Elfenzeit 6: Zeiterbe

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Z serii: Elfenzeit #6
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Jetzt war es an Rian, ihn sacht am Arm zu berühren. »Ich weiß, dass sie dir fehlt. Dass du nach Nadja suchen willst, mehr als alles andere. Und das werden wir. Sobald wir Nimue aufgesucht und ihr mit meinen Heilkräften geholfen haben.«

David kniff die Augen zusammen. Erneut wurde das violette Leuchten heller, brannte sich förmlich in Davids Brust und wurde größer. Rian ahnte, was das bedeutete. Ihr Bruder hatte seine Seele ein weiteres Stück wachsen lassen. Damit kam er Nadja und dem Menschsein einen Schritt näher und entfernte sich gleichzeitig von Rian und seiner elfischen Familie.

Für einen Moment sah es so aus, als würden Wut und Verzweiflung in ihm siegen. Doch dann entspannte sich sein Gesicht, er ließ die Schultern sinken und das Glimmen erlosch. »Wie also können wir höflich bei der Dame vom See anklopfen?«, fragte er mit einem müde wirkenden Lächeln.

»Vielleicht funktioniert es zur Abwechslung mit Nachdenken«, entgegnete Rian, stupste ihn an und drehte sich schließlich wieder dem See zu.

Was genau wussten sie über das Gewässer, über Nimue und das Schloss? Merlin hatte es angeblich in der Mitte des Sees erbaut. Einen prunkvollen magischen Bau. Aber er war nicht einfach nur unsichtbar für die Menschen. Er war nicht da für sie. Man konnte nicht gegen die Mauern des Schlosses prallen, und die Türme und Gebäude verdrängten kein Wasser. Vielleicht war es wie das Areal rund um das Zeitgrab, in der Dimension verschoben. Oder sogar in der Zeit?

Rian bedauerte, dass sie Pirx und Grog beauftragt hatten, die Dunkle Königin zu verfolgen. Sie hätten ihr Koboldgespür gerade gut gebrauchen können.

Hoffentlich geht es ihnen gut, dachte sie. Vor zwei Tagen hatten sie sich getrennt und nichts mehr voneinander gehört. Jeder hatte seine Aufgabe. Und ihre war es, in dieses Schloss zu kommen!

Rian seufzte und wuschelte sich mit der Hand durch ihr kurzes blondes Haar. »Wie, verdammt noch mal, kommen wir da rein? Sie muss uns doch wenigstens einen Hinweis geben!«

»Rian?«, sagte David mit seltsam belegter Stimme. »Es gibt da etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Weil ich dachte, es wäre nicht wichtig. Oder vielleicht auch, weil ich mir nicht sicher war, ob ich zu halluzinieren anfange. Aber wenn das so ist, dann passiert es gerade wieder.«

Rian drehte sich zu ihm um und folgte mit fragendem Blick seinem ausgestreckten Arm und dem Finger, der das Ufer entlang nach Süden deutete. Sie musste gegen die Sonne anblinzeln, die mittlerweile hoch am Himmel stand. Dem ersten Anschein nach war da nichts Besonderes. Doch ein leichtes Kribbeln in der Magengrube ließ sie genauer hinsehen.

Mit zusammengekniffenen Augen, beugte sie sich vor, fixierte den Uferbereich auf der anderen Seite des Sees, dort, wo sich Strand und Wald in einer Reihe von Sträuchern trafen.

Etwas Weißes schien dort zu kauern. Nicht viel größer als eine Ratte. Aber länglicher. Es bewegte sich einem Wiesel gleich durch das Dickicht, blieb immer wieder stehen und sah sie an. Es wirkte tatsächlich so, als würde das Tier zu ihnen herüberschauen.

»Das weiße Hermelin im Sommer«, flüsterte Rian.

