Sorrowville

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Impressum

Vorwort

Kapitel 1: Dunkle Bedürfnisse

Kapitel 2: Nackte Tatsachen

Kapitel 3: Zorn einer Verschmähten

Kapitel 4: Erwachen des Grauens

Kapitel 5: Spiel mir das Lied vom Tod

Kapitel 6: Verräterisches Herz

Kapitel 7: Gefährliches Geschenk

Kapitel 8: Zorn und Wahrheit

Kapitel 9: Der Ruf des Meisters

Kapitel 10: Das Geschenk der Apothekerin

Über Sorrowville

Sorrowville

Teil 2: Die Todesapotheke

Naomi Nightmare

Impressum

Originalausgabe | © 2021

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

www.ifub-verlag.de / www.ifubshop.com

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

Herausgeber: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Illustration: Terese Opitz

Cover-Gestaltung: EM Cedes

Satz & Innenseitengestaltung: EM Cedes

ISBN (Print): 978-3-95936-267-2

ISBN (Ebook): 978-3-95936-268-9

ISBN (Hörbuch): 978-3-95936-269-6

Vorwort

Die Goldenen Zwanziger in Amerika – Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft erblühen. Doch in manchen Städten sind selbst die Fassaden von Schmutz besudelt, und nicht einmal der Schein trügt.

An diesen Orten haben Verbrechen und Korruption die Herrschaft ergriffen. Verborgen in den Ruinen der Rechtschaffenheit lauern überdies unsagbare Schrecken, welche die Vorstellungskraft schwacher Geister und krimineller Gemüter sprengen. Kaskaden des Wahnsinns, geboren aus einem zerstörerischen Willen zu allumfassender Macht, zerren am Verstand einst braver Bürger.

Dagegen stellt sich Zacharias Zorn, Privatermittler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Er ist derjenige, der Licht in die Finsternis zu tragen imstande ist – unter Einsatz seines Lebens und seiner Seele.

Willkommen … in Sorrowville!

Kapitel 1: Dunkle Bedürfnisse

Die Hässlichkeit der Menschen war nur schwer zu ertragen, doch Drogen machten sie erträglich und farbenfroh. Man könnte vom Leiden und Leben des Individuums sprechen, doch das war prosaisch. So prosaisch, dass es ihn zu verspotten schien, wie er unter dem Dach des Pavillons stand und auf seine Kunden wartete. Mit einem Seufzen zog er den Kopf ein und die Mütze tiefer ins Gesicht. Niemand sollte ihn erkennen, denn was er hier tat, würde kein ehrbarer Bürger Sorrowvilles jemals tun. Nicht, dass es viele solcher Bewohner in dieser verkommenen Stadt gab. Wäre dies der Fall, würde sein Geschäft nicht so florieren. Spöttisch schnaubend schüttelte er den Kopf, nicht ohne dabei die Mütze festzuhalten. Es wäre fatal, wenn sie offenbarte, was er darunter versteckte.

Nicht, dass es sowieso schon gefährlich war, allein um diese Uhrzeit im Park zu sein, doch mit dem Inhalt seiner Taschen erhöhte sich das Risiko direkt noch einmal ungemein. Bei dem Gedanken, was passieren könnte, fröstelte es ihn, und er verschränkte die Arme. Die Blöße, sich die Arme warm zu rubbeln, wollte er sich nicht geben. Er wollte stark und unbeeindruckt von der Kühle der Nacht und den lauernden Gefahren im Schatten wirken, wenn seine Kunden auftauchten. Dass diese sich auf Suggestion und Wunschdenken verließen, war sein Vorteil. Sie waren so süchtig nach dem, was er ihnen bot, dass sie in Kauf nahmen, völlig unbekannte Substanzen zu konsumieren. Zumindest hatte er aus vergangenen Fehlern gelernt und konnte nun auf nahezu jede Anfrage reagieren. Wollten sie Pillen, reichte er ihnen ein Päckchen mit Tabletten. Wollten sie Gras, bekamen sie genau das. Wollten sie den magischen weißen Schnee, war auch das kein Problem für ihn. Die ersten Male waren ihm eine Lehre gewesen – nicht nur aufgrund des entgangenen Geldes, sondern auch, weil seine potentiellen Kunden dementsprechend harsch, wenn nicht schon aggressiv reagiert hatten. Da er ein Freund der Unversehrtheit seines Körpers war, war ihm keine andere Möglichkeit geblieben. Zwar war die Herstellung der Varianten nicht einfach gewesen, doch es hatte sich gelohnt. In sorgfältig verpackten Tütchen befanden sich nun Imitate von Koks, Gras und Amphetaminen, mit dem Unterschied, dass sie eben auf rein pflanzlicher, natürlicher Basis entstanden waren und keinerlei schädliche Wirkung auf den Körper besaßen.

