Fairytale gone Bad 4: Die Schwefelbraut

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Z serii: Fairytale gone bad #4
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Fairytale gone Bad 4: Die Schwefelbraut
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Fairytale

gone bad

M. H. Steinmetz

Die

Schwefelbraut

Content Notes

Nicht geeignet für jüngere Leser.

#gewalt #sexuelle sprache

© 2020 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Herausgeberin und Lektorin der Reihe: Michaela Harich

Umschlaggestaltung: Viktoria Lubomski Design

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-151-3

Printed in the EU

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/20

Widmung

Für Anette, denn war es nicht märchenhaft, wie wir uns kennenlernten?

Auf ewig und darüber hinaus!

Dank

An Michaela und den Amrun Verlag für die Chance, mein Märchen beisteuern zu dürfen.

An Doris, die stets an mich glaubt und mir die notwendige Kraft schenkt, weiterzumachen.

Prolog

»Sie hat sich erwärmen wollen!« sagte man.

Niemand ahnte, was sie Böses gesehen hatte, in welchem finsteren Glanze sie mit der Mutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.

Es war einmal ein altes Herrschaftshaus auf einem sturmumtosten Berg in einem angstvoll zusammengekauerten Dorf, umgeben von den finsteren Wäldern der Karpaten, wo die Bäume tagein tagaus vom Wind gebeutelt knarrten, als wollten sie finstere Sprüche weben. Es gab keine befestigte Straße, sondern nur einen mühsam aus dem Wald gehauenen Weg, der jedes Frühjahr erneut freigeschnitten werden musste. Inmitten des von Hunger und Entbehrung geplagten Dorfes erhob sich das erhabene Herrenhaus. Grau wie der winterliche Himmel, mit Fenstern, die kleinen, finsteren Augen glichen. Es war ein glückloser Ort, in den Bredica hineingeboren wurde, um eines Tages die Herrin über dieses kümmerliche Fleckchen Erde zu werden, denn andere Kinder hatten die Herrschaften nicht. Doch es sollte anders kommen ...

Das Unglück nahm seinen Anfang mit einem Loch in der Kellerwand. Als Mutter während einer stürmischen Gewitternacht nach von einem seltsamen Traum geplagt und einer düsteren Vorahnung folgend nach unten stieg, hatte sie es gefunden. Gähnende Finsternis hatte sich in den Steinen aufgetan.

Dazu musste man wissen, dass Mutter eine heilkundige Hexe war, die den Menschen bei dem einen oder anderen Zipperlein mit Kräutern und guten Sprüchen half oder bei Hochzeiten und Geburten ihren Segen spendete. Einst im Wald geboren, blieb sie ihr Leben lang der Natur zugetan, so finster er auch sein mochte. Und die Dunkelheit war es, der sie sich in den letzten, harten Jahren zugewandt hatte.

Es gab nur eine Erklärung. Finstere Mächte hatten ihr das Loch in der Wand geschenkt, um ihren Zaubern mehr Macht zu verleihen, da sich Krieg und Krankheit ihren Weg durch den Wald in die abgelegene Bergwelt bahnten und sie stark sein musste für das, was kam. Allerdings wurde das Loch auch gegeben, um mit ständig wachsender Gier zu fordern. Ein finsterer Schlund, der Licht und Lot trotzte, wollte man es erforschen. Es schien, als hätte sich eine endlose Nacht aufgetan, von einem unersättlichen Hunger geplagt.

So wuchs es mit säuselnder Stimme und vagen Versprechen, forderte mehr und mehr und wurde doch nicht satt.

Erst fraß es das Dorf, in dem jeder durch das böse Odem des Lochs verpestet in Missgunst mit dem anderen lebte, danach das herrschaftliche Haus selbst. Letztendlich, als Hunger und Krieg über das Land zogen und die Bauern mit Fackeln und Mistgabeln den Berg erstiegen, um das Herrenhaus mitsamt der schwarzen Hexe niederzubrennen, alles, was sie an Besitztümern angehäuft hatten.