»Die weißen Tiere«, fuhr David fort. »Der Hirsch, die Schlange, das Kaninchen und so weiter.«

Sie kamen in vielen Geschichten rund um Merlin vor. Allerdings konnte er in diesem Fall nicht der Herr über diese magischen Gestalten sein. Denn der größte aller menschlichen Zauberer war schon seit Jahrhunderten gebannt und in der Zeit verloren gegangen. Was genau geschehen war, wusste niemand, es gab nur Vermutungen. Hier irgendwo im Wald von Brocéliande sollte Merlin gefangen sein, wenn man den Mythen glauben wollte. Soweit sich Rian erinnerte, gab es sogar einen Sightseeing-Punkt dazu.

»Also gut, das Hermelin da drüben ist ein Bote. Was will es uns sagen?«, rätselte Rian.

»Ich nehme an, es will, dass wir ihm folgen«, sagte David.

Sie schnaufte. »Aber es hockt auf der anderen Seite des Sees.«

»Das sehe ich«, gab David knapp zurück. Ein Mundwinkel hob sich, als sie ihn anfunkelte.

Das Hermelin saß immer noch da, blickte sie an und schien tatsächlich zu warten. »Okay«, sagte Rian schließlich. »Dann wandern wir eben um den See herum.«

Nach gut zwanzig Minuten war es soweit. Noch ein paar Schritte, dann hatten sie die Stelle erreicht und es würde sich zeigen, ob sie sich etwas eingebildet hatten oder ob dort wirklich ein magischer Bote hockte, um sie in ein Schloss im See zu geleiten.

Als sie am Waldrand entlanggingen und die Büsche nach dem Hermelin absuchten, fühlte Rian erneut einen Hauch, der nicht von dieser Welt war. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um.

»Willkommen«, drang eine tiefe Bassstimme durch das Dickicht. Es raschelte und zu Rians und Davids großer Überraschung trat ein Hirsch zwischen den Bäumen hervor. So überaus strahlend weiß und majestätisch schön, dass Rian ein Laut der Entzückung über die Lippen kam.

»Ich bin der Wächter. Ihr seid die Suchenden«, ließ das Tier erneut seine voluminöse Stimme erklingen.

Die Zwillinge verbeugten sich und der Hirsch erwiderte ihre Geste. Er senkte sein Haupt mit dem gewaltigen Geweih, während er leise schnaubte.

»Heiliger Wächter, wir wurden von der Blauen Dame gesandt, weil Nimue, die Herrin vom See, nach uns rufen ließ. Kannst du uns in ihr Schloss geleiten?«, fragte Rian so sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen, und so ehrfürchtig, als stünde sie einem leibhaftigen Gott gegenüber.

»Ich bin hier, um euch den Weg zu weisen. Doch gehen müsst ihr den Pfad des Erkennens selbst. So wollen es die Regeln, die dem Heim unserer Herrin Schutz gewähren«, kam die vage Antwort.

»Aber die Herrin erwartet uns«, wandte Rian ein.

»Der Weg ist schon seit Jahrhunderten verschlossen«, antwortete der Hirsch prompt.

Endlich dämmerte es ihr. Es war kein Rätsel, keine Aufgabe. »Nimue ist gefangen in ihrem eigenen Zuhause!«, rief sie.

Der weiße Hirsch schwieg. Seine Augen waren schwarz. Auf den Pupillen spiegelte sich der Wald, als würden sie die Natur in sich tragen. Nachdem Rian und David nichts weiter sagten oder taten, stampfte er mit den Vorderhufen ungeduldig auf und schnaubte erneut.

Seine Nase wirkte wie blank polierter Onyx, so schwarz und glänzend war sie. Bei jedem Ausatmen strömte ein Nebelhauch aus den Nüstern. Hatte er den Dunst über dem See erzeugt? Oder war er einfach nur Teil dieses Verwirrspiels?

Rian sah Hilfe suchend zu ihrem Bruder. »Wenn Nimues Schutzzauber sich gegen sie selbst gerichtet hat, dann haben wir ein ziemlich großes Problem. Wir sind nicht so mächtig, gegen Elementarmagie antreten zu können.«

»Einerseits, ja. Andererseits gehört zu jedem Schloss ein Schlüssel. Wenn der Weg also verschlossen ist, dann benötigen wir im Prinzip nur den Schlüssel?«, fragte David.