Eigentlich.

Die Sucht seiner Kunden gaukelte ihnen aber feinste Qualität und Wirkung vor, sodass es zu den wohl berauschendsten Trips kam, die sie je erlebt hatten. Doch das war nicht seine Schuld. Er gab ihnen, wonach sie verlangten. Nicht mehr, nicht weniger.

Heute blieb es außergewöhnlich ruhig. Kaum Kundschaft, auch die Laute einer Schlägerei oder anderer körperlicher Aktivität, wie er sie normalerweise hörte, blieben aus. Es verwunderte ihn, sorgte ein wenig für Unruhe, doch vielleicht gab es dafür eine Erklärung. Möglicherweise feierten sie wieder irgendein Fest, oder jemand war Vater geworden, hatte geerbt oder im Lotto gewonnen, und man betrank sich sinnlos und besinnungslos. Natürlich illegal, sodass der Nervenkitzel der Gefahr die Wirkung vervielfachte und verstärkte.

Dabei wäre es für sie besser, sie würden sich nicht dem Alkohol ergeben, sondern sich mit seinen kleinen Mittelchen eindecken und berauschen. Doch offensichtlich sahen die Bürger der wohl verkommensten Stadt der gesamten USA das anders. Unauffällig warf er einen Blick auf die Uhr, die am Rathausturm befestigt war und dicke, widerlich anzusehende Rostspuren auf der Fassade hinterließ. Es war kurz vor Mitternacht. Er stand also bereits zwei Stunden hier im Park und hatte noch nichts verkauft. Das hatte es noch nie gegeben. Würde er heute wirklich ohne einen Dollar nach Hause gehen müssen?

Schritte näherten sich. Schlurfend und unregelmäßig. Misstrauisch, aber auch belustigt hob er eine Augenbraue und den Blick, spähte unter seiner Mütze hervor. Eine Gestalt, offensichtlich dermaßen betrunken, dass sie nicht mehr geradeaus laufen konnte oder wusste, welcher Fuß auf den Boden gesetzt werden musste, um sich vorwärts zu bewegen, kam auf den Pavillon zu. Angst kroch in sein Herz, beschleunigte seinen Puls. Letzten Endes war er nur ein schmächtiger Kerl ohne Kampferfahrung. Wenn es hart auf hart kam, wusste er nicht, ob er sich wehren konnte.

Dennoch hoffte er ein ums andere Mal, dass alles gut gehen würde. Immerhin versuchte er, den Bürgern dieser Stadt das Leben zu erleichtern und zu verbessern, indem er ihnen etwas gab, das ihre selbstzerstörerische Sucht linderte. Seine Finger krallten sich in die Ärmel der Jacke, und er hoffte, dass man ihnen das Zittern nicht ansah. Die Gestalt näherte sich; sie schien nicht mehr ganz Herr über die eigenen Sinne zu sein, als sie schlussendlich schwankend und stinkend vor ihm stehen blieb.

»Was willst?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhig und abgebrüht klingen zu lassen.

Sein Gegenüber lallte etwas, aber er verstand es nicht.

»Komm, sag’s noch mal, ohne Kotze im Maul«, gab er sich mutiger, als er war.

Wieder kam ein sehr undeutliches Wort aus dem Mund des Besoffenen.

