Pünktlich wie die deutsche Bahn?

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4. Gute alte Zeit?

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Geschwindigkeit des Menschen im Rahmen dessen, was bereits Julius Cäsar erleben konnte. Viel mehr als 150 Tageskilometer waren mit der tierisch gestützten Mobilität auf dem Landweg nicht zu bewältigen. Als die Eisenbahnen ab den 1840er Jahren zunehmend den Fernverkehr aufnahmen, bot sich den bis dahin auf Postkutschen angewiesenen Reisenden eine Alternative, die mit einer deutlich höheren Zuverlässigkeit und auch immer mehr Geschwindigkeit unterwegs war. Zu jener Zeit existierte ein europaweites Netz von regelmäßig mit Postreitern, Eil- und Kurswagen befahrenen Routen, von unzähligen Poststationen und Herbergen wie die legendären »Gasthöfe zur Post«. Die nach englischem Vorbild und mit festem Fahrplan eingerichteten Eil- bzw. Schnellposten hatten die Reisezeiten durch Pferdewechsel ohne Aufenthalt und dank Nachtfahrten immerhin deutlich verkürzt. Zudem trieben die meisten deutschen Staaten den Neu- und Ausbau gepflasterter Straßen bzw. Chausseen nach französischem Vorbild voran, und die neuartige stählerne Blattfederung ermöglichte den Bau von bequemeren Kutschen.

Fahrten mit der Postkutsche wurden von vielen Reisenden als Strapaze empfunden, weil sie Schmutz und Staub ausgesetzt waren, beengt im geschlossenen Wagen sitzen und zuweilen eine unliebsame Reisegesellschaft ertragen mussten. Gestürzte Pferde, gebrochene Räder und feststeckende Wagen gehörten zum Reisealltag. Zudem hatten sich die Passagiere den systembedingten Anforderungen des Postverkehrs zu unterwerfen, dessen Personal sich zuweilen ziemlich rüpelhaft an den als bürgerlich bezeichneten Tugenden Zuverlässigkeit, Ordnung, Disziplin und – zumindest prinzipiell – Pünktlichkeit orientierte. Der Schriftsteller, Hofmaler und Kammerherr Wilhelm von Kügelgen verdeutlichte in seinen posthum veröffentlichten Jugenderinnerungen eines alten Mannes, was ihm beim Reisen in dem von der Romantik geprägten, bahnlosen frühen 19. Jahrhundert widerfuhr: »Zwischen Leipzig und Dresden gingen damals zwei Personenposten, die sogenannte gelbe und grüne Kutsche. Die erste dieser Gelegenheiten stieß dermaßen, daß Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden, daher besonnene Leute die andere, etwas gelindere, zu wählen pflegten. Doch war auch diese noch immer von der Art, daß man bisweilen vor Schmerz laut aufschrie, und wenn der Schwager nicht an jeder Schenke angehalten hätte, so würde man es kaum ertragen haben; mit solchen hochnötigen Intervallen war es aber eine gesunde Art, zu reisen. Die heftigen Erschütterungen, denen man ausgesetzt war, solange das Vehikel in Bewegung blieb, erregten nämlich Löwenhunger, den zu befriedigen jedwede Schenke und Station ihren eigentümlichen und berühmten Leckerbissen darbot […]; hier aß man Preßkopf, dort wurden Rühreier verschluckt, und anderwärts mußte Landwein getrunken werden – kurz, von Stunde zu Stunde hatte man Gelegenheit, die Löcher wieder zuzustopfen, welche Weg und Wagen unablässig in den Magen stießen.«41

