Settembrini

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II DIE ZWILLINGE

Als der eine geboren war, wollte der Vater ihm den Namen Jeremias geben, indes der Großvater meinte, David klinge majestätisch. Aber die Mutter war für Gion Battesta, so wie der Vater hieß und wie es Brauch war. Und die andern fügten sich. Als sie sahen, dass es Zwillinge gab, kamen sie auf die Idee, den einen Gion und den andern Battesta zu nennen. Aber für die Mutter war Gion Battesta eine einzige Person, folglich bekam der zweite den gigantischen Namen Gion Evangelist Silvester. Sie glichen sich wie ein Ei dem andern, waren ein Mensch in zwei Personen, und nur die Mutter wusste, wer wer war.

Die Zwillinge sind im Spätherbst geboren, wenn der Orion hinter der dunklen Garvera emporzusteigen beginnt, und seine Sterne am Firmament wie Kristalle glitzern. Bei uns kennt niemand den Orion, obschon er das markanteste Sternbild an unserem Himmel ist. Aber auch die Riesenberge, die sie vor der Nase haben, kennen die meisten Leute kaum. Wie sollen sie da Riesensterne kennen, 1300 Lichtjahre entfernt, mit so exotischen, arabischen Namen wie aus Tausendundeiner Nacht: Alnitak, Alnilam, Mintaka, Beteigeuze und Bellatrix? Die Alten nannten Orion den Himmelsjäger. Es wird auch berichtet von einem riesigen Pferdekopf, der sich im Orion zeige, einem Wirbel aus stellarem Nebel und Staub in der unendlichen Leere vor einem rötlichen Grund. Jäger, die in diesem Zeichen geboren seien, hätten ein Auge für Kristallklüfte und würden ungern töten.

Die Zwillinge sind begeisterte Jäger und Erzähler geworden. Waren große Bewunderer des bestirnten Himmels. Wenn sie vom Himmel sprachen, leuchteten ihre Augen wie die Sterne des Orion. Und wenn sie von Gemsen sprachen, funkelten ihre Augen und die Augen der Zuhörer. Ist es mit den Gemsen doch so wie mit den Sternen: Je länger man schaut, desto mehr sieht man, und desto mehr kommen noch zum Vorschein. Bloß dass man bei den Sternen immer mehr sieht, je dunkler es wird, und bei den Gemsen umgekehrt: je heller es wird, desto zahlreicher werden sie. Und wenn er von Gemsen und Sternen erzählte, kam Gion Evangelist Silvester unweigerlich auf den von ihm hochverehrten Plinius zu sprechen, und zwar auf die Stelle, wo Plinius vom Elefanten berichtet, gleich nachdem er den Menschen behandelt hat:

«Das größte unter den Landtieren und dem Menschen an Verstand zunächst stehend ist der Elefant, denn er versteht die Sprache seines Landes, gehorcht den Befehlen, behält die erlernten Verrichtungen, zeigt Freude an Liebe und Ruhm und ist, was selbst beim Menschen selten ist, rechtschaffen, klug, gerecht und hat religio quoque siderum, Ehrerbietung für die Gestirne.»

Sagt, ist das nicht wundersam?

Auf der Jagd sah man die Zwillinge nie beisammen. Wenn einer auftauchte, wusste man nie, welcher es war. Einer hatte ein rotes Tuch um den Hals, der andere ein graues, und zwischendurch tauschten sie die Halstücher. Das machte die Leute zugleich verwirrt, ärgerlich und neugierig. Einzig am Bauchnabel hätte man die beiden unterscheiden können. Aber Bergler zeigen ihren Bauch niemals her.

In Tat und Wahrheit waren sie zwei vollkommen verschiedene Menschen, und nur die Unsicherheit der andern machte sie einander gleich und der eine Übername, den die Leute den beiden gegeben hatten: Settembrini.

Settembrini schien nur ein einziger Jäger zu sein. Er formte Menschen nach seinem Ebenbild und Gemsen nach seiner Fantasie.

Die Gemsen werden im Zeichen der Zwillinge geboren. Um zu gebären, verlassen die Geißen das Rudel. Das Kitz vom Vorjahr wird mit Läufen und Krucken verjagt. Es begreift das nicht. Immer wieder möchte es zur Mutter zurück. Die Geiß bleibt unerbittlich. Der Jährling muss von einem Tag auf den andern selbständig werden. Es gibt kein Zurück. Verloren und orientierungslos, allein oder mit ihresgleichen irren die Halbwüchsigen in der Gegend herum ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.