Ein schäbiger, hastig gepackter Koffer, sowie das nackte Leben – mehr war ihnen nicht geblieben.

Ein Schiff brachte sie über ein endloses, sturmgepeitschtes Meer, dessen Wogen sie an die Berge der Heimat erinnerten. Das sich aufbäumende Wasser war von Gischt gekrönt und grau wie frisch gegossenes Blei. Unerbittlich und zerstörerisch schön. Eine tödliche Urgewalt, gegen die das knarrend schwankende Schiff mit müh und Not bestand. Wogen, die sie in ein fremdes Land fernab der Heimat brachten, ohne Hab und Gut.

Mutter hatte das Loch mitgebracht, denn sie konnte sich nicht mehr von ihm lösen. Einmal der Finsternis die Hand gereicht, ließ sie einen nie mehr los. So klaffte es also im Keller des feuchten, zugigen Hauses am Ende einer schmutzigen Gasse, das in der neuen Welt jenseits des Meeres zu ihrem Zuhause geworden war. Es war das Einzige, was ihnen geblieben war und das Einzige, was sie nicht loszuwerden vermochten, so sehr sie es sich auch wünschten.

Es wuchs schneller als in der Heimat, denn Stadt, Boden und Menschen waren hier bis aufs Mark verdorben. Abfall gleich, den man in ein Loch schüttete, das den Duft der Fäulnis verströmte. Es wuchs und wuchs und formte sich zu einem gähnenden Schlund aus Finsternis und Verzweiflung, der nimmersatt genährt werden wollte ...

Da war Bredica noch ein naives Mädchen gewesen und verstand nichts von alldem, was die Erwachsenen erzählten.

31. Dezember 1862, Five Points, Hells Kitchen – New York, 4 Jahre später.

Alles hatte sich verändert, die unbeschwerten Jahre der Kindheit waren vorbei ...

»Als Mutter noch lebte«, seufzte Bredica in traumatischer Schwermut gefangen. Sie schwelgte in Erinnerungen. Sie sah ihren Vater traurig an. »Als Mutter noch lebte, gingen die wohlhabendsten Bürger bei uns ein und aus. Es war stets warm im Haus und zu essen gab’s auch!« Bredica stampfte zur Unterstreichung ihrer Worte mit dem Fuß auf.

Als Mutter noch lebte, hallte es in ihrem Kopf wider.

Mit dumpfer Stimme Litaneien murmelnd umgeben vom flackernden Schein unsteter Kerzen. Im Keller vor dem bodenlosen Schlund stehend, der Schwefel gebärt und Seelen frisst ...

Das gelbe Gut mit bloßen Händen schöpfend, mit dem roten Blut von Schweinen vermengend.

Hölzchen darin drehend untertauchend, diese erkaltet zu kleinen Bündeln knotend.

Mit Zeichen versehend, die den Ansprüchen der Bedürftigen genüge taten in mannigfaltiger Weise ...

Den Rücken gebückt, die Beine krumm ...

Die knochigen Finger vom Schwefel verätzt.

Ächzend und stöhnend ...

Augen wie geschmolzenes Silber ...

Die gegerbte Haut von Furchen durchzogen wie ein frisch gepflügter Acker ...

Als Mutter noch lebte!

Die Ohrfeige ihres Vaters traf sie hart und ansatzlos, riss sie aus ihren Erinnerungen. »Scher dich auf die Straße und komm deiner Arbeit nach, oder muss ich nachdrücklicher werden?« Wütend warf ihr der stämmige, hochgewachsene Mann den prall gefüllten Sack vor die Füße. »Und wehe, du verkaufst wieder nichts!« Er schnaufte. »Ich seh dich schon an der Ecke stehen, unter der Laterne ...«

»Dafür kann ich nichts! Das ist, weil ...« Die erhobene Hand ihres Vaters ließ sie auf der Stelle verstummen. Sie hatte am eigenen Leib erlebt, zu was er imstande war, wenn die Wut seinen Geist im Wahnsinn zerriss und der billige Fusel sein Übriges tat, den er jeden Abend soff. Der plötzliche Tod seiner Frau, Lakrima - was die Weinende bedeutete - hatte ihm die Seele aus dem Leib gerissen. Und, da war sich Bredica sicher, auch den Verstand. Zumindest hatte es für sie den Anschein, denn manchmal, wenn er sie mit diesem seltsam verklärten Blick ansah, da mochte sie denken, dass mehr dahintersteckte als pure Trauer. Dass es das Loch war, das seinen Blick verfinsterte und ihn auf düstere Gedanken brachte. Schwermut vielleicht oder Wahnsinn, auf jeden Fall aber Gewalt.