Es gab freilich auch Zeitgenossen, die die Postkutsche zunächst dem Personenzug vorzogen. Der Schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer zum Beispiel, der am 20. Dezember 1838 seine erste Fahrt auf dem gerade eröffneten Streckenabschnitt der Eisenbahn von Düsseldorf nach Erkrath mitgemacht hatte und darüber berichtete: »Natürlich setzte sich Alles in Bewegung, dies neue Wunder selbst zu erleben, und zu dem Ende fuhr man mit Omnibus und Postwagen ungefähr drei Stunden bei Regenwetter und Sturm durch Schmutz und Schneewasser, um jene Abfahrtstation, mitten im Walde gelegen, zu erreichen. Dort hatte man das Vergnügen, unter einer elenden Holzbaracke, in welche von allen Seiten Regen und Schnee hineinpfiff, einige Stunden auf die Abfahrt warten zu müssen, indem die Lokomotive bei unserer Ankunft eben im Begriffe war, den ersten Mund voll Kohlen und Wasser zu verspeisen. Es war ein trostloser Anblick, die frierenden Damen und Herren, die durchnäßten Röcke und Mäntel, die zerstörten Hüte und Coifuren, die bleichen und rothen Gesichter, alle so begierig auf den endlichen Anfang des großen Vergnügens. […] Endlich war die Lokomotive eingespannt, Alles saß in den Waggons und erwartete mit Ungeduld das Zeichen der Abfahrt. Da erklärte plötzlich der Maschinist, an der Lokomotive müsse etwas nicht ganz richtig sein und selbe sei nochmals genau zu untersuchen. Diese Untersuchung dauerte wieder eine gute Stunde, und dann endlich fuhren wir ab, erfroren, hungrig, durchnäßt, ermüdet und gelangweilt. – Es war meine erste Eisenbahnfahrt. Jetzt bediente ich mich lange Zeit wieder des soliden Postwagens als Transportmittel, saß bald im Coupée bei dem Conducteur, mit ihm Cigarren rauchend und plaudernd, oder auch zuweilen im Innern des Wagens, zwischen zwei dicken alten Damen eingepreßt, das Fegfeuer im Voraus abverdienend.«42

Zu Beginn des Schienenpersonenverkehrs rekrutierten sich die Fahrgäste fast ausschließlich aus den höheren Ständen, aus Adeligen, Staatsbeamten, Künstlern und wohlhabenden Bürgern, die bis dahin mit eigenen oder Miet- oder Postkutschen unterwegs gewesen waren. Und was machten einige dieser Herrschaften? Sie ließen sich schon in den 1840er Jahren – also längst vor dem 1930 erfolgten Start der Autoreisezüge – in ihrer eigenen Kalesche auf einem sogenannten Equipage-Wagen mitnehmen, um bei der Ankunft am Zielbahnhof sofort (mit Mietpferden) weiterzuckeln zu können. Das kostete natürlich extra – bei der Königlich Bayerischen Eisenbahn exakt 45 Kreuzer für die Equipage und 20 Kreuzer pro Pferd (der Tageslohn eines Arbeiters betrug 36–54 Kreuzer). Weniger Begüterte konnten in den postkutschenähnlichen Wagenkästen mit Lederschürzen vor den Fenstern eine schmale Sitzgelegenheit ergattern, während gar nicht Begüterte in offenen und ungefederten Wagen im Stehen oder mit Glück auf harten Holzbänken durchgerüttelt wurden. Ihnen pfiff dabei der Fahrtwind um die Ohren, und ein plötzlicher Regenschauer durchnässte die Kleidung, wobei der Rauch der Lokomotive mit längerer Fahrtdauer auch noch ihre Gesichter schwärzte. Was Wunder, dass an den Stationen Händler sogenannte Eisenbahnbrillen feilboten …

Gab es die vielbeschworene »gute alte Zeit« für Bahnreisende? Da in den gängigen Publikationen zumeist Erinnerungen und literarische Fundstücke präsentiert werden, die die Eisenbahn-Nostalgie befeuern helfen, ziehe ich vor allem Texte heran, die erhellen, dass die Eisenbahngesellschaften und ihr Personal seit jeher von anspruchsvollen Fahrgästen mit Argusaugen überwacht und kritisiert werden.43 Die erste mir bekannte Kritik ereilte hierzulande die Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft knapp zwei Monate nach der Betriebsaufnahme der Linie Nürnberg–Fürth im Februar 1836. Sie erfolgte in der nach wie vor empfehlenswerten Form einer Höflichen Bitte:

Wir bitten Sie, verehrte Herren

Inhaber vom Dampfwagen!

Leih’n Sie uns Ihre Ohren gern,

Um etwas vorzutragen:

Der Tritt zum Wagen ist zu hoch,

Um auf und ab zu gehen;

Da kann sich leicht im Sprunge doch

Manch’ schöner Fuß verdrehen.

Drum lassen – o wir bitten Sie,

Steigeisen Sie anschmieden;

Dies lässt sich ja mit leichter Müh’

Durch Aktien vergüten.