»So ist es«, bestätigte das majestätische Tier, offenbar erleichtert, und beruhigte sich etwas.

Rian blinzelte, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder den Lösungsweg gefunden hatte. »Und der Schlüssel ist hier, weil ihr hier seid – du und das Hermelin. Wir müssen ihn also finden! Oder … erkennen?«

Der Hirsch senkte sein gewaltiges Geweih zu einem angedeuteten Nicken.

Sie und David blickten in das Dickicht, drehten sich um die eigene Achse. Einen Schlüssel für ein Schloss. Ein Schlüssel, den man in das passende Loch steckt und dreht. Ein Schlüssel, um eine Botschaft zu decodieren. Ein Schlüssel als Dechiffrierschablone, um im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu entdecken, ging Rian die Möglichkeiten im Geiste durch, die ihr dazu einfielen. Es fühlte sich an, als wäre sie der Lösung bereits nahegekommen, ohne sie noch zu sehen.

Sie ließ den Blick abermals über den See schweifen. Der Dampf hing weiterhin wie züngelndes Schattenfeuer über der Wasseroberfläche. Die Nebelflammen stiegen unablässig empor, wiegten sich im Wind, tanzten und vergingen wieder. Ein Reigen aus Werden und Vergehen, gespeist aus dem immer selben Becken.

Je länger sie hineinblickte, desto öfter meinte Rian, Figuren darin zu erkennen. Unförmige Gestalten, Pflanzen, Tiere. Und plötzlich verstand sie es, wusste, was die Worte des Boten zu bedeuten hatten. »Sie zeigen uns den Weg«, sagte Rian und machte einige Schritte auf den See zu, ohne den Blick von den Formen abzuwenden.

»Wer?«, fragte David irritiert. Sie spürte, dass er ihr folgte, als sie sich auf den See zu bewegte.

»Du musst nur richtig hinsehen. Hineinsehen, ohne etwas Bestimmtes erkennen zu wollen«, sagte Rian, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihr bot. »Als wären wir in unserer Welt. Wir haben zu sehr auf die Menschenwelt geachtet. Der See ist hier aber nur verankert, wie ein Tor, und wir müssen die Grenze überschreiten. Die Boten weisen uns den Weg.«

Der Hirsch blieb hinter ihnen zurück, während das Hermelin über den See lief, sich zwischen den Nebelsäulen hindurch schlängelte, hinein tauchte, nur um eine Körperlänge weiter vorn wieder aufzutauchen. Ein Umriss nur, aber auf magische Weise so real wie alles andere, das Rian wahrnahm.

»Komm«, sagte sie und hielt ihrem Bruder hinter ihr die Hand entgegen.

Diesmal blieb David stumm, als er seine Hand voller Vertrauen in ihre legte und sie sanft umschlang. Ihr Zwillingsblut ließ ihre elfische Seite im Gleichklang schlagen, so wie einst.

Gemeinsam folgten sie dem kleinen Boten. Und als Rian den ersten Schritt in den See hinein unternahm, da teilten sich der Nebel und das Wasser und gaben einen schmalen Pfad zwischen den Elementen frei.

8.
Bandorchus Ausflug

Hügel von Tara

Bandorchu saß auf ihrem Bett im frisch errichteten Schlafgemach und spießte mit einem Zahnstocher die Augen einer unartigen Dryade auf, die man ihr auf einem Teller serviert hatte.

 

Ohne ihre Besitzerin waren es nur mehr tote hölzerne Klötze, in deren Mitte eine bleiche, eichelförmige Pupille saß. Das Leben eines Menschen war genauso leicht zu beenden wie das eines Baumgeistes. Es war der Widerstand, den Bandorchu so sehr an den Nicht-Elfischen genoss. Dieser kindliche Trotz, gepaart mit einem starken Willen, der im Kontrast zu ihren verletzlichen Leibern stand. Doch gegen Magie waren sie machtlos. Selbst ein einfacher Kobold wie der Springgans konnte sie dazu bringen, willenlos Befehlen zu folgen. Und genau das würde sie sich zunutze machen. Das hatte er mit dieser albernen Zahnstocherlieferung eindrucksvoll bewiesen.