Er verdrehte die Augen – sollte das ein grausamer Scherz des Schicksals sein, oder was? Sein einziger Kunde war zu betrunken, um sich klar auszudrücken? Großartig, einfach großartig. Neugierig und auch abfällig musterte er den Mann vor sich. Sein Gesicht kam ihm nicht bekannt vor, was nicht ungewöhnlich war. Manchmal verirrten sich einige in diese verkommene Stadt oder besuchten Verwandte, um dann erst wieder ein Jahr später auf der Bildfläche zu erscheinen, wenn der nächste Anstandsbesuch zu erledigen war. Sein Blick wanderte über die Kleidung des Typen. Sie war fein, wirkte teuer, wies aber Flecken und Brandlöcher auf, was eine Einschätzung erschwerte. Koks oder Amphetamine? Schnee oder Ampulle? Wahrscheinlich eher Ampulle, für alles andere mangelte es an Koordination. Sein Gegenüber nicht aus den Augen lassend, angelte er in einer seiner Jackeninnentaschen nach eine Ampulle mit durchsichtiger Flüssigkeit und streckte die Hand aus.

»Ohne Moos nichts los, ne?« Dass das einer der dümmsten Sprüche gewesen war, die man einem Kunden an den Kopf werfen konnte, wenn man Geld verlangte, war ihm bewusst, allerdings auch egal.

 

Der Betrunkene zog ein Bündel Geldscheine hervor und warf sie ihm entgegen, was ihn dazu veranlasste, jenem das Tütchen vor die Füße zu werfen. In dem Moment, in dem die Ampulle durch die Luft segelte, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wenn der Typ umfiel, musste er ihm helfen, aufzustehen. Das gebot die Höflichkeit und der gegenseitige Respekt einer Geschäftsbeziehung. Abgesehen davon war es schädlich für’s Geschäft, wenn er ihn vor dem Pavillon liegen ließe. Mit dem Gestank würde er alle potentiellen Kunden vertreiben.

Doch der Mann überraschte ihn. Erstaunlich sicher auf den Beinen bückte dieser sich, nahm die Ampulle an sich und schlurfte von dannen.

Mit spitzen Fingern hob er das Geldbündel auf – die Scheine waren feucht von Schweiß und anderen Dingen, die er sich lieber nicht vorstellen wollte. Angewidert steckte er das Geld in die Hosentasche. Hoffentlich waren die anderen Kunden etwas weniger widerlich.

Der nächste Interessent ließ nicht lange auf sich warten. Ein großer, fast schon riesiger Kerl kam hocherhobenen Hauptes auf ihn zu. Im Mondlicht schimmerte sein Haar hell – er musste also blond sein oder früh ergraut. Angesichts der fehlenden Falten wohl eher Ersteres. Seine Nase war dabei so hoch in den Himmel gereckt, dass bei Regen jegliche Nasenspülung obsolet war. Das würde Mutter Natur erledigen. Oder hatte Goldilocks Angst, dass sein Gehirn aus dem Nasenloch rutschen könnte, wenn er den Kopf wie ein normaler Mensch hielt? Musste wohl ein ziemliches Erbsenhirn sein!

Argwöhnisch musterten die beiden sich – Blondie schien nicht sonderlich beeindruckt von ihm zu sein. Nicht, dass es ihn kümmerte.

»Hast du Stoff?«

Täuschte er sich, oder verstellte Blondie die Stimme, damit er ihn nicht erkannte? Himmel, in dieser Stadt kannte jeder jeden! Und solange sie sein Gesicht nicht sahen, konnte ihn keiner des Dealens bezichtigen und anzeigen. Das war der einzige Grund für seine Maskerade. Es gab hier nur einen Unterschied: Ihm fiel beim besten Willen der Name des Idioten nicht ein, der vor ihm stand.

»Ich bin kein Schneider, musst dich schon präziser ausdrücken«, gab er zurück, wenn auch mehr durch Verärgerung angestachelt als durch Mut.

»Alter, willst du mich verarschen? Ich bin nich hier, weil ich nen Nachtspaziergang so schätz. Hast du jetzt was oder nich? Man erzählt sich, bei dir gibt’s den besten Stoff der Stadt!«

Beinahe hätte er gelacht. Bester Stoff der Stadt? Warum waren seine Taschen dann noch so voll? Weil sie ihm den Pavillon einrannten? Sicher nicht. Doch er würde sich hüten, diese Pfeife nach dem Grund des Ausbleibens seiner Kundschaft zu fragen. So tief war er noch nicht gesunken.