Er war auch vorher schon einer gewesen, der seinen Willen gerne mit den Fäusten durchsetzte. Der in der Küche mit dem Glas in der Hand saß und auf Arbeit wartete, anstatt rauszugehen und sich welche zu suchen. Sie wusste nicht mehr, wann er damit aufgehört hatte, erinnerte sich aber an die lautstarken Auseinandersetzungen, die er mit Mutter in der Küche geführt hatte, wenn sie ihn darauf ansprach.

»Das habe ich nicht nötig! Ich muss nicht um Arbeit betteln«, rechtfertigte er seine Lethargie. In gewisser Weise hatte er damit auch recht. Damals, in einem anderen Leben, in Rumänien, war er wer gewesen. Der Herr im großen Haus in der Mitte des Dorfes. Ein aufrechter Mann von Stand, zu dem man aufsah und zu dem man ging, wenn man Probleme hatte. Doch hier, jenseits des bleiernen Meeres, war er nur ein armer, von Gram gebeugter Schlucker, der wie tausend andere jeden Tag aufs Neue um den Krumen Brot kämpfte, den es zum Überleben brauchte.

Ihre Mutter war anders gewesen. Sie hatte sich das Finstere aus dem Keller zunutze gemacht, um sie über Wasser zu halten.

Sie hat viel geweint. Um jede Seele, die sie dem Schwefel aus der Tiefe opferte. Um jedes Leben, das im Schlund verging ...

Dennoch hat sie die Gaben mit leuchtenden Augen gerne angenommen.

Nun ist es meine Aufgabe, den unersättlichen Schlund zu bedienen, damit wir überleben können, dachte Bredica wenig begeistert und bückte sich nach dem Sack mit den Schwefelhölzern. Was sollte sie auch anderes machen?

Lakrima hatte ihr alles über das Loch in der Kellerwand beigebracht. Wie man das gelblich ätzende Gold schöpfte, es mit frischem Blut vermengte, bis es zu einem Brei wurde, in dem sie die handgeschnitzten Hölzchen drehte, bis sich eine leicht entflammbare Kappe bildete. Ein auf dem Holz sitzender Eitertropfen, der nur darauf wartete, seine sorgsam verborgene Krankheit weiterzutragen.

Es sei fortan die Bestimmung der Frauen unserer Familie, der finsteren Seele des Lochs in der Wand zu dienen, hatte sie immer gesagt. Und das Bredica bereit sein müsse für den Tag, an dem sie nicht mehr sein würde.

 

Bredica war es und wiederum nicht. Wie konnte man auch bereit dazu sein, etwas Finsteres aus dem Schlund zu fischen, dass sich in schweflig gelbes Pulver verwandelte, ausgeschissen von Satan persönlich?

Wie konnte man bereit dazu sein, Flüche auszuspucken, die den einen ins Verderben stürzen und dem anderen ein Lächeln ins Gesicht zaubern würde? Das und nichts anderes war es, was die Hölzchen in sich trugen, die sie mit Bändern zu kleinen Bündeln schnürte.

Doch das schwefelgelbe Böse war nicht immer gewillt, ihrer Mutter beizustehen. Nicht in jener Nacht, in der man ihr auf dem Nachhauseweg auflauerte. Sie auf offener Straße hinterrücks niederstach. Ihr einen hölzernen Pfahl ins Herz trieb, Gift in Mund und Rachen träufelte. Dem nicht genug schnitt man ihr den Kopf ab und verbrannte was übrig war, zu Asche, die der Wind verwehte.