Die Geiß steht da mit offenem Maul. Ihre Flanken bewegen sich in raschem Rhythmus. Sie legt sich hin, quält sich, presst, drückt, fünfzehn, zwanzig, dreißig Minuten lang. Mit erhobenem Kopf und aufgesperrtem Maul treibt sie das Kitz aus. Sie, das Tier, ächzt vor Schmerzen. Kaum ist das Neugeborene auf der Erde, erhebt sich die Geiß, wendet sich um mit heraushängender Nachgeburt. Eingehend beriecht sie das Kitz, beleckt und betrachtet es, staunt über das, was sie gemacht hat. Dann versucht sie, dem Kitz mit ihren Vorderläufen und Krucken aufzuhelfen. Nach drei, vier Minuten hebt es seinen Kopf und versucht, auf die Läufe zu kommen. Die Mutter hilft, stößt, stützt. Nach zehn Minuten steht es auf seinen langen, dünnen Läufen, nass und glitschig. Mehrmals knickt es ein. Steht wieder auf, versucht den ersten Bocksprung.

Nach zwanzig Minuten verlassen Geiß und Kitz den verschmierten Setzplatz und steigen in die schützenden Felsen hinauf.

Die Jäger meinten, der Name Settembrini komme von «September». Sie haben nur den September im Kopf, und ein bisschen Moos. Die Jäger wären auch fähig zu behaupten, dass «Mescalero» von mescal, Moos komme. Jäger sind nix im Erklären von Namen. Niemand wusste, woher der Name Settembrini kam. Hätte sich auch von sittar, schießen, oder von brin, braun herleiten können, entweder wegen der dunklen Haut der Zwillinge oder wegen der Eule der Minerva, von der Gion Evangelist Silvester sagte, dass sie ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung, enten far brin, beginne. Dem Gion Battesta imponierte der Rabe von Crestliandras mehr als die Eule der Minerva. Der Rabe sei ein Singvogel, der seine Heiserkeit nicht loswerde, die Antwort der Natur auf die romanischen Chöre.

Settembrini hätte auch der Name eines Gewehrs sein können oder eines Zaubers. Er bedeute jedoch nichts. Jedenfalls wecke dieser Name aber die Fantasie. «Was die Fantasie weckt, ist gut. Wegen seiner Fantasie glaubt der Wildhüter nicht, dass Settembrini nur erlaubte Tiere schieße. Das widerspricht meiner Theorie, dass Beamte keine Fantasie hätten.»

Das Stichwort ließ ihn sogleich vom Thema abschweifen. «Am meisten Fantasie haben die Kinder. Darum sind Kinder eine potenzielle Gefahr, und deshalb wird ihnen die Fantasie ausgetrieben – ihnen, die mit dem Tornister und voller Begeisterung in die erste Klasse kommen und angeödet die letzte verlassen.» Zum Thema Schule fiel ihm nicht viel Gutes ein. Die Besten seien die, die wüssten, ohne zu lernen. Er hielt mehr vom Hokuspokus des Weihwassers als von den Weihen der Pädagogik.

Er war ein Heide wie die Sonne.

Settembrini war bald ein Intellektueller, bald ein Handwerker. Je nach Farbe des Halstuchs. Er konnte zwei Dutzend Wörter zu einem ordentlichen Gedicht zusammenfügen, aber auch einen Stoß Bretter zu einem soliden Fußboden. Er konnte Homer interpretieren, aber auch eine Kristallkluft öffnen. Er konnte eine Kristallkluft ausräumen, aber auch Oscar Wilde plündern, wenn dieser über Rousseau sprach: «Die Menschheit wird Rousseau immer dafür lieben, dass er seine Sünden nicht dem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat.» Er konnte von seiner Liebe zu den Gemsen sprechen und sie ohne Umstände töten.

Unsere Literatur sollte nicht mit der «Consolaziun» beginnen und mit der «Chrestomathie» enden. Es reiche, wenn die Jagd beim Kanton beginne und bei der Regierung ende.

DREI

III DER ENGEL

Als ich Barlichin zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass dies der Zweimalgeborene sei, welcher den Erasmus ein Stück weit über den Splügen begleitet hatte. Aber das interessierte ihn nicht. Er lebte jetzt in unserer Zeit. Kam gelegentlich vom Tessin her über den Grat, leichten Fußes, mit nur einem Ohr und schlaffem Rucksack, mit einem schlichten Gewehr und einem armseligen Feldstecher. Ohne Patent. Und ohne Jagdweste. Nur ganz wenige Jäger sind ohne Weste unterwegs. Wenn man sie anschaut, spürt man sofort, dass etwas fehlt. Wie wenn sich einer den Bart abrasiert hat und einen etwas stört. Und erst einen Moment später fällt einem ein, dass der ja einen Bart hatte.