»Was willst haben?«, fragte er zurück, bevor Blondie etwas noch Bissigeres antworten konnte und er seinen Kunden verlor.

»Was haste?«

»So funktioniert das nich. Du sagst mir, was du willst, und ich geb dir das.« Langsam verlor er die Geduld mit Goldilocks. Was war mit diesem Kerl? War sein Schwanz so klein, dass er sich anderweitig profilieren musste?

»Ich würd’s gern schneien lassen«, sagte Blondie. Er wackelte mit den Augenbrauen. »Geht dich zwar nichts an, aber ich lass es heut Abend noch krachen, und da dacht ich, weiß und weiß gesellt sich gern. So ne verschneite Spitze soll schon was hermachen, hab ich gehört.«

Kurz stutzte er, wusste nicht, was Goldilocks meinte, bis er das anzügliche Grinsen auf dessen Visage bemerkte. Widerlich, wenn auch nicht uninteressant. Für einen Moment wünschte er sich den Betrunkenen zurück, der wenigstens nicht so einen verachtenswerten Blödsinn von sich gegeben hatte. Um die Sache schnell hinter sich zu bringen, zog er ein Beutelchen mit weißem, feinen Pulver hervor und reichte es dem jungen Mann. Der drückte ihm schon beinahe gönnerhaft mehrere Geldscheine in die Hand und ging mit derselben hocherhobenen Haltung davon, wie er gekommen war.

Nachdenklich blickte er ihm nach. Bei ihm war es nicht schade, wenn das Zeug ihn töten würde, fand er. Wobei er dann einen Kunden verlieren würde – was aber nicht viel änderte. Es kam kaum einer zweimal zu ihm, geschweige denn dreimal. Seine Mittelchen mussten also wirken und sie von ihrer Sucht befreien. Und das war es ja letzten Endes auch, was er wollte.

Schiefer Gesang und eine Wolke süßen Parfums drangen zu ihm herüber. Der Pavillon war das Zentrum des Stadtparks, mitten am See. Im Mondlicht leuchtete er weiß durch die Dunkelheit und war nicht zu verfehlen – wohl auch der einzige Grund, warum ihn die Menschen dieses Sündenpfuhls fanden.

Das Geklacker von hohen, aber abgelaufenen Absätzen klang von dem gepflasterten Weg herüber. Ab und zu knirschte es, wenn die Frau vom Weg abkam und auf den Kies trat – kein schönes Geräusch. Dazu der Gesang, der von keinem großen Talent zeugte. Da man so etwas auch als psychologische Waffe nutzen konnte, wappnete er sich gegen das Schlimmste. Eine junge Frau mit völlig zerzausten Haaren und verschmierten Make-up kam auf ihn zugestöckelt. Nüchtern war sie sicher nicht mehr, aber dafür sehr gut gelaunt. Er kniff die Augen zusammen, versuchte sie zu erkennen, doch ihr Gesicht kam ihm nicht bekannt vor. War sie eine der Damen des Varietés? Das wäre zumindest eine schlüssige Erklärung, warum er sie nicht kannte. Er verkehrte immerhin nicht in solchen Etablissements!

»Hallooooo Süßer«, hauchte sie und versuchte die Treppen des Pavillons hochzusteigen. Doch da sie nicht mehr ganz klar war, rutschte sie schon an der ersten Stufe ab und landete im Rosenstock nebenan. Er verdrehte die Augen. Kein Wunder, dass er sich nicht mit diesen Damen abgab!

Ihre Beine wurden von den Dornen zerkratzt, doch sie lachte, als würde sie gekitzelt werden. Ein wenig amüsiert lächelte er auf sie herab.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er und hoffte auf ein Nein. Er wusste ja nicht, ob sich Geschlechtskrankheiten auch über Hautkontakt übertragen konnten. Wer konnte wissen, was dieses Fräulein schon alles berührt hatte? Da ging er kein Risiko ein. So weit reichte seine Nächstenliebe nun wirklich nicht.