Da wollte wohl jemand ganz sichergehen, dass sie sich nicht mehr von den Toten erhob, dachte Bredica. Ein Witz, wenn man bedachte, dass Nekromantie nie ihre Stärke gewesen war.

Was einmal zur Hölle fährt, das holt man nicht mehr zurück, hatte sie ihr einst erklärt. Denn die Hölle kehrt Gutes zu Bösem um, macht aus Menschen Monster!

Die Polizei des Molochs New York scherte sich einen Dreck um eine weitere Migrantenleiche in den Straßen von Five Points. Mehr noch, man feierte den Tod der ausländischen Hexe, wie man die schwarz gekleideten und strenggläubigen Frauen aus Osteuropa spöttisch schimpfte. Die Mehrzahl der Polizisten gehörten den Natives an, also jenen, deren Wiege auf dem amerikanischen Kontinent stand und jeden verdammten Krumen als ihr Land bezeichneten, obgleich sie es selbst von den Ureinwohnern gestohlen hatten.

Für Bredica brach in dieser Nacht eine Welt zusammen, denn man hatte ihr das Liebste auf der Welt genommen. Sie schwor unter Tränen am Grab ihrer Mutter, das eine billige Urne auf dem Sims über dem Kamin war, Rache an den Mördern zu nehmen.

Doch nach wenigen Tagen holte sie die bittere Realität ein, denn zuallererst hatte sie dafür zu sorgen, dass ihr Vater stets genug zu saufen hatte. Deswegen musste sie den Inhalt des Sacks, der aus gebündelten Flüchen für jeden Zweck bestand, an den Mann bringen. Und das war beileibe nicht leicht. Die meisten ihrer Kunden waren rumänische Einwanderer wie sie selbst. Gefangen in einem dichten Gespinst aus Aberglaube und dem, was die Patriarchen in den Messen predigten. Die Art und Weise von Lakrimas Tod machte die Gemeinde schwätzend. Es musste einen Grund geben, weshalb man sie gleich vier Mal ermordete, wo doch ein einziges Mal für ein irdisches Leben reichte. Daraus folgte ein mit den Gerüchten wucherndes Misstrauen, das man natürlich auch Bredica entgegenbrachte.

War sie wirklich nur eine Heilkundige?

Eine, die Dinge auf gutem Weg richten konnte?

Oder stand sie mit dem Teufel im Bunde, verdorben, bis ins Mark?

Eine Frage, die nicht beantwortet werden musste, weil jeder die Antwort kannte. Die man billigte, solang es im Verborgenen geschah und die Mittel den Zweck erfüllten. Scheinheilig war das Wort, das Bredica gerne damit in Verbindung brachte.

Und was ist mit ihrem Balg? Ist dem zu trauen, nach alldem, was geschehen ist?

Eine weitere, berechtigte Frage, wenn man sich die Umstände als ängstlich gottesfürchtige Person besah. Der schamlose Mord wurde zum Gottesurteil, die Teufelshure war gerichtet. Und was ihre Brut betraf – nun, das würden die Umstände schon richten. Jeder wusste, dass für Ausgestoßene in den Five Points die Überlebenschancen recht gering waren.

Bredica verstand die Welt nicht mehr. Oft dachte sie an die Tage zurück, in denen sie lachend mit anderen ihres Alters durch die Straßen gerannt war und allerlei Unfug angestellt hatte. Doch nun hatten düstere Wolken ihr Gemüt verfinstert. Sie konnte niemandem mehr trauen und ein jeder tat gut daran, ihr ebenfalls kein Vertrauen entgegenzubringen, was die zuvor gestellte Frage eindeutig beantwortete.