«Hört auf mit euren Jagdwesten», sagte Barlichin. «Das ist etwas für Fröstler.» Er war noch jung. Er sagte: «Je älter man wird und je weniger Haare und Zähne man hat, desto weniger Munition trägt man mit, desto leichter wird man und desto behaglicher fühlt man sich in Hemdsärmeln.» Dem Barlichin guckte das Hemd aus den Hosen, und die Engel trotteten hinter ihm her.

Ihr denkt, es gebe einen Barlichin, so ähnlich wie es vielleicht einen Giachen Hez gibt. Es gibt mehrere Barlichins. Alle sind unisono gegen die Weste, gehen mit dem Peabody auf die Pirsch und kümmern sich einen Deut um den Jagdzirkus. Im übrigen aber sehen sie nur aus wie Barlichins. Ihr Verhalten ist, wenn man sich achtet, jedesmal anders. Sie werden geboren und verschwinden, zwei, vier, sechs, zehn Mal. Nur der Name bleibt.

«Es gibt keinen Ungeeigneteren als mich, um Geschichten zu erzählen», sagt Barlichin, «und wenn ich nicht den Gabriel hätte, der die Kisten, die Bücher, die Meere von Geschichten öffnet, bliebe ich stumm wie die Tiere. Die Geschichten sind nämlich alle dort, so alt wie die Engel, und wenn es keiner erwarten würde, sind sie hier, ganz oder in Splittern. Und dann ist der Engel da, und wenn sein Glanz dich packt, dann verpasst du die Geschichten. Und wenn du die Geschichten packst, flattert der Engel davon.»

«Du musst dich entscheiden, für den Engel oder für die Geschichten», sagte Barlichin, zog glückselig an einer kurzen Pfeife und fuhr ganz ohne Zusammenhang mit dem eben Gesagten fort: «Der Splitter kommt vom Stein, der Nebel kommt aus der Erde, die Geschichten und die Gemsen aber kommen aus dem Nichts. Je länger du schaust, desto mehr siehst du. Wie die Sterne am Himmel.»

Der Ansitz, der als «Posten des Engels» bekannt ist, ist ein magischer Ort hinter einem Strauch, wo jeder Jäger einmal während der Jagd auf der Lauer liegt. Das reicht ihm dann für die ganzen drei Wochen. Gegenüber ragen die Schründe der Ruinas hoch in den Himmel. Dauernd rumpelt dort Geröll zu Tal, ohne dass der Berg deswegen kleiner würde. Auf dem Posten des Engels verzehrt man seine Wurst und starrt in die Ruinas hinüber. Oder man verschießt seine ganze Munition. Oder man erlegt kapitale Tiere, zwei oder drei oder noch mehr aufs Mal. Das ist nichts für Barlichin. Er mag nicht mehr als ein, zwei Tiere töten während der ganzen Jagd, von so vielen aufs Mal ganz zu schweigen. Also kaut er hier sein Brot im Dunkeln und spiegelt bei Tagesanbruch das ganze Tal ab. Die Morgendämmerung hat an diesem Ort etwas Wundersames. Was soll man hier auf Geweihe spekulieren, die vielleicht nie aus dem Wald auftauchen, während das Tal erwacht? «Ich kann am Morgen nicht töten. Es braucht Enthusiasmus, um vor Sonnenaufgang zu töten. Die meisten Jäger schwärmen vom ‹Tod im Morgengrauen›. Mich dünkt, es reiche, am Mittag zu töten, mit der Sonne im Gesicht.»

 

Auf dem Posten des Engels hinter dem Strauch riecht es im Gras nach Blut und in der Luft nach Schießpulver. Dauernd trittst du auf Patronenhülsen und Wursthäute. Auf dem Blattwerk der Alpenrosen findest du Brosamen und kleine Fetzchen Silberpapier, und unter die Steine hat man Sardinenbüchsen und Klopapier gestopft. Der Jäger ist ein fleißiger Büchsenöffner und kehrt Steine um. Das störte Barlichin an diesem Posten, der für ihn ein Posten der Morgenröte war. Die andern störte es, dass er hier nie etwas schoss. Das machte ihnen schrecklich zu schaffen.

