungen zu Deinem Umgang mit der Erkrankung zu geben. Das würde mich sehr freuen.

Ich will mit dem Buch zeigen, dass ein Leben mit Multipler Sklerose sehr schön sein kann. Für mich steht fest, dass dazu regelmäßige Besuche beim Neurologen, notwendige Untersuchungen, eine Basistherapie* und gewisse Anpassungen meiner Lebensweise gehören. Denn die MS ist eine sehr ernstzunehmende Erkrankung.

Ich beginne meine persönliche Geschichte ganz bewusst vor meinem ersten Schub, um Dir zu zeigen, welche Ängste ich zu Anfang hatte. Die Angst davor, nicht geliebt zu werden, nicht zu wissen, was die MS gesundheitlich für mich bedeutet und vielleicht von anderen diskriminiert oder bemitleidet zu werden. Über die Jahre wuchs meine Zuversicht, dass ich gut mit der MS leben kann.

Für mich waren die vergangenen 15 Jahre eine spannende und intensive Reise und bisher hat die MS keines meiner persönlichen Ziele verhindert. Ganz im Gegenteil, sie hat mich gelehrt, bewusster zu leben und mir selbst Gutes zu tun. Ich arbeitete anderthalb Jahre in den USA, unternahm dort meinen ersten Fallschirmsprung und düste mit dem Snowboard die Pisten in den Rocky Mountains hinab. Meine Urlaube brachten mich nach Australien, wo ich im Great Barrier Reef tauchen war, nach Kuba, als Fidel Castro noch lebte, zu den aktiven Vulkanen Islands, dem trockenen Paradies in Namibia und alten Tempeln in Japan.

Ich begann mit Yoga, was mich beweglicher und emotional stärker machte. Für meinen Job reiste ich mehrfach nach Asien und gewann Einblicke in das berufliche und private Leben von Japanern, Chinesen, Koreanern, Thailändern und Malaysiern.

Seit Ende 2015 schreibe ich Bücher und dieses hier ist bereits meine sechste Veröffentlichung. Und das Beste: Ich fand die Liebe meines Lebens und seit Ende 2018 sind wir stolze Eltern einer wunderbaren Tochter.

 

Ich kann nicht in die Zukunft schauen, bin aber sehr zuversichtlich, dass mein Leben weiterhin glücklich und zufrieden verlaufen wird und mich Dinge im Privatleben mehr bewegen werden als die Krankheit selbst.

Die Multiple Sklerose wird die »Krankheit mit den 1.000 Gesichtern« genannt, weil sie bei jedem Menschen anders verläuft. Ich habe hier meine Geschichte erzählt. Es gibt mindestens 999 andere, darunter viele weitere positive Beispiele.

Ich bin davon überzeugt, dass ich mit meiner Einstellung und Lebensweise zum positiven Verlauf der Erkrankung beitrage. Die Stellschrauben, die mir zur Verfügung stehen, nutze ich. Dazu zählen für mich gesunde Ernährung, Sport, Gehirnjogging und Meditation. Soweit möglich, vermeide ich Stress im Sinne von Überforderung. Außerdem habe ich eine zu mir passende Basistherapie, die ich konsequent befolge. Ich lege großen Wert auf ein glückliches und erfülltes Familienleben und versuche Konflikte zu lösen, statt sie zu verdrängen.

Wenn Du Patient*in oder Angehörige*r bist, wünsche ich Dir auf Deinem Weg nur das Beste und hoffe, dass die Diagnose auch Dir Gutes im Leben bringt, Dich bewusster leben lässt und kaum oder gar nicht einschränkt. Wenn Du einfach interessiert an der Multiplen Sklerose bist und gern mehr über die Krankheit und einen Lebensweg erfahren möchtest, wünsche ich Dir eine interessante und aufschlussreiche Lektüre.

In den kommenden Jahren werden sicherlich weitere effektive Therapien gefunden. Vielleicht können in absehbarer Zeit sogar kaputte Nervenbahnen repariert werden.

Die immer bessere Vernetzung zwischen Ärzten, Wissenschaftlern, Therapeuten, und Institutionen im Kampf gegen die MS und ihre Auswirkungen wird weitere Früchte tragen. Da bin ich mir sicher.