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Mama«, flüsterte sie leise in der unbeheizten Badekammer vor dem stockfleckigen Spiegel stehend. Der Winter war hart, sie hatten kein Geld, um Brennholz zu kaufen, und auch sonst lag alles im Argen. Die Feuchtigkeit kroch aus den Mauern und brachte schwarzen Schimmel, der in Ecken und Winkeln wie fettiges Haar den Rissen folgend nach unten wucherte und auf der Zunge bitter schmeckte, weil die Luft voller Sporen war. Noch ging es ihnen besser als den meisten. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, was in diesen schweren Zeiten nicht jeder von sich behaupten konnte. Doch die Uhr tickte laut und unaufhaltsam – die Frage war, wie lang sie dieses noch besaßen.

Der Spiegel zeigte ihr ein ausgezehrtes, schwarzhaariges Ding von sechzehn Jahren, das in einem abgetragenen schwarzen Kleid steckte und löchrige, ebenfalls schwarze Wollstrümpfe trug, die ihr bis über die Knie reichten. Bredica zwickte sich in die Wangen, doch ihre Haut blieb so blass wie die der Toten, die sich steif gefroren in den Gassen von Five Points unter dem Schnee stapelten. Es war in dem feuchten Raum so kalt, dass ihr Atem den Spiegel beschlug.

»Bredica, verdammt nochmal!«, polterte ihr Vater wütend von unten herauf. Sie seufzte. Es half ja alles nichts. Der gebrochene Säufer in der Küche musste versorgt werden. Er war der kümmerliche Rest dessen, was Familie bedeutete. Bredica schlüpfte in die ausgelatschten Stiefeletten, die ihr von Mutter geblieben waren, streifte die abgeschnittenen, schwarzen Wollhandschuhe über ihre schlanken Hände, und trat, den Sack geschultert, aus dem elterlichen Haus hinaus in den winterkalten Abend.

Was sie Zuhause nannten, lag am Ende einer Sackgasse, die seitlich der Cross Street abging. Die Fassaden der verbrauchten Häuser wirkten wie alte Haut, von Rissen und Narben durchzogen, hier und da löchrig, aber immer grau. Durch die besonders großen Löcher konnte man sogar die Zimmer dahinter sehen. Wo Glas in den Fenstern war, war es stumpf und angelaufen. Bredica erinnerten sie an die blinden Augen der Toten. Die Luft roch nach Teerfeuer. Ein allgegenwärtiger Gestank, der von den geteerten Planken ausging, welche die armen Leute aus den Schiffen brachen, um wenigstens etwas zum Verfeuern zu haben. In Hells Kitchen blieb nichts auf der Gasse liegen. Alles, selbst hartgefrorene Hundescheiße, fand seine Verwertung.

Gefrorene Wäsche überspannte die schmale Gasse. Die Hemden streckten die Arme aus wie in Traurigkeit erstarrte Schreckgespenster, denen das Flattern verwehrt war. Zerlumpte, düstere Gestalten scharten sich um qualmende Feuerstellen, hielten die Hände über die wärmenden Flammen. Von dort, wo sich die Cross Street mit der Orange Street kreuzte und zusammen mit der Anthony Street den menschenfressenden Molloch Five Points bildete, hallte das Lärmen unzähliger Menschen. Wenn Hells Kitchen ein Herz hatte, fand man es dort. Wie ein eiterndes Geschwür, kalt und schwarz, aber immerwährend schlagend.

Sie konnte spüren, wie es in den Straßen brodelte. Der Bürgerkrieg ging ins zweite Jahr und zehrte die Gemüter aus. Ein blutrünstiger Vampir, der die Iren direkt von den Schiffen für die Front verpflichtete, während an den Ladekränen die Särge der Gefallenen hingen, um an unbekannten Orten hastig verscharrt zu werden. Das düstere Gespenst Krieg breitete seine Schwingen über Hells Kitchen aus und machte die einfachsten Dinge unbezahlbar. Bredica fühlte, dass sich die Gangs diese Zustände nicht mehr lang gefallen lassen würden.