«Engel sind scheue Apostel», sprach Barlichin, zog schmatzend an seiner Pfeife, drückte mit schwarzem Finger den Tabak fest, mp mp, und fuhr in seiner Rede fort. «Engel pflegen sich dauernd zu unterschätzen, habe ich festgestellt. Sie denken immer, dass wir ihnen überlegen seien, dass wir Menschen sie dirigieren würden. Sie meinen, sie seien fast so etwas wie unsere Sklaven. Wir wissen zum Glück nicht um die Schwächen der Engel, sonst hätten wir sie unseren Zwecken unterworfen, so wie wir die Frauen unterworfen haben, die sich schon längst aus unserer Herrschaft befreit hätten, wenn sie um ihre Stärke wüssten.

Wir meinen, dass es Engel gäbe, wie es Marien gibt – Maria Verkündigung, Maria Empfängnis, Maria zum Schnee, Maria Himmelfahrt, Maria Lichtmess, Maria Licht, Maria Laach, Maria Einsiedeln, Mariazell, Mariastein, Maria Diesunddas – eine ganze Apothekersystematik. Es gibt bloß ein Wirrwarr von Engeln. Kommt hinzu, dass der einzelne Engel sich verwandeln kann. Aus einem Engel Gabriel kann ein Grußengel, Schutzengel, Todesengel, Paradiesvertreibungsengel oder der Würgeengel Asrael werden, je nach Bedarf und Einsatzort. Das Schlimmste am Engel ist, dass er sich nicht wehren kann. Darum ist er voller Komplexe.

Engel sind menschenähnlicher als Heilige. Heilige sind wie ausgestopfte Leute, stillstehende Uhren, Antoniusse in Formalin. Seltsam – Engel sind himmlisch und gleichen doch eher den Menschen, während Heilige irdisch sind und nach Himmel riechen. Engel fliegen, Heilige flattern. Engel sind aus Gold gemacht, Heilige aus Weihrauch», salbaderte Barlichin mit der Nase im Gebüsch auf dem Posten des Engels gegenüber den Ruinas. Da tritt der Rehbock mit dem Riesengehörn aus dem Wald. Barlichin macht hihi, der Bock macht huhu.

Am nächsten Morgen wartet Giachen Hez auf dem Posten des Engels. Giachen will Jack gerufen werden, weil ihn dünkt, das klinge lässiger. Wird aber Giacahuz genannt. Wartet also Giacahuz hinter einem Strauch, dessen Zweige sich sachte auf und ab bewegen. Wartet, dass der Morgen graue. Wartet auf das Wild, dass es sich am Waldrand zeige.

Gabriel, der Engel, hat als erster den Giachen ausgemacht, wie er hinter seinem Strauch kauert, aus dem nur das Gewehr hervorguckt. Giachen hofft, dass bald etwas passiere, weiß, dass ein wackerer Hirsch sein Erscheinen nicht anzukündigen pflegt. Giacahuz wird den Blick auf den Gegner richten, wird einen Buckel machen. Wäre er ein Hahn, würde ihm der Kamm schwellen. Wäre er ein Stier, träten seine Nackenmuskeln hervor, die Ohren würden zucken und der Schwanz sich heben. Aber der Hirsch wird nicht erscheinen. Es wird heller und heller werden. Giachen Hez wird nichts als öde Tännchen sehen, wird warten, wird sich langweilen, wird sein Gewehr einziehen und die Ohren, wird zusammenpacken, aus seinem Strauch kriechen und die Schutthalde hinuntergaloppieren. Ein zuverlässiger Hinweis, denkt Gabriel, dass der in einem früheren Leben, bevor aus ihm ein Jäger und Schnüffler wurde, ein kleiner Pampa-Klepper war.

Dem Leser wird das Lächerliche dieser Szene nicht entgangen sein. Erklärung: Ein lächerliches Moment ist dem Jäger stets eigen, wie dem Teufel im Märchen. Wenn er wartet, ganz besonders aber, wenn er sich durchs Gestrüpp windet, auf allen Vieren über Weiden kriecht, den Hintern in der Luft. Vor allem wenn er lange Beine hat und sich scheut, Bauch und Brust tief zu halten, um nicht die Weste zu beschmutzen oder Patronen zu verlieren oder mit Mutter Erde allzu intim zu werden. Aber selbst wenn er mit kurzen Beinen perfekt dem Boden entlang kriecht, ist und bleibt der Jäger ein Indianer in Bergschuhen. Ein Held bist du nur, wenn du Beute vorzeigen kannst. Und noch dann, mach dir nichts vor, bist du es bloß in deinen eigenen Augen.