Ein Beispiel dafür ist der Anfang 2020 startende Master-Studiengang »Multiple Sklerose Management« in Dresden. Die Studierenden stammen aus unterschiedlichen Berufsfeldern, darunter Mediziner, Apotheker, Therapeuten, Wissenschaftler und Pflegepersonal. Während der vier Semester werden sie berufsbegleitend, größtenteils digital lernend, zu MS-Spezialisten ausgebildet. Ziel ist es, den Patienten Behandlungen auf neuestem Kenntnisstand zu bieten, ohne langjährige Verzögerungen. Dazu gehört, dass möglichst direkt nach der Diagnose eine Basistherapie begonnen wird. Denn eine zeitige Intervention hemmt das Fortschreiten der Krankheit nachweislich.

Übrigens gibt es am Ende dieses Buches ein Glossar mit den wichtigsten Fachbegriffen, die im Text beim ersten Auftreten mit einem Sternchen gekennzeichnet sind: Einfach erklärt für Nichtmediziner.

Jetzt wünsche ich Dir eine gute Zeit mit dem Buch über meine Reise mit der Multiplen Sklerose und hoffe, dass ich Dir damit Kraft und Mut spenden kann. Gehörst Du zu den Interessierten ohne direkten Bezug, dann wird hoffentlich Deine Neugier über diese Erkrankung gestillt.

Übrigens gehen zehn Prozent vom Gewinn des Buchverkaufs als Spende an die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), die viele wissenschaftliche Projekte finanziert und versucht, das Leben von MS-Patienten zu erleichtern.

Alles Gute und bestmögliche Gesundheit wünscht Dir,

Nele

I. Juli 2003 bis September 2005

Mein Leben davor

Ich war 22 Jahre jung und studierte seit einem Jahr Medienmanagement in Mittweida. Am Wochenende fuhr ich oft in meine Heimatstadt Dresden, wo ich jobbte und abends gern mit meinen Freunden in Bars und oder Clubs ging. Meine größte Sorge bestand darin, dass jemand anderes im gleichen Outfit wie ich auf der Party erscheinen könnte.

Mein Studium war abwechslungsreich und machte mir Spaß. Es setzte sich aus drei Komponenten zusammen: Medientheorie, Wirtschaft und Medientechnik. Von Journalismus über Medienpsychologie und Betriebswirtschaftslehre bis hin zu technisch-physikalischen Grundlagen gab es die unterschiedlichsten Fächer.

Ich lebte in einer Einraumwohnung in einem Gebäudekomplex mit dem liebevollen Spitznamen »Alcatraz«. Da es eine überschaubar große Fachhochschule war, kannte ich meine 60 Kommilitoninnen und Kommilitonen innerhalb von vier Wochen beim Namen. Auch der Großteil der Professorinnen und Professoren konnte uns nach einem Vierteljahr beim Namen nennen.

Freitags und samstags arbeitete ich als Werkstudentin bei einem Mobilfunkanbieter, um genügend Geld für meine Freizeitvergnügungen zu verdienen. Dazu zählten die Barbesuche mit meinen Freunden in der Dresdner Neustadt, für mich damals das Kneipenviertel schlechthin. Oft gingen wir danach gemeinsam auf Partys mit House- oder Techno-Musik zum Tanzen und Feiern. Ich trank gern Erdbeer-Daiquiri oder Prosecco auf Eis.

Meinen damaligen Freund sah ich meist erst nachts auf den Partys. Manchmal stand er hinterm DJ-Pult.

Die ersten Anzeichen

Das Hoch Michaela bescherte uns 2003 einen Jahrhundertsommer. Schätzungen zufolge starben 70.000 Menschen in Europa an den direkten und indirekten Folgen der Hitze. Der volkswirtschaftliche Schaden wurde auf 13 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Am 15. August wollte ich mit meinem Kumpel Karl in seinem Auto mit nach Düsseldorf fahren. Er musste vor Ort für seine Diplomarbeit recherchieren und ich wollte meinen Kumpel Nino besuchen. Außerdem plante ich, noch allein weiter zu meiner Schwester nach Münster zu fahren. Kurz bevor wir starteten, fiel mir auf, dass ich schlecht sah. Die Nachbarin meiner Eltern war Augenärztin und beruhigte mich mit den Worten: »Wenn es nicht weh tut, ist es nichts Ernstes.« Na dann, ab auf die Autobahn.

Kurz vor Düsseldorf konnte ich die Nummernschilder der Autos vor uns kaum noch erkennen. Ich machte mir Sorgen und wir fuhren auf den nächsten Rastplatz. Als ich mir je ein Auge zuhielt, stellte ich fest, dass ich mit dem rechten Auge Farben deutlich blasser sah. Meine Sorge verstärkte sich. Als ich Karl davon erzählte, bot er mir an, in Düsseldorf ein Krankenhaus anzusteuern.