Zu Lakrimas Lebzeiten genoss ihre Familie in den von Migranten und Halsabschneidern bevölkerten Straßen ein hohes Ansehen. Doch nun, kaum ein halbes Jahr nach Mutters Tod, hatten sich viele Türen verschlossen. Sie galten als beschmutzt und Unglück bringend, wie die Raben, die hier allgegenwärtig auf den Dächern hockten, die aber keiner wollte. Manche wechselten gar die Straßenseite oder spuckten aus, wenn Bredica ihnen entgegenkam. Teufelsbrut war da noch einer der nettesten Namen, die man ihr hinterherschrie. Inzwischen hatte sie sich an die Beschimpfungen gewöhnt, an die Verachtung, die man ihr entgegenbrachte, jedoch nicht.

Ein verbissener Zug umspielte Bredicas Lippen, als sie aus der Seitengasse ins geschäftige Treiben hinaustrat, denn sie wusste, dass jeder hier der Mörder ihrer Mutter sein konnte. Betrunkene torkelten aus einer der unzähligen Taverns und fingen Schlägereien an. Ihre aufgedunsenen Gesichter waren rot und fleckig. Eine Tür öffnete sich und für einen Moment tönte Klaviergeklimper auf die Straße hinaus, dazu das Lachen ordinärer Weiber, die ihre ungewaschenen Körper für ein paar Pennys verkauften.

Im Dämmerlicht der fauchenden Gaslaternen wurde sie zum Schatten, der zwischen vorzeitig gealterten Häusern, deren Augen zerbrochene oder geflickte Scheiben waren, im Zwielicht verschwand. Hier war es besser, nicht gesehen zu werden, denn es gab zu viele, die noch Rechnungen mit ihrer Familie offen hatten. Viel Leid wurde ihrer Mutter zugeschrieben – abgesehen von den Eskapaden ihres Vaters, wenn der Alkohol ihn aus dem Haus trieb. Viele Frauen hatten sich von ihr Beistand erbettelt, dass ihre Männer und Söhne bald aus dem Krieg zurückkehren würden. Schwefelhölzer wurden entflammt und Sprüche gewoben. Niemand hörte auf die Warnung ihrer Mutter, die vor dem unerbittlichen Schicksal und das man nie wissen konnte, welchen Preis die Kräfte forderten, warnte. Als die Männer dann in grob gezimmerten Holzkisten oder in Säcke eingenäht zurückkehrten, gaben sie ihr die Schuld an dem großen Unglück.

Bredica mochte nicht weiter darüber nachdenken, denn je mehr sie es tat, desto größer wuchsen die Zweifel an dem, was ihre Mutter getan hatte. Unbemerkt huschte sie zwischen Bergen aus Unrat und Abfall dahin, wich einem schief stehenden Telegrafenmast aus, und –

Ein klappriger Junge von höchstens zehn Jahren sprang ihr aus einem der zerbrochenen Fenster in den Rücken. Bredica stürzte in den rußschwarzen Schnee. Zwei weitere krochen blass wie Maden aus Kellerfenstern hervor und versetzten ihr ein paar Tritte, noch ehe sie den auf ihrem Rücken abzuschütteln vermochte. Ein kurzer Pfiff ertönte, und die Burschen ließen von ihr ab, blieben aber in ihrer Nähe, bereit, erneut auf sie einzudringen.

Bredica rappelte sich auf und schlang ihre Arme fest um den Sack. Man hatte ihr aufgelauert, ihr eine Falle gestellt. Voller Angst erinnerte sie sich an das Schicksal ihrer Mutter.

Im Licht der Gaslaternen überlange Schatten werfend, traten sechs Jungen in ihrem Alter vor sie hin. Ihre an den Seiten blau gestreiften Hosen und die dunklen, langschößigen Jacken wiesen sie als Mitglieder der Roach Guards aus. Einer Bande, welche das Viertel zwischen Cross und Mulberry kontrollierte, nicht jedoch Five Points selbst.

Verdammte, irische Kakerlaken ...