IV DAS WILD

Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Techniken der Heuernte.

In alten Zeiten ernteten die Murmeltiere ihr Heu in folgender Manier: Abwechselnd legten sich die größten und fettesten Murmeltiere auf den Rücken und streckten alle viere von sich. Die andern luden ihnen das gesammelte Heu auf den Bauch und zogen die Ladung am Schwanz in den Bau. Daher hätten alte Murmeltiere im Herbst einen abgewetzten Rücken. Von dieser Fertigkeit berichtet Konrad Gessner. Er hat das bei Plinius Secundus abgeschrieben, und der wiederum hat es vom ersten Plinius, und der hats von einem Hirten, und dem Hirten hat ein Jäger diesen Murmelbären aufgebunden.

Moderne Murmeltiere beißen die Heuhalme ab, machen Büschel und legen diese zu einem Haufen zusammen. Wenn der Haufen ordentlich groß ist, sperren sie das Maul auf und packen mit den langen Nagezähnen das Heu wie mit einer Zange. Rechts und links ragt es wie ein Riesenschnurrbart aus dem Maul, und so trippeln sie in den Bau, bis man nur noch das Hinterteil sieht, dann noch den Schwanz, dann nichts mehr. Daher kommt es, dass die Murmeli von heute keinen abgewetzten Rücken mehr haben.

Manchmal knallt es, und der Wächter fällt um. Die Jäger schießen mit Vollmantelmunition auf den Kopf. Auf fünfzig Meter muss man etwa drei Fingerbreit unter den Scheitel zielen, damit man nicht überschießt.

Der Jäger geht hinüber und stellt die Wache wieder auf. Steht eine tote Wache dort, ist die Jagd viel einfacher, wenn die Murmeltiere wieder aus dem Bau auftauchen: Der Tod schlägt nicht Alarm.

Das Wiesel streckt den Kopf aus dem Schnee. Verschwindet. Taucht wieder auf. Im Fang eine Spitzmaus.

Ein Jäger legt sich im weißen Maler-Overall in den Schnee. Hat eine kalte Fata Morgana. Durch sein Gehirn blitzt folgendes:

«Eine weiße Gemse. So weit, so gut. Habe ich je eine gesehen? Hätte ich je eine sehen können? Werde ich je eine sehen? Sollte ich also eine gesehen haben? Oder darf ich damit rechnen, eine zu sehen? Auf dem Gletscher, wenn ich auf dem Gletscher eine Gemse aus Eis sehen würde, müsste ich sie schießen? Oder wäre ich fähig, näherzutreten und sie nur anzuschauen, statt sie in tausend Stücke zu schießen?

Ein Kronenhirsch! Donnerwetter!»

«Eine Gemse, ganz und gar weiß, Krucken weiß, alles weiß, muss ich nicht in meiner Trophäensammlung haben, entschieden nicht, und auch keinen Dachs mit Brille. Aber einen Kronenhirsch muss ich haben. Das wäre ja noch. Ein Kronenhirsch muss an die Wand, koste es, was es wolle. Meine ganze Männlichkeit hängt durch, wenn kein Kronenhirsch an der Wand hängt. Eine Wand ohne Kronenhirsch ist absurd. Ohne die Stangen dieses Stiers der Stiere mit ihren Sprossen und Enden ist meine Wand eine gehörnte Wand. Stier oder nicht Stier, das ist die Frage, daran entscheidet sich, wer ein Jäger ist, Teufelnochmal. Tiridi. Holdrio.»

Das Wiesel, zack, streckt den Kopf aus dem Schnee. Windet. Verschwindet.

Jäger und Steinbock haben mehr gemeinsam, als man denkt: Diesen farbigen Penis, die Neugier, das Imponiergehabe, die kleinen Ohren, die falschen Proportionen.

Steinböcke können nicht zählen. Wenn du zu zweit auf die Jagd gehst, und einer bleibt hinter einem Felsblock zurück, während der andere weitergeht, achtet der Steinbock nur noch auf jenen, den er sieht, streckt den Äser in die Höhe und fährt mit Wiederkäuen fort.

Im Falle der Zwillinge wars dasselbe bei den Jägern. Sie dachten, dass Settembrini nur einer sei. Settembrini sprach:

«Jäger können nicht zählen. Wenn du zu zweit auf die Jagd gehst, und einer bleibt hinter einem Strauch zurück, während der andere weitergeht und hinter einem Felsblock verschwindet, denkt der Jäger, Settembrini sei fort, streckt den Äser in die Höhe und fährt mit Wiederkäuen fort.»