Die Dunkle Königin konzentrierte sich und sog die Energien, die über die Ley-Linien zu ihr strömten, in sich auf. Ihr treuer, schattenloser Diener hatte gut daran getan, die Stäbe an den nördlichen fünf Hauptknoten zu setzen, um ihr die Quelle der Macht zugänglich zu machen.

Auf diese Weise konnte sie ihr Reservoir zur Gänze auffüllen, zu hundert Prozent auftanken, statt sich weiter mit den Häppchen zufrieden geben zu müssen, die die Menschen ihr geboten hatten. Wirre, beschädigte Seelen, die Bandorchus Diener nach dem Übertritt in diese Welt aus den abgelegenen Gassen der Städte herangeschafft hatten. Doch damit war vorerst Schluss. Jetzt, da sie auf die geballte Energie aus der Erde zugreifen konnte.

Alle würden ihr zu Willen sein, wenn sie sich erst diese Welt und die der Sidhe Crain Untertan gemacht hatte. Der nötige Grundstein war gelegt, das Basislager im Aufbau. Nun galt es, den Schlachtplan genauer auszuarbeiten. Sie brauchte noch mehr Macht, mehr Energie! Sie würde ihre Heerschar zu einem einzigen vernichtenden Schlag in den Krieg führen. Also musste jedes noch so winzige Rädchen im Getriebe einwandfrei funktionieren.

Und ausgerechnet in dieser vielleicht alles entscheidenden Stunde war ihr wertvollster Diener nicht hier! »Wo bist du?«, rief die Dunkle Königin in den leeren Raum hinein. »Komm zu mir, damit ich dich für deinen Verrat büßen lassen kann!«

Doch der Getreue tauchte nicht auf. Trotzte ihr schon wieder! Einmal mehr wünschte Bandorchu sich ihr Hündchen herbei, um es zu treten, zu würgen und sich an seinem Leid sattzusehen. Kein anderer hatte es je so lange an ihrer Seite ausgehalten, in Knechtschaft und Pein. Hin und her gerissen zwischen Verzückung und Qual.

Mit einem Wutschrei sprang die Königin auf und befahl dem Mann ohne Schatten, zurückzukehren und sich ihr auszuliefern. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft. Sie und ihn verband so viel mehr als nur das Streben nach Macht. Sie waren voneinander abhängig. Er brauchte sie. Er zehrte von ihr. Und er würde kommen! Kommen müssen!

Mit einem giftig-süßen Lächeln auf den Lippen straffte sie sich, rückte ihre Robe zurecht, fuhr sich durch ihr langes, seidig schimmerndes Haar und war wieder die Dunkle Königin, Herrscherin über die Verbannten, Gebieterin ihrer Gefühle. Nichts konnte sie aufhalten. Gefasst und siegessicher trat sie aus der Kammer in den steinernen Palisadengang hinaus.

Die Wände waren aus massivem Granit gebaut. Wie ein Fort, eine Trutzburg, die dereinst jedem Ansturm standhalten würde. Aber noch war es nicht soweit. Noch brauchte es Vorbereitung und weitere Planung. Und es brauchte die Menschen. Diese unerschöpfliche Welt.

Sie brauchten Nahrung und Waffen, Handwerker, Schmiede, Bauleute. Und es brauchte Informationen. Ein Netzwerk, das sich über die Welt spannte, um über jedwede Entwicklung, die ihr Vorhaben betraf, auf dem Laufenden zu sein.

Menschenseelen waren so schwach und anfällig. Ein Fingerschnipsen reichte, um sie sich dienstbar zu machen, ihren Willen zu brechen, sie als brave Marionetten auf dem Schachbrett zu positionieren und nach ihren Wünschen zu verschieben. Es wurde Zeit, die Figuren zu wählen.