Einer der Jungs, ein langer Kerl mit Zylinder auf dem Kopf, trat an sie heran. »Bredica, Bredica, Bredica ... so düster und schön wie die Nacht.« Er verbeugte sich in einer überschwänglich beleidigenden Geste vor Bredica, die geschlagen am Boden lag. »Du hast uns doch sicher was mitgebracht, ist es nicht so?«

Sein Atem roch nach faulen Zähnen und billigem Fusel, wehte ihr entgegen, als sie die dargebotene Hand annahm, die ihr auf die Beine half. Sie saß in der Falle. Hinter ihr die Kinder, rechts das niedergebrannte Haus einer illegalen Destillerie, zur Straße hin ein Haufen übelriechenden Unrats, den sie, wenn sie jetzt einen Fehler machte, bald mit ihrem niedergestochenen Leichnam bereichern würde. Sie sah sich vergeblich nach Beistand um. »Ich ... ich weiß nicht, was du meinst, Marty Brennan.«

Brennan war einer der Unterführer der Roach’s und für die Strauchdiebe zuständig. Fiese kleine Mistkerle, die weder Gefühl noch Anstand kannten, abgekauft von Waisenhäusern. Brennan konnte man durchaus für einen netten Kerl halten, wenn man ihn nicht kannte. Seine Ohrfeige warf ihren Kopf zur Seite, sie hatte den Schlag weder kommen sehen noch mit ihm gerechnet. Bredica zischte wütend auf, wich einen Schritt vor dem Jungen zurück, der ein Rasiermesser zückte. Die Finger brannten rot auf ihrer Wange nach. »Verdammt, Marty, du weißt doch ...«

Das Messer zerschnitt vor ihrem Gesicht spielerisch die Luft. »Deine Mutter ist nicht mehr, Süße ... hat übertrieben mit dem, was sie tat, kam einigen in die Quere damit ...« Er trat an sie heran. »Niemand mehr da, der dich schützt.«

Bredica konnte nicht ausweichen, denn die Kinder waren direkt hinter ihr. Sie hatte gesehen, zu was die fähig waren. Zugleich entfachten Brennans Worte eine bittere Wut, die ihre Angst vor der Klinge wegspülte. »Weißt du was darüber, ja? Wer hat sich an ihr gestört? Sag’s mir!«

 

Brennan verzog das Gesicht zu einem hinterhältigen Lächeln und legte ihr die Klinge auf die Wange, ohne sie zu schneiden. Die geringste Bewegung würde allerdings ausreichen, um ihre Haut zu öffnen. »Ich sollte dir das Gesicht zerschneiden ... nach allem, was sie uns angetan hat!«

Bredica verließ der Mut. Sie wurde starr vor Angst, denn Brennan hatte recht. Ihre Mutter hatte den Leuten von Five Points Leid zugefügt. Hatte die empfindsame Seele, die unter der verrohten Schale steckte, mit ihren Schwefelholzbündeln aufgeschlitzt, wie es gleich Brennans Rasiermesser mit ihrem Gesicht machen würde.

»Wir könnten in die Ruine gehen, könnt mich dort ein wenig um dich kümmern«, startete sie einen verzweifelten Versuch, in der Hoffnung, ihn doch zum Reden zu bringen. »Wenn das deine Zunge lockert ...«

»Nichts für ungut, Bredica«, hauchte ihr Brennan branntweinig ins Gesicht, »bist ’n hübsches Ding, aber mit einer wie dir lass ich mich nicht ein ...« Er blickte über die Schulter zu seinem Gefolge. »Am Ende beißt sie mir noch den Schwanz ab!«

Raues Gelächter.

»Mach sie endlich alle«, rief einer.

»Ich würd sie ficken, auch wenn sie kalt is’«, kam’s von einem anderen.

Brennan schüttelte jedoch den Kopf. »So einfach isses nicht.« Er stieß Bredica grob gegen die Wand, dass ihr ganz anders wurde. »Ich will da mal was wissen ... Kannst du das auch, was deine Mutter konnte? Man munkelt da ziemlich schräge Dinge ... vom Teufel und so.«

Sie rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, den sie sich an einem hervorstehenden Nagel angeschlagen hatte. Zwischen ihren Fingern wurde es warm und klebrig. »Ich war gelehrig, also, ja ...«, gab sie zu, was sowieso jeder wusste.