»Neiein«, kicherte sie. Ihre Beine wackelten dabei, und sie verlor einen Schuh. Genervt stöhnte er auf. Heute Nacht war der Wurm drin, eindeutig.

»Sicher?«

»Ich will fliiiiiiiiegen!« Sie kicherte wieder und verlor den zweiten Schuh. Nicht, dass es seiner Meinung nach ein Verlust war. Die Schuhe hatten ihre besten Tage lange hinter sich, und bequem sahen sie auch nicht aus. Der rote Lack war an vielen Stellen abgeplatzt und abgeschmackt. Die Pfennigabsätze waren so heruntergelaufen, dass das Metall nicht mehr durchschimmerte, sondern dominant hervorstach. Und wenn er es richtig gesehen hatte, hatten sie vorne an den Zehen kleine Löcher. Vielleicht sollte er ihr seine Halbschuhe hinstellen. Die waren vielleicht einige Nummern zu groß, aber immerhin keine Mordwerkzeuge! Sie kicherte immer noch, und er seufzte. Möglicherweise war es besser, die Nacht einfach zu beenden und abzuschreiben. Die Aussicht auf sein Bett war verlockend, und seine Nerven würden es ihm danken.

»Willst du nicht erstmal aus diesem Rosenbusch herauskommen, bevor du fliegen möchtest?«

»Ooooh, ich möchte auf Rooooosen fliiiiiegen«, hauchte sie, und ein hohes, albernes Kichern folgte. Das war definitiv nicht die Wirkung von Alkohol, nicht nur. Er fühlte sich nicht wohl dabei, ihr noch etwas zu geben, was ihr Bewusstsein auf andere Weise erweitern würde – nachher glaubte sie wirklich noch, sie könne fliegen, und sprang vom Dach des Rathausturms! Allerdings konnte er sie auch schlecht so überdreht liegen lassen, oder? Auch wenn seine Mittelchen keinerlei Wirkung haben sollten, man durfte die Macht der Suggestion nicht unterschätzen, und ein Placeboeffekt war immerhin nicht von schlechten Eltern, wie er selbst schon oft beobachtet hatte.

»Willst du dich vielleicht ein wenig … abkühlen und runterkommen?« Er musste ihr einfach helfen. Vielleicht ein Bad im See?

»Oh, ja! Ich möchte im Moooondliiiiicht baden.« Sie kicherte erneut und rülpste undamenhaft. Er verdrehte die Augen. Großartig. Einfach großartig.

Mit einem Sprung war er unten bei ihr – es waren ja nur wenige Stufen, und die konnte man ohne High Heels problemlos überspringen – und griff nach ihren Armen. Sie fühlte sich kalt an, ein leichter Schweißfilm lag auf ihrer Haut. Zusammen mit ihrem sehr süßen, sehr schweren Parfum sorgte das für Gänsehaut, aber nicht die angenehme Art. Sie widerte ihn an, wie die meisten Frauen ihrer Art. Immerhin leistete sie keinen Widerstand, als er sie auf die Beine zog. Wacklig und desorientiert klammerte sie sich an ihn und strich ihm über die Brust. Sowohl sie wie er keuchten überrascht auf. Als sie Anstalten machte, ihre Hände unter seine Jacke und sein Hemd zu schieben, stieß er sie von sich. Erneut landete sie im Rosenbusch, doch dieses Mal würde er ihr nicht hochhelfen.

»Ekelhaftes Weib!«, grunzte er. Er angelte in seiner Tasche nach einem Tütchen voller Gras und schüttelte es. Sollte er ihr das einfach zustecken? Oder sollte er ihr helfen, sich damit zu entspannen? Nachdenklich musterte er die junge Frau, die nun jegliche Hemmungen verloren zu haben schien und ihm viel mehr Einblick in gewisse Regionen gewährte, als er jemals haben wollte.

»Das haaaaast du siiiiicher noch niiiiie so gesehen«, giggelte sie. »Außer du hast einen Spiegel hiiiingehalten.« Ihr irres Kichern nahm ihm die Entscheidung ab. Kurzerhand warf er ihr das Päckchen auf die entblößte Stelle ihres Bauches, denn durch den zweiten Sturz war ihre Bluse verrutscht, und beschloss, nach Hause zu gehen. Diese Nacht war eine Verschwendung gewesen: an Zeit, an Nerven, an Ressourcen.