«Der Wolf ist die größte Gefahr für den Menschen und seine Art: Er hat die Großmutter gefressen. Darum haben wir ihn ausgerottet. Und jetzt möchten diese ahnungslosen Grünen ihn wieder aussetzen mit seinen furchtbaren Zähnen und seinem Riesenmaul, in dem ich tutti quanti Platz hätte, samt Achttagebart, gerecktem Gewehr, Trunser Hosen und Herkules-Hosenträgern, bis zum letzten Schuhnagel. Teufelnochmal.»

«Der Bär war die zweitgrößte Gefahr für den Menschen und seine Art: Sein Hintern war zu dick. Sonst wäre er ein durch und durch echter Bündner gewesen: Gedrungen, breite Brust auf kurzen Beinen, mächtige Pranken, runder Kopf, kleine Ohren, flaches Hirn hinter fliehender Stirn. Aufs Haar ein Bündner. Heiliger Strohsack.»

«Der Fischotter wäre keine Gefahr gewesen. Aber er fraß alle Fische. Sonst wäre er schon recht gewesen, der Fischotter. Wenn er nur den gestiefelten Tagedieben mit ihren Ruten, Rollen, Leinen und Lägeln die Fische gelassen hätte.»

VIER

V DIE WILDTÖTER

«Schießen, das ist wie Billard.» Pause.

«Billard, könnte man meinen, sei eine harmlose Zerstreuung. Und doch denke ich, dass Billard manchmal, oder überhaupt, ähnlich hohe Konzentration erfordert. Es ist die Verschmelzung von Gedanke und Ausführung. Ein sehr erzieherisches Spiel. Selbstbeherrschung und Körperkontrolle und intelligentes Kombinieren, wie der Stoß zu führen sei, damit die Kugeln dahin rollen, wo sie sollen.»

Als mein Onkel erstmals eine Abschussliste in die Hand gedrückt bekam, als mein Onkel erstmals eine Abschussliste in die Hand gedrückt bekam, schluckte er nicht mal leer, bevor er in ein Zetermordio und Donnerwetter ausbrach gegen «dieses Chur mit seinen Doktoren und Inspektoren». Exakt dieselbe Szene wiederholte sich nun alljährlich Anfang September. Die Brille saß ihm zuvorderst auf der Nase, die Stirn war tief gefurcht, das Haar gesträubt. Formulare waren für meinen Onkel Gion Evangelist Silvester das große Grauen. Wenn er Formulare erblickte, strafften sich seine Hosen, seine Hosenträger, sein Nacken, seine Nase, seine Stimme. Er war zutiefst angewidert, wurde zur lächerlichen Gestalt. Mit der Brille, die auch ohne eine solche Aufregung nicht in sein Gesicht passte, sah er aus wie eine Giraffe in Hosen mit zurückgelegten Ohren. Stand da, wedelte mit dieser grünen Liste in der Luft herum und stampfte mit dem Fuß auf wie die Hammel, wenn sie wütend sind: «Ein Formular, in das der Jäger jeden Furz eintragen soll, mit genauer Zeit, Ort, Höhe über Meer, in welcher Stellung, von welcher Konsistenz. Je voller das Formular, desto besser der Jäger. Der Jäger als Bürolist, es ist zum Heulen», schnarrte mein Onkel und fuhr fort: «Und was machen sie in Chur mit den Formularen? Statistiken!» Pause.

«Aber das Schlimmste, das Allerschlimmste ist, dass alle brav und fügsam alles machen, was befohlen wird. Sofort. Noch vor dem Ausweiden. Arme Tröpfe!»

Leser, du magst erstaunt sein über die Art, wie mein Onkel hier den Bündner Mann charakterisiert. Sicher hättest du erwartet, dass der sich keinerlei Formularen füge. Lange war der Bündner Typ folgsam, unterwürfig und servil in allem, was Gesetze und Autoritäten betraf. Wenn in Chur ein neues Gesetz herauskam, wurde gepoltert, die Faust im Sack gemacht und gehorcht. Das ging so weit, dass man die Patrone umgekehrt ins Gewehr geschoben hätte, wenn es so im Gesetz gestanden hätte. Diese Unterwürfigkeit stammte noch aus der Zeit der Landvögte und Schlossherren, die man fürchtete wie Gott. Die Geschichten von den Bauernrevolten und erbrochenen Tyrannenburgen sind Märchen. Selbst nachdem die französischen Armeen die alte Ordnung gestürzt hatten, kommandierten ein paar wenige Familien den Kanton. Die Bündner sind erst in jüngster Zeit echte Revoluzzer geworden. Wenn Chur vor zwanzig Jahren die Löhne der Wildhüter gekürzt hätte, hätten die wie Hunde mit dem Schwanz gewedelt und versichert, dass sie ihre Amtspflichten weiterhin mit einer positiven Arbeitshaltung und hohem Qualitätsbewusstsein erfüllen würden, hätten Schuhe und Sohlen geleckt und die Sache akzeptiert. Heute würden die stracks auf die Barrikaden gehen, würden streiken, bis die Regierung nachgäbe, oder würden alle miteinander den Bettel hinschmeißen.