Und ob sie es konnte, wenn nicht sogar besser als ihre Mutter, weil sie jung war und unverbraucht. Weil ihre Seele unberührt war wie frisch geschlagene Milch. »Aber du musst dich nicht sorgen«, setzte sie schnell nach, damit es ihr nicht so erging, wie ihrer Mutter. »Wenn du mir sagst, was du weißt!«

Brennans Blick glitt anzüglich an ihr herunter, blieb an ihren Stiefelchen haften. »Nette Schuhe hast du da ... sag, schenkst du sie mir?«

Die Aussicht, nur in Strümpfen durch den Schnee der eiskalten Nacht zu laufen, ließ sie eilig den Kopf schütteln. »Das sind die Einzigen, die ich habe ... das, was mir von Mama geblieben ist.«

»Vergiss die Toten. Annie hat bald Geburtstag, da würden ihr ein paar Stiefelchen, wie diese gut stehen ...« Brennan stützte sich neben Bredica an die Wand, legte die Klinge auf äußerst nachdrückliche Weise zwischen ihre Beine. »Hast doch bestimmt nichts dagegen, mir diesen Gefallen zu tun, isses nicht so?«

Bredica wurde abwechselnd heiß und kalt. Dann nur noch kalt, als sie vor Brennan in die Knie ging, um sich die Stiefel aufzuschnüren. »Ich werd mir wegen deiner Annie den Tod holen«, flüsterte sie.

Brennan lachte. »Das will ich doch hoffen, Schwefel­mädchen!«

Unter dem Gelächter der Jungs und dem hämischen Herumgeschubse der Kinder schlüpfte Bredica aus den Stiefelchen ihrer Mutter und reichte sie dem breit grinsenden Iren. »Alles hat seinen Preis, Marty Brennan, das solltest du dir gut hinter deine abstehenden Ohren schreiben. Der deine ist das, was du mir über die Mörder meiner Mutter verschweigst!«

Brennans Knie knallte Bredica ins Gesicht, ließ ihre Lippe aufplatzen wie einen Regenwurm, den man übers Feuer hielt. Bredica stürzte einmal mehr der Länge nach hin, kassierte weitere Tritte der Kinder, die eine Chance auf Blut witternd herbeistürmten und ihrer Gewalt freien Lauf boten, bis die Bande lachend und feixend von dannen zog.

»Alles hat seinen Preis, Marty Brennan. Vergiss das nicht!«, brüllte sie ihm hinterher, warf einen Stein, der ihn weit verfehlte. »Ich werd mir holen, was du mir schuldest!« In ihrem Zorn war sie willens, den Sack zu öffnen, um das zu tun, was ihre Mutter in einer solchen Situation getan hätte, besann sich jedoch auf die Konsequenz dessen und ließ es gut sein. Zu viele Augen lasteten auf offener Straße auf ihr. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hätte, war weit höher als der Wert des irischen Jungen, der einfach nur ein dahergelaufener Schläger ohne Verstand war.

Wütend wischte sich Bredica die Tränen aus dem Gesicht. »Heute Nacht wirst du sterben, Marty Brennan ...«, keifte sie ihm voller Hass hinterher, wohl wissend, dass er sie längst nicht mehr hören konnte.

Der Inhalt des Sacks wurde zur Nebensache, denn Brennan hatte ihr einen Köder hingeworfen, den sie nur zu gerne aufnahm. Sie hatte wie ein Bluthund eine Spur aufgenommen und die führte zu Dirty Annie, der Freundin des Schlägers. Annie war wie ihr Freund irischer Abstammung und hauste in einer ehemaligen Fabrik, die vor Jahren von den Natives niedergebrannt worden war. Doch die Iren waren zähe Burschen und bauten das riesige Haus nicht nur auf, sondern untergruben es noch mit unzähligen Kelleretagen, die nichts weiter waren, als lehmige Gänge und Löcher, in denen die Ärmsten von ihnen hausten.

»Dort werde ich dich holen, Dirty Annie«, murmelte sie leise, schulterte den Sack, wischte sich das Blut aus dem Gesicht, und lief los.

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