Da es die Pflicht des Christen ist,

Fehltritte zu vermeiden,

So hofft man, wird in kurzer Frist

Der Wunsch erfüllt, mit Freuden.44

Natürlich waren und sind Beanstandungen von Bahnreisenden nicht immer, in manchen Fällen gar nicht berechtigt – in der Regel aber schon. Im September 1839 stand im Tagblatt für Politik, Literatur, Kunst und Wissenschaft zum Beispiel zu lesen: »München, 7. Sept. Seit einigen Tagen, namentlich gestern, bei allerdings sehr ungünstiger Luftströmung, hörte man häufig von Fahrgästen auf der Eisenbahn Klagen über Beschädigungen von Kleidungsstücken durch das unvermeidliche Aussprühen der Funken aus dem Kamine der Locomotive. Das Directorium, diese Klagen berücksichtigend, verspricht in einer heute erschienenen Bekanntmachung, die Bahnfahrten der nächsten Woche betreffend, Alles anzuwenden, daß durch mechanische Vorrichtungen, auch mittelst sorgfältiger Aufsicht auf die Wahl und Behandlung des Brennmaterials, derlei Beschädigungen verhütet würden. Viele glauben, daß dem Uebelstande alsogleich abgeholfen sey, wenn statt Holz Steinkohlen gebrannt werden, die zwar auch Funken ausströmen, welche jedoch schnell verlöschen und keinen Schaden thun.«45

Auf der im Oktober 1842 eröffneten Berlin-Frankfurter Eisenbahn zogen die Loks sowohl Equipage-Wagen wie auch geschlossene Personenwagen und offene Stehwagen. Nachdem Mitte Juni 1843 heftige Regengüsse niedergegangen waren, berichtete das Frankfurter Patriotische Wochenblatt, die Passagiere in den Stehwagen wären »nicht nur mit ihren Sachen, die sie in Körben und Bündeln trugen, ganz und gar durchnäßt« worden, »sondern mußten auch zuletzt bis an den Knöcheln im Wasser stehen. Die Schweine, die auf der Eisenbahn transportiert werden, bekommen ein Strohlager und ein schützendes Obdach …«46 Der von der Presse aufgegriffene Unmut der Passagiere zeigte Wirkung: 1844 wurden die Stehwagen auf der Linie abgeschafft und durch geschlossene Wagen der dritten Klasse ersetzt.

Im Zuge der flotten Entwicklung des Schienenpersonenverkehrs nahmen die Fahrgäste von Beginn an mit ihren Erwartungen und ihrem konkreten Reiseverhalten nebst der dabei gemachten Erfahrungen durchaus Einfluss auf viele Aspekte des Eisenbahnbetriebs. Ihre Wünsche nach Komfort, Sicherheit und Zuverlässigkeit trugen zweifellos zur Weiterentwicklung der Technik bei. Der Wunsch nach preiswerten Reisemöglichkeiten wurde von den Eisenbahngesellschaften auch erhört. Statt der anfangs nur zwei offerierten Klassen – eine für geschlossene und die andere für offene Wagen – wurden auf immer mehr Linien drei und zunehmend vier Klassen in geschlossenen Wagen zum Standard. Die erste und zweite Klasse für besser gestellte und gut betuchte Leute, die dritte und vierte für die weniger bemittelte Bevölkerung. In Preußen wurde die allgemeine Einführung der vierten Klasse mit der Begründung versehen: »Menschliche Arbeitskraft ist mit die am kostspieligsten transportirbare und am schwersten bewegliche Waare. Daher kommt es, dass immer noch eine nach Zeit und Verhältnissen zwar verschiedene, aber doch eine gewisse nicht unbedeutende Quantität dieses volkswirtschaftlichen Kapitals an einigen Orten feiert, oder nicht aufs höchste verwerthet wird, obgleich anderwärtz die erforderliche Gelegenheit dazu geboten ist, aber nicht wahrgenommen werden kann. […] Dieser Uebelstand begegnet jede Verbesserung im Verkehr und im Transport, welche die Beweglichkeit der Arbeitskräfte vermehrt und ihre Beförderung von Ort zu Ort erleichtert, beschleunigt und möglichst wenig kostspielig macht.«47 Im Laufe der Zeit wurde die vierte Klasse, die zur »Erleichterung der Communication« und »zur Förderung des Verkehrs« insbesondere der Arbeiterklasse zugedacht war, nicht zuletzt von Handwerkern, Auswanderern und dem Landvolk frequentiert, das mit großen Bündeln, Hühnern und Gänsen an Markttagen in die nächste Stadt fuhr. Bequem waren die vom Volksmund als »Kälberwagen« titulierten Anhänger während des 19. Jahrhunderts gewiss nicht, hatten sie doch lediglich an den Wagenwänden hochklappbare hölzerne Sitzbänke.