Wir fuhren zum Universitätsklinikum. Vom Dresdner Universitätsklinikum wusste ich, dass die Ärzte viel forschten und Studien durchführten und sich daher mit einem sehr breiten Spektrum an Krankheitsbildern auskannten. Ich hoffte, dass das in Düsseldorf auch der Fall war. Zumindest schickte man uns in der Notaufnahme direkt zur Augenklinik.

Im Wartezimmer hingen Bilder von alten Frauen mit furchteinflößenden Wucherungen am Auge. Karl versuchte, die Stimmung aufzulockern und machte Witze, dass es bei mir zum Glück nicht so etwas war. Ich lachte und entspannte mich tatsächlich ein bisschen. Doch die Sorge blieb.

Wir warteten mindestens zwei Stunden. Irgendwann wurde ich aufgerufen. Im Behandlungszimmer begrüßte mich eine junge Ärztin. Sie schaute zuerst in meine Augen und nahm dann einen Sehtest vor. Die ziemlich großen Buchstaben in der zweiten Reihe verschwammen zu einem grauen Linienwirrwarr. Die Ärztin probierte verschiedene Brillenstärken aus, doch mein Sichtfeld blieb unscharf.

Beim nächsten Test prüfte sie mein Gesichtsfeld. Ich saß vor einem Perimeter - der Hälfte einer Hohlkugel. Mein Kopf ruhte in einer Halterung, die Bewegungen unterband. Der Test wurde für jedes Auge einzeln durchgeführt. Ich fixierte den Mittelpunkt der Hohlkugel, während das Gerät unterschiedlich starke Lichtreize zu verschiedenen Stellen aussendete. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Lichtpunkt sah, musste ich einen Knopf drücken.

Schon beim linken Auge hatte ich das Gefühl, öfter einen Lichtpunkt zu verpassen. Mein rechtes Auge nahm über lange Zeiträume keinen einzigen Lichtpunkt wahr. Nur selten sah ich einige Punkte.

Als ich vom Bildschirm wegrückte, weinte ich, weil mir klar wurde, dass ich komplette Ausfälle im Gesichtsfeld hatte.

Es folgten weitere Tests, unter anderem ein VEP (Visuell evozierte Potentiale). Dabei schaute ich auf einen Bildschirm, der ein sich ständig änderndes Schachbrettmuster zeigte. Währenddessen maßen Elektroden an meinem Hinterkopf die Reizweitergabe. Das Ergebnis war eindeutig. Ich hatte eine demyelinisierende* Schädigung der rechten Sehbahn. Die Myelinschicht*, die eigentlich die Nervenbahnen isolierte, in diesem Fall den Sehnerv, war stark angegriffen. Dadurch wurden Reize nur noch verzögert weitergegeben oder gingen auf dem Weg in mein Gehirn sogar gänzlich verloren.

Anschließend wandte sich die Ärztin mit den gesammelten Befunden an den Oberarzt, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Bei ihrer Rückkehr empfahl sie mir, im Krankenhaus zu bleiben und noch am selben Tag mit einer Stoßtherapie* zu beginnen. Mir sollte intravenös* Cortison* verabreicht und am nächsten Tag eine MRT*-Untersuchung durchgeführt werden.

Ich fühlte mich überfordert, allein und brauchte Rat. Also rief ich meine Tante in Dresden an, die Ärztin war, wenn auch auf einem anderen Fachgebiet. Ich erzählte ihr, dass ich mich am liebsten in den Zug setzen und zurückfahren wollte, um wenigstens im Krankenhaus meiner Heimatstadt zu liegen.

Meine Tante riet mir vehement von der Bahnfahrt ab. Ich sollte unbedingt im Krankenhaus bleiben, denn bei solchen Befunden stand auch die Option eines Gehirntumors im Raum. Nach dem Satz war es aus und meine Selbstbeherrschung versagte. Ich antwortete »okay« und legte auf.

Zum Glück war Karl da und redete mir gut zu. Er wartete, bis ich mich etwas gefangen hatte, holte meine Sachen aus dem Auto und brachte sie mir aufs Krankenzimmer. Dann verabschiedete er sich und versprach, mich am nächsten Tag, nach seinen Recherchen in der Bibliothek, zu besuchen.