 

Wie auch immer, meinem armen Onkel wollte es einfach nicht in den Kopf, dass die Büroarbeit jedes einzelnen Jägers die Bündner Jagd gewaltig aufgewertet hatte. Und als man begann, mit Mobiltelefonen, GPS, Distanz-und Höhenmessern auf die Jagd zu gehen, wollte der eigensinnige Mann auch diesen Klimbim nicht begreifen. Aber er war schlauer geworden, lachte sich ein wenig in den Bart, genoss seine private Jagd, stellte seinem bevorzugten Wild nach und führte die Bürolaten hinters Licht.

«Ein Jäger», sprach mein Onkel, während er vor mir durchs Gebüsch ging und die Zweige festhielt, damit sie mir nicht um die Ohren schlugen, «ein Jäger braucht nicht viele Bücher über das Leben des Wildes, über Waffen und Munition gelesen zu haben.» Jäger sollten mit Lesen zurückhaltend sein. Zu viel Lektüre verderbe die Freude an der Jagd. Don Quijote, der findige Junker, sei Jäger gewesen, bevor er angefangen habe, gnadenlos Ritterromane zu verschlingen. Diese Folianten hätten ihm die Jagd verdorben. Mein Onkel empfahl als Jagdlektüre ein paar Biografien, aber nicht etwa die blutigen Viten der Heiligen. In der Jagdpraxis habe man es mehr als genug mit spritzendem Blut, krachenden Knochen und schlenkernden Gliedmassen zu tun. Ein Jäger, meinte mein Onkel, solle die «Berühmten Philosophen» des Diogenes Laertius lesen, ferner die «Meinungen des Tristram Shandy» und vielleicht noch «Leben und Meinungen des Dr. Samuel Johnson». Das seien zwar dicke Wälzer, hätten aber kurze Kapitel. Kurze Kapitel hätten lange Beine. Ich folgte meinem Onkel auf dem Fuß, um nicht die Zweige in die Schnauze zu bekommen – er vergaß jetzt, sie festzuhalten – und horchte staunend, wie der alte Jäger in den Erlen ausführte, was einem Weidmann zur Lektüre zieme. Im «Tristram Shandy» zum Beispiel könne man eine Menge lernen über Ballistik und Fortifikationsbau, über das Schießen und Pirschen; vor allem aber könne man Charakterstudien machen. Und Jagd sei Charaktersache.

Schreiben solle ein Jäger nie. Bloß nicht auf die Idee kommen, zu schreiben. Schreiben sei eine noch zweifelhaftere Angelegenheit als das Auskochen von Trophäen. Zum einen gebe es schon genügend Bücher, und zum andern erfahre man, wenn ein Jäger sich entschließe, über die Jagd zu schreiben, mehr über den Mann als über die Sache selbst. Diese sei auch viel zu simpel. Ein Jagdbuch sei nach zehn Seiten geschrieben, und den Rest müsste man mit Bildern füllen, um auf einen anständigen Umfang zu kommen.

Das waren die Theorien meines Onkels über das Lesen und Schreiben. Dann fügte er noch gewohnheitsmäßig, mit Falsettstimme und gerecktem Hals, hinzu: «Sollen wir ewig neue Bücher machen, wie die Apotheker neue Mixturen, immerfort umgießen aus einem Glas ins andere? Soll es uns auf ewig bestimmt sein, an Werk-und Feiertagen die Reliquien unserer Gelehrsamkeit vorzuzeigen, wie Mönche die Reliquien ihrer Heiligen – ohne nur ein einziges Wunder damit zu bewirken? Wer hat aus dem Menschen, dieser edlen, erhabenen Kreatur, diesem Ebenbild Gottes, einen solch schlaffohrigen Jammerlappen mit dem Verstand eines Aktuars gemacht?»