Die Schritte der Dunklen Königin hallten durch die Gänge und fingen sich im Turm der Wendeltreppe, als sie im Stechschritt hinabstieg. Das erste Mal, seit sie in Tara angekommen war und den Bau ihrer Trutzburg begonnen hatte, verließ Bandorchu ihre neue Heimstatt, trat aus dem schützenden Wall heraus, um sich unter die Menschen zu mischen. Gänzlich allein. Durch ihre eigene Macht geschützt.

Der Weg ins Dorf war nicht weit. Nach ein paar hügeligen Wiesen und Feldern tauchten die kleinen Hütten und Höfe vor ihr auf. Ein typisch irisches Idyll. Durchdrungen von Schafdung und schalem Ale. Die Menschen hier liebten es einfach, herzlich und streitlustig, so viel wusste Bandorchu über das Volk der Koboldfreunde und Freiheitskämpfer.

Mit erhabenem Gang stieg sie sicheren Schrittes über die Moosfelder der Weide, öffnete das Gatter und trat wie selbstverständlich hinaus auf die Dorfstraße.

Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu, um sich niederzulegen. Die Bauern waren dabei, ihr Tagwerk zu beenden, die Tiere zurück in ihre Ställe zu bringen, sie zu füttern und schließlich an das eigene Wohl zu denken. Wer nicht daheim bei seiner Familie hocken musste, ging unter Leute. Mit dem schwächer werdenden Licht wurden die Menschen redselig und gesellig.

Doch als die Dunkle Königin in ihrer weißen, beinahe durchsichtigen Robe, ihrem glatten, strahlendblonden Haar und ihrem zartelfischen Antlitz die erste Häuserzeile erreichte, kam die dörfische Welt zum Stillstand.

»Oh, wie wunderschön«, hauchte eine Bäuerin, die gerade dabei gewesen war, ihre Wäsche abzuhängen.

»Ist das ein Engel, Mama?«, fragte das Kleinkind an ihrem Rockzipfel.

Die Männer hingegen plusterten ihr imaginäres Gefieder, reckten die Köpfe, streckten die Brust heraus und strichen sich das Hemd über ihrer Bierwampe zurecht. Ein besonders eifriger Kerl eilte herbei, zog seine Kappe vom Kopf und verbeugte sich, als wäre Bandorchu eine Balldame und er ihr ergebener Tanzpartner.

»Was fürne Ehr’, so ne hübsche Dame hier zu ham«, sagte er und lächelte sein schönstes Zahnlückenlächeln.

Doch die Dunkle Königin war nicht unterwegs, um sich Schmeicheleien abzuholen. Es gab viel zu organisieren. »Wer ist der Krämer an diesem Ort? Wer der Fleischer? Und wer hat einen ordentlichen Karren mit kräftigen Pferden, um mir die gewünschten Güter zu transportieren?«, fragte sie mit klarer, lauter Stimme.

Die Männer sahen sich an und wirkten unschlüssig. Bis auf den buckelnden Speichellecker wollte sich keiner näher wagen. Also schob sich Bandorchu die Ärmel links und rechts bis zu den Ellenbogen hinauf, ließ die Finger einmal knacken, bevor sie erst nach der Magie in der Erde und dann nach den Seelen dieser Dummköpfe griff.

Einen nach dem anderen band sie an sich, machte sie alle zu ihren hörigen Opfern, raubte ihnen die Sinne und stahl ihnen ihren Willen. Genau wie es der Springgans zuvor bei dem Schäferjungen getan hatte, um ihr Zahnstocher zu besorgen.

Ihre Magie floss in schwarzvioletten Strängen zu jedem einzelnen, der sich im Umkreis von fünfzehn Metern auf der Straße befand. Ganz egal, wie sehr die Frauen und Kinder aus der Ferne protestierten oder schrien, die Männer ließen alles stehen und liegen, wandten sich ihrem neuen Mittelpunkt zu und folgten ihrem Ruf.