Später versuchte ich, meinen Freund zu erreichen. Ohne Erfolg. Meine SMS beantwortete er einige Stunden später: »Wird schon nicht so schlimm sein. Ich denke an Dich.« Er rief nicht zurück.

Ich teilte mir das Zimmer mit zwei älteren Damen, die eine war am Grünen Star erkrankt, die andere litt am Grauen Star. Obwohl beide sehr nett waren, kam ich mir völlig deplatziert vor. Ich war doch jung und gesund. Was sollte ich in diesem Krankenhaus?

Abends legte mir die Krankenschwester einen Zugang in die Armbeuge und ich erhielt meine erste Cortisoninfusion.

Zum Abendbrot servierte man uns zwei Scheiben Graubrot, einen kleinen Plastiknapf mit Butter und zwei labberige Käsescheiben. Passend zu meiner Stimmung.

Ich war erschöpft von der langen Fahrt und schlief bald ein. Doch nachts wachte ich mehrfach auf, fragte mich, was der nächste Tag bringen und was sie beim MRT finden würden. Ich schrieb meinem Freund von meinen Sorgen, erhielt aber keine Antwort.

Sechs Tage Krankenhaus

Am Tag darauf, dem 16. August 2003, war mit Nino der Besuch der Helmut Newton Ausstellung geplant. Da ich schon seit meiner Jugend gern selbst fotografierte, wollte ich unbedingt die viel besprochene Ausstellung eines der populärsten Fotografen des 20. Jahrhunderts sehen. Stattdessen wartete ich nun darauf, meinen Kopf zum ersten Mal mittels MRT untersuchen zu lassen.

Bei der Vorbesprechung bat mich die zuständige Krankenschwester jeglichen Schmuck abzulegen, inklusive meines Nasen- und Bauchnabelpiercings. Anschließend sollte ich mich auf eine weiße Liege legen. Als ich wie gewünscht ausgestreckt dalag, gab sie mir einen Drücker in die Hand, mit dem ich Hilfe rufen konnte, wenn ich Angst in der Röhre bekäme. Über meinem Kopf platzierte sie einen weißen Aufsatz, dessen Verstrebungen ein Kreuz bildeten. Ich sollte mich darauf konzentrieren und möglichst mittig liegen bleiben, damit die Einzelbilder scharf wurden und sich am Ende zu einem korrekten dreidimensionalen Abbild zusammensetzen ließen. Ansonsten müsste die Prozedur wiederholt werden.

Die Schwester verließ den Raum mit dem Hinweis, dass es mehrere Aufnahmezyklen gäbe und sie mir immer eine Zwischenmeldung geben würde sowie die Information, wann der Prozess abgeschlossen wäre. Die Tür fiel ins Schloss und ich blieb allein im Raum zurück. Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen, während die Liege ein Stück in die Höhe und anschließend in die Röhre des MRT fuhr. Mit dem Kopf voran lag ich bis zum Brustbein in der Röhre.

Es war ein komisches Gefühl, von so viel Technik umgeben zu sein. Um gar nicht erst in Panik zu geraten, versuchte ich bewusst langsam über die Nase einzuatmen und die verbrauchte Luft über die leicht geöffneten Lippen ausströmen zu lassen.

 

Um mich herum klopfte, ratterte, röhrte, hackte und piepte es. Ich schloss die Augen und versuchte die Geräusche in etwas für mich Greifbares umzuwandeln. Aber es gelang mir nicht so recht, das Innenleben des MRT zu verstehen. Doch allein der Versuch lenkte mich so sehr ab, dass die Zeit verging und dann fuhr die Liege mit mir auch schon wieder aus der Röhre heraus und wurde außen abgesenkt. Nachdem ich meinen Schmuck wieder angelegt hatte, durfte ich auf mein Zimmer gehen. Eine Auswertung erhielt ich nicht.

Ich fragte eine Krankenschwester, ob für heute noch weitere Tests geplant wären. Sie verneinte. Die nächste Cortisongabe stand erst abends an. Also beschloss ich, dass noch Zeit für den Ausflug zu Helmut Newton blieb und gab Nino Bescheid. Im Krankenhaus fragte ich niemanden um Erlaubnis, schnappte mir meine Sachen und wartete am Ausgang. Nino holte mich mit seiner Freundin und seiner Schwester ab und wir fuhren zum NRW-Forum Kultur und Wirtschaft, wo die Retrospektive mit 200 Bildern Newtons gezeigt wurde. Wir sahen die »Big Nudes« und andere provokante Bilder. Auf einem Foto steckte ein Model kopfüber in einem ausgestopften Krokodil und man sah nur ihren nackten Po und die langen Beine. Auf einem anderen Bild stand eine Polizistin obenrum bekleidet und untenrum unverhüllt da. Alle Bilder zeigten die Frauen circa 30 Prozent größer als in Lebensgröße, so dass sie wie Amazonen wirkten.