Eine Strophe aus dem Lied von Theodor von Castelberg, wie sie Barlichin in den Sinn gekommen war, als wir auf Runfoppa im Schafstall dem Fuchs passten, zusammengekauert auf einer lottrigen Bank, die immer zu kippen drohte, wenn er aufstand oder sich setzte. Alle fünfsechs Minuten ging er nämlich hinüber und spähte aus dem Fensterchen, das mit einem Kartoffelsack halb verhängt war, linste hinüber zum Pfahl, der beim Luder im Schnee stak. Tastete sich dann wieder zurück zur Bank und setzte sich. Im Stall wars schwarz wie im Bauch einer Kuh. Nach einem Weilchen hat er, eigenartig genug, dieses alte Lied aufgesagt, das ihm eingefallen war, während er dem Scharren und Stoßen der Schafe lauschte.

«Alte Schafe, man weiß, ach

machen dauernd sehr viel Krach.

Lärmen, blöken immerzu

fressen leer die Kripp’ im Nu.

Blöken stets mit vollem Maul

wie jene Weiber, ihr wisst schon

die jeden Tag am Brunnen stehn.»

Dann ist er jählings aufgestanden und hat wahrhaftig begonnen, wie von Sinnen zu tanzen, in wilder Lebensfreude herumzuhopsen:

«O Theodor, du Schwänzer

lässt hüpfen deine Tänzer.

Schlaue Füchse, schwarze Raben

sind alle scharf auf deine Gaben.

Sie müssen dir gehorchen

die Frösche und die Lurchen.

Gimpel, Gockel, allerhand

fällt herein auf deinen Tand.

Auch weise Eulen, Narren, Luder

fahren mit auf deinem Fuder.»

Die Schafe flüchteten in Panik von einer Stallecke in die andere. Plötzlich geht er zum Fensterchen, schiebt den Kartoffelsack zur Seite und erklärt zum Loch hinaus dem Pfahl, dass ihn der Fuchs mal könne, für diese Nacht sei Feierabend.

Stellt euch einen Onkel vor, geschliffen und gewitzt, den Kittel immer bis oben zugeknöpft.

Kittel bis oben zugeknöpft und immer den Hut auf dem Kopf, das kennzeichnet die echten Bündner und stammt noch – wie bereits erwähnt – aus der Zeit der Wölfe. Es brauchte viel, bis einer dieser echten Bündner sich an einem Ort so behaglich fühlte und einer Sache dermaßen traute, dass er den Kittel ausgezogen hätte – vom Hutabnehmen ganz zu schweigen. Die Erscheinung ohne Kittel gabs in der Regel nur während des Rasierens, und jene ohne Hut nur in der Kirche. Die Variante ohne Hut, Kittel und Bergschuhe gabs nur kurz vor dem Schlafengehen – aber dann war das Licht schon gelöscht. Selbst im Sarg lagen echte Bündner mit Kittel, Bergschuhen und Hut.

Stellt euch also einen geriebenen Onkel vor, bis oben zugeknöpft, aus der linken Kitteltasche gucken ein paar Patronen. Das Gesicht ein bisschen streng, wie jenes des Apostels Paulus. Das Haar nach hinten gekämmt. Helle Augen. Italienische Ohren, oben leicht behaart. Struppiger Bart. Die Stirn eigensinnig wie bei einem Pottwal, aber verdeckt vom breitkrempigen Schlapphut, der bei Regen bis auf die Schultern hängt. Enge Hosen. Wadenbinden, Ordonnanzschuhe. Schmaler Hintern, ungeeignet für Generalversammlungen.

Fassen wir diesen Onkel in einem Satz zusammen: Pottwal-Stirn und intelligent. Eine ausgesprochen seltene Kombination. Die Menschheit unterteilte er in zwei Kategorien: Jene, die draußen bleiben, wenn es regnet, und jene, die sofort ans Trockene wollen. Diese Marotte, um nichts in der Welt nass werden zu wollen, wenn es regnet, sei ein verhängnisvoller Tick mit schlimmen Folgen für die zivilisierte Welt. Er ersticke unsere letzten Instinkte, blockiere das natürliche Verhalten unzähliger Menschen, die, sobald ein paar Tropfen fielen, an nichts anderes mehr denken könnten, als unter einem Dach zu verschwinden. Giraudoux sage sogar, dass der Mensch dank des Regens zum aufrechten Gang gefunden habe: L´homme, cet animal qui se tient debout pour prendre moins de pluie et accrocher plus de médailles sur sa poitrine.

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