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Dies war der Mann, den er hier treffen sollte, dessen war er sich sicher. Hatte er ihn erkannt? Die arabischen Männer hatten nicht so geschienen. Hatte dieser Mann jemand anderen erwartet?

Er legte den Stift ab. Langsam und heimlich zerknüllte er die Serviette und ließ sie in seinen halbleeren kalten Kaffee fallen.

Der Mann nickte einmal. Reid nickte zurück.

Dann griff der Fremde nach hinten, nach etwas, das in seiner Hose steckte.

KAPITEL FÜNF

Reid stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl beinahe umkippte. Seine Hand legte sich sofort um den Griff der Beretta, die von seinem Rücken warm geworden war. Seine Gedanken schrien ihn verzweifelt an. Dies ist ein öffentlicher Ort. Es sind Leute hier. Ich habe noch nie eine Waffe gefeuert.

Bevor Reid seine Pistole herausziehen konnte, zog der Fremde eine Brieftasche aus seiner Gesäßtasche. Er grinste Reid an, ganz offensichtlich amüsiert darüber, wie nervös er wirkte. Niemand anderes in der Bar schien es bemerkt zu haben, nur die Kellnerin mit dem verwüsteten Haar, die einfach nur eine Augenbraue hob. Der Fremde ging an die Bar, schob einen Geldschein über den Tresen und murmelte dem Barkeeper etwas zu. Dann begab er sich zu Reids Tisch. Für einen langen Moment stand er hinter dem leeren Stuhl mit einem dünnen Grinsen auf seinen Lippen.

Er war jung, höchstens 30 Jahre alt, mit kurzgeschnittenen Haaren und winzigen Bartstoppeln. Er war ziemlich schlaksig und sein Gesicht schien ausgemergelt, was seine markanten Wangenknochen und das hervorstehende Kinn fast wie eine Karikatur wirken ließ. Am auffälligsten war jedoch die schwarze Hornbrille, die er trug, mit der er für die ganze Welt so aussah, als wäre er Buddy Holly, der in den achtziger Jahren aufgewachsen war und Kokain entdeckt hatte.

Er war Rechtshänder, wie Reid sofort erkannte; sein linker Ellbogen lag dicht an seinem Körper an, was wahrscheinlich bedeutete, dass er eine Pistole in einem Schulterhalfter unter der Achsel hatte, die er notfalls mit der rechten Hand ziehen konnte. Mit seinem linken Arm hielt er seine schwarze Wildlederjacke nah am Körper, um die Waffe zu verbergen.

„Mogu siediti?“, fragte der Mann endlich.

Mogu...? Reid verstand es nicht sofort, so wie er Arabisch und Französisch verstanden hatte. Es war kein Russisch, aber ähnlich genug, um die Bedeutung aus dem Zusammenhang heraus abzuleiten. Der Mann fragte, ob er sich setzen könne.

Reid deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber und der Mann setzte sich, während er seinen linken Ellbogen die ganze Zeit gebeugt hielt.

Sobald er Platz genommen hatte, brachte die Kellnerin ein Glas dunkles Bier und stellte es vor ihm hin. „Merci“, sagte er. Er grinste Reid an. „Ist Ihr serbisch nicht so gut?“

Reid schüttelte den Kopf. „Nein.“ Serbisch? Er hatte angenommen, dass der Mann, den er treffen würde, arabisch wäre, genau wie seine Entführer und der Vernehmer.

„Dann also Englisch? Ou francais?“

„Das können Sie sich aussuchen.“ Reid war überrascht, wie ruhig und eintönig seine Stimme klang. Sein Herz platzte in seiner Brust fast vor Angst und … wenn er ehrlich war, mit einer Spur ängstlicher Aufregung.

Das Grinsen des serbischen Mannes wurde breiter. „Ich liebe diesen Ort. Er ist dunkel. Er ist ruhig. Es ist die einzige Bar in diesem Bezirk, die Franziskaner verkauft. Es ist mein Lieblingsbier.“ Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, schloss seine Augen und ein kleines Grunzen des Vergnügens entsprang seiner Kehle. „Que delicioso.“ Er öffnete seine Augen wieder und fügte hinzu: „Sie sind nicht, was ich erwartet habe.“

Eine Panikwelle überkam Reid. Er weiß es, schrie die Stimme in seinem Kopf. Er weiß, dass du nicht der bist, dem er begegnen sollte und er hat eine Waffe.

Entspann dich, sagte die andere Stimme, die neue Stimme. Du kriegst das hin.