Der Ausflug lenkte mich wunderbar von der Klinik und meinen ausstehenden Befunden ab. Nino scherzte sogar: »Düsseldorf ist wirklich nicht so eine schlechte Stadt, dass du dich gleich krank stellen musst.«

Sein lockerer Umgang mit dem Ungewissen tat mir gut.

Ich kaufte das Buch zur Ausstellung, um eine schöne Erinnerung an den Ausflug zu behalten und gleichzeitig eine interessante Lektüre für die kommenden Tage zu haben. Anschließend besuchten wir ein kleines Café und sprachen über die Fotos der Ausstellung. Die vier Models mit und ohne Bekleidung sowie das Foto von Brigitte Nielsen am Pool hatten uns alle beeindruckt. Kuchen und Cappuccino schmeckten lecker, während uns die Nachmittagssonne wärmte. Als ich auf die Uhr schaute, war es schon 17 Uhr. Ich hätte bereits auf meinem Zimmer sein sollen. Die erholsame Auszeit von Sorgen und Grübeleien nahm ein abruptes Ende. Nino bezahlte umgehend und wir fuhren schnell zurück.

Ins Krankenhaus kehrte ich 20 Minuten zu spät für die abendliche Infusion zurück. Die Schwester hatte mich bereits vergeblich gesucht. Als ich mich zurückmeldete, bekam ich eine Standpauke zu hören. »Das hier ist ein Krankenhaus und kein Hotel, wo man kommen und gehen kann, wie man will.«

Ich fühlte mich etwas schuldig, denn mir war klar, dass sie recht hatte und mich nur gut versorgen wollte.

Mit dem Tropf neben meinem Bett, von dem aus das Cortison in meinen Körper floss, kehrten die düsteren Gedanken zurück. Doch ich konnte mich immerhin an dem entspannten Nachmittag mit Kultur und Freunden erfreuen und die Trübsal etwas zur Seite schieben.

In dieser Nacht schlief ich besser. Sogar so gut, dass ich meinen Arm anwinkelte und dabei den Zugang aus der Vene verlor. Am nächsten Morgen legte mir die Krankenschwester einen neuen Zugang, diesmal auf meinem Handrücken, was mir unter den gegebenen Umständen lieber war.

Das Cortison vertrug ich gut. Ich sah bereits wieder besser, Farbe und Sehschärfe kehrten zurück. Was so schnell zu reparieren war, konnte doch gar nicht gefährlich sein, oder?

Ursprünglich wollte ich meine Schwester in Münster besuchen, doch nun kam sie zu mir, was mich sehr freute und vom Klinikaufenthalt ablenkte. Wir spazierten ganz brav auf dem Krankenhausgelände. Einen zweiten Ausflug unterließ ich lieber. Offenbar war das nicht erwünscht.

Meine Schwester fragte, ob ich wieder gut sehen könne, ob es schon eine Diagnose gäbe oder wenigstens ein paar Möglichkeiten ausgeschlossen werden konnten. Eine Diagnose hatte mir bisher niemand mitgeteilt, aber zumindest konnten die Ärzte einen Gehirntumor ausschließen. Und ich sah schon wieder mehr Farbe als am Tag der Einweisung. Das beruhigte meine Schwester etwas und auch, dass ich genug Energie gehabt hatte, um mir die Ausstellung anzuschauen und mich beim Krankenhauspersonal unbeliebt zu machen. Als unternehmungslustiges Wesen kannte sie mich. Sie sprach mir Mut zu, dass bestimmt bald alles geklärt wäre und gewiss eine völlig harmlose Sache hinter all dem stecken würde. Nach ein paar Stunden Aufmunterung fuhr sie zurück nach Münster.