 

Die billige und von daher immer hoch ausgelastete vierte (Steh-)Klasse ermöglichte Leuten mit geringen Einkünften in der Tat das zumindest gelegentliche Mitfahren. Im Zusammenspiel mit der nicht minder hochfrequentierten dritten (Holz-)Klasse gewährleistete sie ab 1852 den Aufstieg der Eisenbahn zum Massentransportmittel. Reisen, die bis dahin von den meisten Leuten nur dann angetreten wurden, wenn sie wirklich erforderlich waren, wurden fortan allmählich zu so etwas wie einem Normalfall. Einschließlich der touristischen »Lustreisen«, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Bürgertum immer beliebter wurden. Peter Paul Dahms vermerkt zur »Streubreite in der Frequenz und der Länge der Reise«: »Der landwirtschaftliche Produzent fuhr regelmäßig eine kürzere Strecke von seinem Dorf in die nächste Stadt, wobei dabei noch ein längerer Fußweg zur nächsten Eisenbahnstrecke und deren Haltepunkt erforderlich werden konnten. Eine Zusammenkunft von Verwandten zu einem Familientreffen aus einem traurigen und weniger traurigen Grund konnte einmalig auch über eine größere Entfernung organisiert werden. Der Bildungsbürger konnte seiner Neugier oder seinem Erkenntnisdrang folgend, entfernte Landschaften und Städte besuchen. Der junge Adelige konnte seine ›Kavalierstour‹ mit der Eisenbahn absolvieren.«48

Seit den frühen Tagen des Schienenverkehrs wird der Zugang zu den Zügen reglementiert, schreiben die Eisenbahngesellschaften den Fahrgästen Verhaltensmaßregeln vor, die zunächst in Betriebs-Reglements festgehalten und als öffentlicher Anschlag bekannt gemacht wurden. Inzwischen ist zumeist von Beförderungsbedingungen die Rede und macht die Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) einschlägige Vorschriften. In Paragraph 13 Abs. 1 heißt es zum Beispiel unmissverständlich: »Ein Anspruch auf einen Sitzplatz oder auf Unterbringung in der 1. Klasse bei Platzmangel in der 2. Klasse besteht nicht.« Im Klartext: Selbst wenn die Reisenden etwa in einer Regionalbahn dicht an dicht gedrängt stehen, die Gänge komplett mit schwitzenden Menschen und unförmigen Gepäckstücken verstopft sind, und es absolut kein Durchkommen mehr gibt, dürfen Fahrgäste mit einem Zweite-Klasse-Ticket sich nicht auf einen noch freien Platz im Abteil der ersten Klasse setzen. Es sei denn, sie entrichten beim Schaffner den fälligen Zuschlag. Übrigens gilt das auch für quasi hochrangigere ICE-Passagiere, wenn sie wegen einer Verspätung oder eines Zugausfalls auf den Regionalverkehr umsteigen. Und noch etwas: Selbst das bequemer erscheinende Stehen in den Gängen im Bereich der ersten Klasse ist für Reisende mit einer Fahrkarte zweiter Klasse tabu. Aber gemach. Der Zugchef eines Schnellzugs kann die teureren Sitz- und Gangplätze aus Sicherheitsgründen ohne Zuschlagberechnung eigenmächtig freigeben, wenn eine Überfüllung das erfordert.