»Irwin! Wo willst du denn hin, Irwin?«, rief eine Alte ihrem Mann nach.

Der Greis kam in schleppendem Gang auf Bandorchu zu, ohne zu antworten oder sich auch nur nach seiner Frau umzudrehen. Sein Gesicht zeugte von jahrzehntelanger harter Arbeit bei Sonne, Regen und Sturm. Fasziniert betrachtete die Dunkle Königin die tiefen Furchen in seiner Haut. Ledrig und spröde, fast wie Baumrinde wirkte sie. Doch Bandorchu konnte spüren, dass in seinen Knochen noch reichlich Leben steckte.

Seine großen klobigen Hände baumelten seitlich aus abgetragenen Ärmelenden. Zwei gut geschulte Werkzeuge, die blind ihre Arbeit verrichten konnten.

»Was ist dein Talent?«, fragte die Dunkle Königin, als er vor ihr stehenblieb.

»Ich bin Fuhrmann. Ich transportiere das Holz, ziehe mit meinen Gäulen die Baumstämme aus dem Wald, säubere sie von Ästen und bring sie rüber in die nächste Stadt ins Lager oder direkt zum Verladebahnhof, wenn’s Holz weiter weg reisen soll«, antwortete der Mann gehorsam.

»Sag mir deinen Namen, Fuhrmann«, befahl Bandorchu mit zuckersüßer Stimme, während die Alte immer noch keifte und zeterte.

»Liam«, kam die prompte Antwort.

»Dann hör mir gut zu, Liam«, sprach sie und fasste seinen Kopf mit beiden Händen. »Du gehörst jetzt mir. Du wirst tun, was immer ich wünsche, bis ich dir etwas anderes befehle.« Erneut ließ sie die Magie aus sich heraus strömen, ihn umschlingen und schließlich in ihn dringen. Zielsicher bahnte sich ihr Zauber den Weg zum Zentrum seines Denkens und Handelns und hinab in sein Herz und seine Eingeweide. All das würde von nun an danach schmachten, ihre Stimme zu hören und ihre Kommandos zu empfangen. In ihm gab es nur noch sie als Sonne, die er zu umkreisen hatte, und ein paar elementare Überlebensinstinkte, die ihn atmen und verdauen ließen.

»Du wirst meiner Spur folgen und uns all dein Holz bringen und was du sonst noch an Waren in deinem Lager hast. Aber vorher versorgst du uns mit so viel Essen und Wein, wie auf deinen Karren passt.« Mit einem bittersüßen Kuss auf seine Lippen besiegelte sie den Bannzauber. Er stöhnte auf. Von Grauen überwältigt und doch verzückt. Denn die Erkenntnis, gefangen zu sein, wich bereits bei seinem nächsten Atemzug aus dem Bewusstsein. Mit leergefegtem Verstand stand er da, während ihm eine letzte Träne über die Wange rann.

»Hexe! Seht, was sie gemacht hat! Sie ist eine verdammte Ausgeburt der Hölle!«, schrie die Alte und kam ihrem Mann mit hoch erhobenem Teppichklopfer nach.

Bandorchu hob belustigt die Brauen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Ein bisschen Drama war nie verkehrt, als unterhaltsames Intermezzo.

»Seht ihr das denn nicht? Dass sie euch alle bezirzt?«, keifte die Frau, als sie heran war. Den Klopfer immer noch drohend erhoben, drehte sie sich, um die Umstehenden aufzurütteln. Doch die Blicke der Männer galten nur ihr – der Dunklen Königin Bandorchu.

»Schweig jetzt«, sagte sie, als die Alte immer lauter und hysterischer wurde. Eine Handbewegung reichte, um ihr die Stimme zu nehmen. Um ihr die Kehle zuzuschnüren und dann zuzudrücken.

Die Augen weit aufgerissen, die Hände an den Hals gelegt, keuchte die Greisin, kratzte sich die Haut auf bei dem verzweifelten Versuch, sich von dem unsichtbaren Henkersseil zu befreien, das sich von Sekunde zu Sekunde fester zuzog.