Hoffentlich wurde es morgen besser.

Kapitel 2: Nackte Tatsachen

Staub tanzte durch die Luft, erleuchtet vom Sonnenlicht. Er kitzelte sie in der Nase, doch Josephine versuchte, nicht zu niesen. Sie kannte sich. Wenn sie das tat, würde sie den Tee verschütten, auf den ihre Mutter wartete. Ein weiterer Beweis ihrer Unfähigkeit – zumindest wenn es nach der Frau ging, die ihr die letzten Jahre zu erklären versucht hatte, dass sie niemals alleine ohne ihre Mutter überleben konnte. Seit ihr Vater verstorben war, konzentrierte sich die komplette Aufmerksamkeit auf Josephine, was ihr nicht gerade gefiel. Ihre Mutter legte ihr die Kleidung zurecht, die sie morgens anzuziehen hatte, bestimmte ihre Frisur, das wenige, leichte Make-up und vor allem, wo sie wann hinging. Insgeheim bezeichnete sich Josephine als Porzellanpüppchen ihrer Mutter, denn genauso wurde sie behandelt.

Abgesehen von den Aufgaben, die sie ihr zuteilte. Alles, was ihre Mutter nicht mochte, musste Josie erledigen: Kräuter mahlen, zu Pillen drehen, Säfte und Tinkturen anrühren sowie die Inventarlisten aktuell halten.

Ihre Mutter hingegen plauderte und schäkerte mit den Kunden, flirtete hier und da mit einem Mann – gelegentlich auch mit einer der Damen des Varietés – und schien zu einer völlig anderen Person zu werden. Josephine gegenüber lächelte sie nicht oft, sprach kaum ein nettes Wort, wenn es nicht sein musste, doch sobald ein Kunde den Laden betrat, war sie wie die strahlende Sonne an einem verregneten Sonnabend. Es war unfair, doch es ließ sich nicht ändern.

»Wo bleibt mein Tee? Bis du mir den gebracht hast, hätte ich ihn selber zubereiten, aufbrühen und trinken können! Ich hoffe für dich, dass er nicht schon kalt geworden ist! Dann kannst du ihn direkt noch mal machen!«, keifte ihre Mutter Dorothy, kaum dass Josephine den Ladenbereich des Hauses betreten hatte. Ihre Eltern hatten die Apotheke ihres Großvaters geführt, als dieser in den Ruhestand gegangen war. Sie war laut Erzählungen ihres Vaters schon seit Jahrzehnten, wenn nicht schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz und sollte es auch bleiben.

Wenn es nach ihrer Mutter ging, war sich Josephine nicht so sicher. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter ihr erlauben würde, jemals etwas alleine zu tun, geschweige denn eine Apotheke zu führen. Mit bemüht ausdrucksloser Miene reichte sie ihrer Mutter die Tasse und dankte stumm allen Heiligen, dass es noch aus dem Becher dampfte.

»Der Tee ist lauwarm.«

War das jetzt eine Feststellung? Ein Vorwurf? Josie kniff die Augen zusammen, während sie über die Aussage ihrer Mutter nachdachte.

»Kneif die Augen nicht so zusammen, das gibt nur Falten und macht hässlich.« Die kalte Stimme ihrer Mutter hätte den letzten Rest Wärme aus dem Tee ziehen können, doch natürlich zerbrach nur etwas in ihrem Inneren. Bevor Josie etwas sehr Dummes sagen oder sich anderweitig in Schwierigkeiten bringen konnte, ertönten draußen laute Martinshörner. Mehrere Polizeiautos schossen an der Apotheke vorbei. Die Menschen strömten aus den Gebäuden und versammelten sich auf dem Gehweg. Ihre Blicke und Mienen zeugten von Sensationsgier und Angst – eine gefährliche Mischung. Josie sah sich nach ihrer Mutter um, die das alles kalt zu lassen schien. Ruhig trank sie ihren Tee. Ein Schaudern durchlief Josie. Das war nicht normal – weder die vielen Polizeiwagen noch die Reaktion ihrer Mutter.