Zurück ins Jahr 1839, als bei der Betriebseröffnung der Leipzig-Dresdner Eisenbahn »Reglements und Instructiones« zum Tragen kamen, die sowohl die Eisenbahner wie auch die Fahrgäste auf das strafbewehrte Einhalten von Ordnung, Disziplin und Sicherheitsvorschriften verpflichteten: »Die eigene Sicherstellung des Publicums erfordert es, die Befolgung der nachstehenden Vorsichtsmaßregeln allen Eisenbahnreisenden aufs Dringlichste zu empfehlen: Nur an der durch die Schaffner geöffneten Wagenseite ein- und auszusteigen und überhaupt den Anweisungen der Schaffner Gehör zu geben. Sobald die Wagen sich in Bewegung setzen, keinen Versuch zum Einsteigen mehr zu machen, wie es von Verspäteten schon mehrfach statt gefunden […]. Es ist die Anordnung getroffen, daß nur die Schaffner die Wagenthüren verschließen und öffnen dürfen. Während der Fahrt sich nicht seitwärts hinauszubeugen, aufzustehen, auf die Bänke zu treten oder sich gegen die Thüren anzulehnen, auch den eingenommenen Platz nicht zu verlassen, bis der Wagen am Bestimmungsorte angekommen ist und nicht ehe auszusteigen, bis derselbe völlig stille steht.«49

In Form und Inhalt glichen sich die Reglements der wachsenden Zahl von Bahngesellschaften zur Disziplinierung der Fahrgäste weitgehend. Die Paragrafen enthielten detaillierte Vorschriften für alle möglichen Vorgänge, die prinzipiell während des Betriebsablaufs vorkommen, ihn stören oder gefährden konnten. Etwa für den Wechsel einer Wagenklasse vor Antritt der Reise und den Transport von Kranken. »Sichtlich Kranke« wurden nur befördert, wenn sie ein – teures – eigenes Coupé lösten und »trunkene« Fahrgäste umgehend und ohne Rückzahlung des Fahrgeldes von der Mit- oder Weiterfahrt ausgeschlossen. Generell hatten die Reisenden und anderen Benutzer der Stationseinrichtungen den Anweisungen der durch eine Uniform und ein Dienstabzeichen ausgewiesenen Gesellschaftsbeamten widerspruchslos zu folgen. Wer sich nicht fügte, konnte von der Mit-und Weiterreise ausgeschlossen werden oder musste mit der Polizei Bekanntschaft machen.

Die Tarife waren öffentlich an den Schaltern angeschlagen und die Fahrgäste gehalten, beim Kartenkauf das abgezählte Fahrgeld bereitzuhalten, um Drängeleien zu vermeiden. Die gelösten Fahrbilletts bzw. -karten galten nur für die angegebene Fahrt in der gewählten Klasse; eine Rückgabe des Fahrgeldes erfolgte nur in begründeten Sonderfällen. Wer zu spät kam, den bestrafte das Bahnleben, denn die oder der Reisende hatten keinen Anspruch auf Erstattung oder auch den Umtausch des Billetts und mussten für die nächste Fahrt ein neues lösen. Für Verspätungen oder für Zugausfälle übernahmen weder die privaten noch die staatlichen Eisenbahngesellschaften die Verantwortung. Inwieweit sie ein Problem waren, kommt später zur Sprache.

Bei der Rheinischen Eisenbahngesellschaft galten auf deren 1841 fertig gestellter Strecke von Köln nach Aachen in jeder Hinsicht ausgeklügelte Regelungen und Verordnungen. So durften die Reisenden die »Versammlungslocale« der sogenannten Stationshäuser erst eine halbe Stunde vor der geplanten Abfahrt des Zuges und nur mit gelöstem »Fahrzettel« betreten. Er wurde mehrmals kontrolliert. Die Freigabe der Wartesäle erfolgte durch Glockenläuten. Fünf bis zehn Minuten vor der Abfahrt erklang ein weiteres Glockenläuten, das das Betreten des Bahnsteigs freigab. An Zwischenstationen mit sehr kurzen Haltezeiten sollten die Fahrgäste sofort beim Halt zusteigen. Klappte das nicht, verloren sie das Anrecht auf die bezahlte Fahrt – und zwar entschädigungslos. Auf dem Perron kontrollierten die Eisenbahnbeamten die Fahrausweise und wiesen den Fahrgästen ihren Platz in den entsprechenden Klassen und Wagen zu, den sie nicht eigenmächtig verlassen durften. Diesem Procedere hatten sie sich widerspruchslos zu fügen. Während der Fahrt mussten die Fahrgäste diverse Sicherheitsauflagen einhalten, wie nicht zuletzt das Verbot des Hinauslehnens aus dem Fenster. Der Ausstieg am Zielort war zügig vorzunehmen. Im Übrigen durften sie die Wagen nur dort, nicht an den Zwischenstationen verlassen.50