Oh, wie Bandorchu es genoss. Wie sehr sie es liebte, Verzweiflung zu säen, Hoffnung zu rauben und Todesangst zu schüren. Die Energie in ihr brodelte so heiß und gierig, dass ihr Herz zu hämmern begann. Brunftige Leidenschaft wallte in ihr auf, wollte einen Körper nehmen, ihn niederzwingen, sich untertan machen und schließlich genommen werden. Haut an Haut. Ineinander verschlungen. In Schmerz und Lust vereint, bis die Anspannung in einem Feuerwerk der Ekstase endete, sich auflöste und – zumindest für einen kurzen Moment – an ihre Stelle Befriedigung setzte.

»Der nächste!«, rief sie voller Gier, formte die Hand zur Faust, presste das letzte bisschen Leben aus der Frau und wandte sich den wartenden Männern zu.

Die Frau brach leblos zusammen, den Kopf unnatürlich schräg zur Seite gekippt, das Gesicht zu einer Fratze des Schreckens verzerrt. Das würde anderen eine Lehre sein.

»Schaff sie weg von hier«, befahl sie Liam.

Seine Augen spiegelten für einen Bruchteil Erkennen und Schmerz wider. Tief in ihm drinnen wusste er, was passierte, spürte er sein eigenes Herz brechen. Dennoch beugte er sich ächzend vor, packte seine tote Frau an den Haaren, als wäre sie ein Stück Holz, und zog sie routiniert die Straße hinab zurück zum Hof.

Mehr Menschen strömten aus den Häusern, redeten aufgeregt durcheinander und deuteten auf Bandorchu. Vielleicht war diese Demonstration ihrer Macht doch keine so gute Idee gewesen. Eine Tote mochte noch keine Schlagzeilen wert sein, aber ein Dutzend würde am Ende noch die Gesetzeshüter von außerhalb auf den Plan rufen. Unnötiger Trubel, der lästig werden konnte.

Also entschied sich die Dunkle Königin dafür, es für heute gut sein zu lassen. Zwei der umstehenden Burschen zog sie magisch mit sich, während sie dem Rest befahl, sich wieder um ihre alltäglichen Dinge zu kümmern. Es würde an ihnen sein, die ganze Sache ihren Familien zu erklären. Unnötig, sie auch noch zu bannen. Vorerst zumindest.

Es war so einfach, den menschlichen Geist zu verdrehen, ihn zu wenden und zu töten, wie es ihr beliebte. Die Energie, die sie dafür benötigte, war verschwindend gering, im Vergleich zu so manchem elfischen Opfer.

 

Kaum einer, mit Ausnahme des Getreuen, hatte sich je gegen ihre Einflussnahme gewehrt, hatte sich ihr trotzig widersetzt und ihre Nerven strapaziert. Andererseits waren es die kämpferischen Gegner, die sie schätzte. Ihre Pein war die schönste, weil in ihnen immer noch der Hoffnungsfunke glomm, sie könnten ihr entkommen. Doch das musste sie bei ihrem getreuen Diener nicht befürchten. Auch wenn er ihr trotzte, er war ihr verfallen. Mit Haut und Haar. Und eine leise Stimme sagte ihr, dass das verlorene Schaf auf ihren Ruf hin heimgekehrt war und sehnsüchtig seine Strafe erwartete.

Bandorchu lächelte grimmig bei diesem Gedanken, drehte sich um, wischte mit der Hand einmal elegant durch die Luft und trat zufrieden den Heimweg an. Ein violetter Windhauch fegte durch die Straße, umspielte die Menschen und ließ Verwirrung und Wut verrauchen, ließ sie vergessen und weitermachen mit ihrem kleinen nichtigen Leben.

Sie würde wiederkommen und erneut mit ihnen spielen. Bis sich alle Steinchen am richtigen Fleck versammelt hatten. Bis ihr Netz gespannt war und ihre Diener und Verbündeten bereit für die letzte Schlacht waren.