 

Der grelle Schrei hätte den Toten in seinem Bett wecken können. Zack strich sich über die Bartstoppeln, während er nachdenklich an der Zigarette zog, die im Mundwinkel hing. Sie waren überrascht gewesen, wie schnell er am Ort des Geschehens aufgetaucht war – Kunststück, wenn man die Nacht drei Zimmer weiter verbracht hatte. Danach fragte aber natürlich keiner. Die Polizisten, unfähig wie sie nun mal waren, suchten nach Indizien, nach etwas, das sie auf die Spur des Mörders brachte. Ausnahmslos gingen sie davon aus, dass es sich um einen Mord handelte. Am liebsten hätten sie auch die junge Frau verhaftet, die mit weit aufgerissenen Augen und grotesk verschmierten Make-up auf dem Boden kauerte und wimmerte. Immerhin schrie sie nicht mehr wie am Spieß, das konnte er nur begrüßen. Wahrscheinlich war ihr die Puste ausgegangen und sie deshalb verstummt. Zack nahm noch einen tiefen Zug der Zigarette, drückte sie dann an der schäbigen Holzverkleidung der Wand aus – wobei er den Stummel einfach zu Boden fallen ließ – und näherte sich dem Toten auf dem Bett. Prüfend wanderte sein Blick über den nackten, viel zu weichen Körper des Mannes. Abgesehen davon, dass er nichts von körperlicher Ertüchtigung zu halten schien, besaß er einen klassischen Wohlstandsbauch und darüber hinaus offenkundig Bedürfnisse, die zuhause nicht gestillt wurden. Belustigt fiel Zacks Blick auf das kleine Etwas zwischen seinen Beinen, das verklebt war und weißlich schimmerte.

»Zumindest ist er nicht unbefriedigt gestorben«, murmelte er. Anzeichen von Gewalteinwirkung konnte er nicht erkennen, aber auch sonst nichts Auffälliges. Das war mehr als nur merkwürdig. Vielleicht hatte sein Herz versagt und war stehen geblieben – sollte ja vorkommen, wenn man es mit der Fitness nicht so genau nahm.

»Haben Sie was gesagt, Sir?«, fragte ihn einer der Polizisten, der unter dem Bett nach Spuren suchte. Was hoffte er dort zu finden? Ein benutztes Präservativ? Eine Waffe mit Schild, das darauf verwies, die Tatwaffe zu sein? Zack schnaubte verächtlich. Kein Wunder, dass die letzten Morde nicht von der örtlichen Polizei aufgeklärt worden waren.

»Nein.« Es war ihm nicht möglich, dabei neutral oder nett zu klingen. Zack beugte sich über die Leiche und öffnete ihren Mund.

»Sir! Sie können die Leiche nicht ohne Handschuhe anfassen!«, rief ein anderer Polizist entsetzt.

Zack verdrehte die Augen und hob die Hand, mit der er gerade den Mund geöffnet hatte. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh, der zwar schon bessere Tage gesehen hatte, aber seinen Zweck erfüllte. Ein Blick reichte, und der Polizist wandte sich geschäftig wieder der Suche nach Spuren zu.

Immer wieder klickte die Kodak-Kastenkamera der Spurensicherung. Nervig, einfach nur nervig, wenn man Zack fragte. Tat aber natürlich keiner. Er beugte sich noch weiter nach vorne, so dass er in den Rachen hineinriechen konnte. Tief sog er die Luft ein, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Nichts, was sich einem Gift zuordnen ließ.

»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte ihn der Polizist, der noch immer unter dem Bett nach Spuren suchte.