Mit der Erweiterung der Streckennetze kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Reisende in den Genuss des Überfahrens von Ländergrenzen zwischen den deutschen Königreichen, Herzogtümern und Freien Städten. Zwar waren insbesondere für den technischen Ablauf des Eisenbahnbetriebes diverse überstaatliche Vereinbarungen getroffen und Regelungen entwickelt worden; die unterschiedlichen betrieblichen Vorschriften, Reisebestimmungen und Währungen ließen ein zügiges und komfortables Reisen zunächst jedoch kaum zu. Im grenzüberschreitenden Verkehr nach Preußen zum Beispiel durften die Fahrgäste in ihrem persönlichen Handgepäck keine Gegenstände und Waren mitführen, die den Zollregelungen unterlagen – sie mussten im mitgeführten Packwagen deponiert werden und wurden beim »Grenzübertritt« kontrolliert. Am Zielbahnhof hatten die Reisenden dann zum Teil beträchtliche Zeit für die Begleichung der angefallenen Zollgebühren beim Eisenbahnpersonal aufzuwenden.

Bis zum Beginn der 1850er Jahre erfolgte die Legitimation von Bahnreisenden nach den Vorschriften des Pass-Edikts von 1817. Als die Streckenführung immer häufiger über die Grenzen der Bundesstaaten sowie der Nachbarländer hinausführte, häuften sich die Auslegungsprobleme der Passvorschriften und zugleich die Betriebsprobleme. Jedenfalls mussten für Fahrten über die vielen innerdeutschen Landesgrenzen Passpapiere beantragt, vorgewiesen und laufend aktualisiert werden. Im für hochbürokratische Schikanen verschrienen Königreich Sachsen stand bis 1841 vor dem Kauf einer Fahrkarte die zwingende namentliche Registrierung bei der Polizei. Für die Dauer der Eisenbahnfahrt wurde einem jeden Fahrgast zudem der Pass von mitreisenden Polizeioffizianten abgenommen.

Der wachsende Druck aus dem Eisenbahnerlager, die hoffnungslos veralteten Vorschriften zu reformieren, zeigte Wirkung. So schlossen die königlich sächsischen, königlich hannoverschen, herzoglich braunschweigischen und herzoglich anhaltischen Regierungen im Oktober 1850 mit dem Königreich Preußen einen Passkartenvertrag, der bestimmte, dass alle Einwohner, die von den Polizeibehörden als »vollkommen sicher und zuverlässig« eingeschätzt wurden, für ihre Reisen innerhalb des Gesamtgebiets, des »Bahn-Rayons«, statt der vor jeder Fahrt zu beantragenden Pässe für ein Jahr gültige Passkarten erhalten könnten. »Als vollkommen zuverlässig« galten den Polizeibehörden alle selbstständigen Personen, »welche innerhalb des Bahn-Rayons ihren ordentlichen festen Wohnsitz haben«. Keine die Reise erleichternden Passkarten erhielten hingegen »Gewerbegehilfen, Handwerksgesellen u. dergl.« sowie »Dienstboten oder Arbeitssuchende«. Sie alle mussten für eine Reise weiterhin einen Pass beantragen. Immerhin sah der Vertrag vor: »Kinder und Ehefrauen, welche mit ihren Eltern und Ehegatten, und Dienstboten, welche mit ihren Herrschaften reisen, werden durch die Passkarten der Letzteren legitimirt.«51

Die Passkarten wurden wie auch die üblichen Reisepässe von den Polizeibehörden ausgestellt. Kostenlos waren sie nicht. Da die grundlegende und willkürliche Einschränkung für einen Passkarten-Antragsteller, er müsse »vollkommen sicher und zuverlässig« sein, in der Wirtschaft und auch bei den Eisenbahngesellschaften auf wachsende Ablehnung stieß, wurde die Visapflicht allmählich gelockert und 1862 vom preußischen Landtag vollends aufgehoben.