Die Tage im Krankenhaus krochen dahin. Der Tag begann mit dem Frühstück, das aus einem weißen Brötchen und zwei Scheiben Brot mit Marmelade und Butter im Plastiknapf und zwei Scheiben Käse bestand. Dazu trank ich einmal Kaffee, wechselte jedoch schnell zum Tee, weil der besser schmeckte. Nach dem Frühstück informierte uns eine Krankenschwester, wann die Visite voraussichtlich vorbeikäme. Denn die Zeit variierte von Tag zu Tag und die Anwesenheit der Patienten war Pflicht. Je nachdem ob der Arztbesuch vormittags oder nachmittags stattfinden sollte, blieb ich in der Zeit auf dem Zimmer und studierte mein Helmut Newton Buch. Ich schaute mir nochmals die Bilder der Ausstellung an und las mir die Texte durch, in denen er beschrieb, wie einzelne Fotoserien entstanden waren. Meine beiden Zimmergenossinnen und die Frauen aus den Nachbarzimmern waren freundlich, aber wir unterhielten uns kaum. Zum einen betrug der Altersunterschied mehrere Jahrzehnte und zum anderen war mir nicht nach Small Talk zumute.

Zur Visite kam der Stationsarzt, fragte kurz nach meinem Befinden und wie es um mein Sehvermögen stand. Zweimal begleiteten ihn Studierende, die alle im Halbkreis um mein Bett standen, während der Oberarzt in ihrer Mitte meine Symptome, die durchgeführten Tests und die Dosis und Dauer meiner Cortisongabe erklärte. Mir war es unangenehm, zumal die Studierenden ungefähr in meinem Alter waren und ich ihnen lieber auf einer Party begegnet wäre.

Mittags gab es warmes Essen. Mehrfach enthielt das Gericht Gemüsepaprika, die ich sorgsam entfernte. Seit meiner Kindheit reagierte mein Magen intensiv auf Paprika und beförderte sie meist durch den Mund wieder nach draußen oder bewirkte eine mehrstündige Übelkeit. Nach dem Mittagessen versuchte ich meist zu schlafen.

Über den Tag verteilt telefonierte ich mit meiner Familie und Freunden und setzte mich dafür auf eine Bank der Parkanlage des Krankenhauses oder lief die Spazierwege ab. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel und da es fast windstill war, stand die Luft im Zimmer.

Am Nachmittag kam Karl für eine gute Stunde vorbei. Meist munterte er mich mit Anekdoten aus der Bibliothek auf oder berichtete von den Fortschritten seiner Recherche. Nachdem feststand, dass ich am 21. August entlassen werden sollte, verlängerte er seinen Aufenthalt, um mich wieder per Auto mit nach Dresden zu nehmen. Die Universitätsbibliothek bot ihm genügend Lesestoff, sodass er die Zeit effektiv nutzen konnte. Und da er bei einem Freund nächtigte, entstanden ihm keine Zusatzkosten. Ich freute mich sehr über die tägliche Ablenkung und dass er ich mit ihm zurück nach Dresden fahren würde.

Zum Abendessen erhielt ich stets Graubrot, Käse, Butter und etwas Obst. Außerdem gab es intravenös Cortison. Die Infusion dauerte bestimmt 20 Minuten. In der Zeit versuchte ich nicht auf die Nadel zu schauen, die in meinem Körper steckte, und fixierte stattdessen den Cortisonbeutel, der sich langsam leerte.

Im Laufe der nächsten Woche bekam ich viel Zuspruch von meiner Familie. Alle machten sich Sorgen, aber erklärten mir, dass gewiss bald alles überstanden sein würde. Mein Cousin aus Dresden bot mir an, mich aus Düsseldorf abzuholen. Ich lehnte dankend ab, da meine Rückreise bereits gesichert war.

Nach einer Woche wurde ich endlich entlassen. Ich hatte Düsseldorf kaum kennengelernt, dafür sah ich nun wieder scharf und vollfarbig. Die Diagnose lautete: klinisch isoliertes Syndrom (CIS)*. Außerdem wurde vermerkt, dass sich meine Opticus Neuritis (Sehnerventzündung)* mit demyelisierender Schädigung der rechten Sehbahn unter Cortison schnell gebessert hatte. Man riet mir, mich im Uniklinikum Dresden in zwei Wochen nochmals vorzustellen, um eine Lumbalpunktion* durchzuführen. Ich erhielt Cortisontabletten mit einer genauen Anleitung, wie die Dosis über die folgenden elf Tage auszuschleichen sei.

Das typische Vollmondgesicht von der Cortisongabe erinnerte mich noch für ein paar Wochen an meinen Krankenhausaufenthalt und war leider nicht nach der letzten Tabletteneinnahme verschwunden.

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