»Mehr als du wahrscheinlich«, gab Zack leise zurück. Er drehte eine neue Zigarette und steckte sie an. Qualmend trat er einige Schritte zurück und nuschelte undeutlich durch die Kippe. »Was dagegen, wenn ich mir die Fotos ausleihe, wenn sie fertig sind? Dann kann ich mir das sparen. Also macht sie sorgfältig und gut.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinüber zu der jungen Frau und kniete sich neben sie. Ihr blondes Haar war zerzaust, sie wirkte desorientiert und noch immer etwas benebelt. Zacks Blick wanderte erneut zum Bett. Nicht, dass er es nicht verstehen konnte, dass man sich bei so jemanden zudröhnen wollte, um das über sich ergehen zu lassen; dennoch warf es einfach kein gutes Licht auf sie. Er musterte sie – und runzelte die Stirn. Ihre roten Schuhe waren abgetragen und schon lange bereit, aussortiert zu werden. An vielen Stellen war das Leder abgeplatzt, auch die Sohle hatte schon bessere Tage gesehen. Hatte sie doch die Finger im Spiel, um an das Geld ihrer nächtlichen Gesellschaft zu kommen? Oder war sie unschuldig und einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

»Wie heißt du?«, fragte er sie leise. Die junge Frau wiegte sich mittlerweile wimmernd vor und zurück. In ihren Augen konnte er abgrundtiefes Entsetzen lesen. Er streckte die Hand nach ihr aus – doch kaum berührten die Finger ihren Arm, schrie sie wieder. Zacks Ohren klingelten, als ihre Stimme in ihnen schrillte. Ob er seine Sekretärin Mabel bitten sollte, die Befragung zu übernehmen? Gewöhnlich übernahm sie derartige Tätigkeiten nicht, doch sie war sensibler als er – und fähiger als die Polizei allemal.

»Olga.«

Zack stutzte. Was?

»Olga. Ich heiße Olga.« Sehr leise, fast nur ein Wispern. Die junge Frau starrte ihn an, schien auf eine Reaktion zu warten. Zack schluckte, rückte seinen Kragen zurecht. Mit einem Mal fühlte er sich überfordert. Unter der dicken Schicht Schminke schimmerte ein unschuldiges Mädchen durch, nun, so unschuldig man bei dieser Art Beruf nun einmal sein konnte.

»Hallo, Olga.« Er versuchte ein Lächeln. »Ich bin Zack.«

Er hob nur die Hand und winkte. Sie zu berühren, wagte er nicht. Nicht, dass sie wieder losschrie. »Möchtest du mir erzählen, was hier passiert ist?«

»Ich … wir …« Ihr Blick huschte zum Bett, Abscheu huschte durch ihre Augen. »Er ist tot.«

»Schlaues Mädchen, das sehen wir selbst«, grunzte der Polizist, der schon wieder unter dem Bett lag – oder immer noch?

»Erzähl mir, wie es dazu kam«, bat Zack sie.

»Was soll schon passiert sein?«, mischte sich eine laute, leicht rauchige Stimme ein.

Zack schloss die Augen. Lissy hatte ihm gerade noch gefehlt! In einer Wolke leichten, süßlichen Parfums schwebte sie herein. Burschikos gekleidet und doch auf ihre Weiblichkeit bedacht – sofort war sie sich aller Männerblicke sicher. »Sie haben gevögelt und entweder ist ihm das Herz auf natürliche Weise stehen geblieben oder sie hat nachgeholfen. So einfach ist das.« Für die Reporterin der Sorrowville Gazette schien der Fall klar zu sein, noch bevor sie sich Einzelheiten gewidmet hatte.

»Eben nicht. Genau das glaube ich nicht«, gab er verärgert zurück. Es gefiel ihm nicht, dass sie sich einmischte. Ihr Verhältnis war in den vergangenen Wochen etwas abgekühlt, und sie hatten sich nur selten gesehen. Rund um die schauderhaften Ereignisse auf dem Green Wood Cemetary waren sie sich so nahe gekommen wie seit Jahren nicht, doch kurz darauf war sie auf Distanz gegangen. Unter dem Deckmantel der Berichterstattung für die Gazette lief sie ihm dennoch oft genug über den Weg. Aber nur, weil sie ihm bei der Sache mit den Untoten geholfen hatte, bedeutete das nicht, dass sie von nun an Partner waren, weder in beruflicher noch in privater Hinsicht. Zack wusste nicht, ob er das bedauern sollte. Lissys perfektes Styling stand in einem solchen Gegensatz zu Olgas derangiertem Erscheinungsbild, dass Zack das Bedürfnis verspürte, die junge Frau aus dem Raum zu schaffen und dafür zu sorgen, dass sie sich besser fühlte.

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