Weil die Fahrpläne, Beförderungsbedingungen und Tarife der verschiedenen Eisenbahngesellschaften von Land zu Land unterschiedlich gestaltet waren, mussten Fernreisende nach dem Überqueren einer Staats- bzw. Eisenbahngesellschaftsgrenze mit Schwierigkeiten rechnen – nicht selten sogar umsteigen und neue Fahrkarten lösen. Ab dem Ende der 1840er Jahre änderten sich diese beschwerlichen, auch durch den knallharten Wettbewerb der Bahngesellschaften bedingten Zeiten des Durchgangsverkehrs allmählich. Um die wichtigen Verbindungen zwischen Berlin, Leipzig und Köln als reibungslosen Durchgangsverkehr auf die Reihe zu bekommen, schlossen sich 1848 erstmals sechs Eisenbahnverwaltungen zusammen. Im Übrigen ließen die frühen Lobbyisten von Handel und Industrie keinen Zweifel daran, dass die Zeiten für einen restriktionsfreien Personen- und Güterverkehr und die Aufhebung unnötiger Gewerbebeschränkungen ein für alle Mal gekommen waren.

 

Wie gut der Ausbau der Strecken vorankam und das »beschleunigte« Reisen erleichterte, wurde die Presse nie müde zu erwähnen. Ende 1847 wurde zum Beispiel berichtet: »Paris ist jetzt von Leipzig aus in zwei Tagen 13 ½ Stunden erreichbar, wobei man noch dazu zwei Nachtlager macht, in Magdeburg und Köln, und an beiden Orten zusammen 16 ½ Stunden verweilt. Man reist von Leipzig z. B. Sonntags um 5 Uhr Abends ab, übernachtet in Magdeburg, fährt von da Montags früh 3 ½ Uhr ab, kommt in Köln (Deuß) Abends 9 ½ Uhr an, reist von da am anderen Morgen, also Dienstags, früh 6 ½ Uhr ab, erreicht Brüssel Nachmittags gegen 4 ½ Uhr, verläßt es wieder nach zweistündigem Aufenthalt Abends 6 ½ Uhr und ist am anderen Morgen, also Mittwochs früh 6 ½ Uhr in Paris. Von Berlin aus dauert die Reise, da man dort Abends 10 Uhr abreist, ungeachtet der um einige Meilen längeren Entfernung, sogar fünf Stunden weniger.«52

Wenn die Beschwerden längst verblichener Fahrgäste nicht unnötig übertreiben, dann war das Fahren mit einer der deutschen Eisenbahnen im 19. Jahrhundert zuweilen kein Vergnügen. 1869 lautete eine ziemliche Breitseite gegen die Bahn so: »Nichts ist begründeter als der Vorwurf gegen die Deutschen, daß sie als Reisende die Eisenbahneinrichtungen hinnehmen, wie sie solche finden, höchstens in der Tasche eine Faust machen oder ihre Reisegefährten mit allerhand wahren oder eingebildeten Klagen behelligen, statt dieselben gehörigen Ortes anzubringen. Bevor wir Beschwerde führen, können wir nicht hoffen den Grund derselben abgestellt zu sehen. Die Barbarei, daß im Winter die Wagen nicht erwärmt werden; der Mangel jedes Zufluchtsorts für leibliche Bedürfnisse, dergleichen die Natur des nicht willkürlich zu unterbrechenden Eisenbahnfahrdienstes doch gebieterisch erheischt; die Unmöglichkeit für die Reisenden, den Schaffner herbeizurufen, auch wenn die dringendste Noth oder Gefahr dazu zwingt; der unerträgliche Staub im Sommer, der Zug im Herbst und Frühling, die Kälte im Winter, denen allen ohne Ausnahme voraussichtlich Grenzen zu ziehen wären, wenn sich der Witz der Techniker, von einem sich als Herr fühlenden Publikum gespornt, ein wenig darauf verlegen wollte – alle diese großen und kleinen Uebelstände müßten so lange, sei es direkt und privatim in Vorstellungen bei den Bahnverwaltungen, sei es öffentlich in der Presse, eigenen Versammlungen, Vereinen oder im Schooße der verschieden abgestuften Volksvertretungen zur Sprache gebracht werden, so lange man sie nicht völlig abstellt.«53

Nicht zuletzt die ungebrochene Vielfalt der Tarife erregte die Gemüter stets aufs Neue. Nachdem 1877 endlich die Ständige Tarifkommission der Deutschen Eisenbahn-Verwaltungen ins Leben gerufen war, dauerte es im Bereich des Personenverkehrs immerhin noch dreißig Jahre, bevor 1907 die lang geforderte Einheitlichkeit der Eisenbahntarife im Deutschen Reich zustande kam.

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