Reid schluckte, aber irgendwie gelang es ihm, sein eisiges Auftreten zu bewahren. „Sie auch nicht“, sagte er.

Der Serbe kicherte. „Das ist fair. Aber wir sind viele, nicht wahr? Und Sie – sind Sie Amerikaner?“

„Expat.“, antwortete Reid.

„Sind wir das nicht alle?“ Ein erneutes Kichern. „Vor Ihnen habe ich bisher nur einen anderen Amerikaner in unserem ... wie nennt man es ... Konglomerat getroffen? Ja. Also ist es für mich nicht so seltsam.“ Der Mann zwinkerte.

Reid war angespannt. Er konnte nicht sagen, ob es ein Witz war oder nicht. Was, wenn er wusste, dass Reid ein Betrüger war und wenn er ihm etwas vormachte, um Zeit zu gewinnen? Er verbarg seine Hände auf seinem Schoß, um seine zitternden Finger zu verstecken.

„Sie können mich Yuri nennen. Wie kann ich Sie nennen?“

„Ben.“ Es war der erste Name, der ihm in den Sinn kam; der Name eines Mentors aus seiner Zeit als Professoren-Assistent.

„Ben. Wie ist es gekommen, dass Sie für die Iraner arbeiten?“

„Mit“, korrigierte Reid ihn. Er kniff die Augen zusammen, um den Effekt zu verstärken. „Ich arbeite mit ihnen.“

Der Mann, dieser Yuri, nahm noch einen Schluck von seinem Bier. „Sicher. Mit. Wie ist es dazugekommen? Trotz unserer gemeinsamen Interessen neigen sie dazu, eine … eher geschlossene Gruppe zu sein.“

„Ich bin vertrauenswürdig“, sagte Reid ohne zu blinzeln. Er hatte keine Ahnung, woher diese Worte kamen oder die Überzeugung, mit der er sie sprach. Er sagte sie einfach so, als hätte er es vorher eingeübt.

„Und wo ist Amad?“, fragte Yuri beiläufig.

„Er hat es nicht geschafft“, antwortete Reid eintönig. „Sendet seine Grüße.“

„Alles klar, Ben. Sie sagen, die Tat ist vollbracht.“

„Ja.“

Yuri lehnte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. Reid konnte das Malz des Biers in seinem Atem riechen. „Ich muss es von Ihnen hören, Ben. Sagen Sie mir, ist der CIA-Mann tot?“

Reid erstarrte für einen Augenblick. CIA? So wie die CIA? Plötzlich machte all das Gerede von Agenten im Feld und die Visionen, davon Terroristen auf Flugplätzen und in Hotels festzunehmen, mehr Sinn, auch wenn die gesamte Angelegenheit es nicht tat. Dann erinnerte er sich an die Ernsthaftigkeit seiner Situation und hoffte, dass er seine Maskerade nicht verraten hatte.

Er lehnte sich ebenfalls nach vorn und sagte langsam: „Ja, Yuri. Der CIA Mann ist tot.“

Yuri lehnte sich entspannt zurück und grinste wieder. „Gut.“ Er griff nach seinem Glas. „Und die Informationen? Sie haben sie?“

„Er hat uns alles gegeben, was er wusste“, sagte Reid zu ihm. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass seine Finger nicht länger unter dem Tisch zitterten. Es war, als ob jetzt jemand anderes die Kontrolle übernommen hätte, als ob Reid Lawson in seinem eigenen Gehirn in den Hintergrund getreten war. Er beschloss, nicht dagegen anzukämpfen.

„Den Aufenthaltsort von Mustafar?“, fragte Yuri. „Und alles, was er ihnen gesagt hat?“

Reid nickte.

Erwartungsvoll blinzelte Yuri ein paarmal. „Ich warte.“

Eine plötzliche Erkenntnis traf Reid wie ein schwerer Hammer, als er in seinem Kopf das wenige Wissen, das er hatte, zusammenfügte. Die CIA steckte mit drin. Es gab irgendeinen Plan, der viele Menschen töten würde. Der Scheich kannte ihn und hatte ihnen – ihm – alles erzählt. Diese Männer mussten wissen, was der Scheich wusste. Das war es, wonach Yuri ihn fragte. Was auch immer es war, es fühlte sich groß an und Reid war irgendwie mitten hineingeraten ... Obwohl er mit ziemlicher Sicherheit fühlen konnte, dass dies nicht das erste Mal war.

Er antwortete lange nicht, lang genug, dass das Lächeln von Yuris Lippen verschwand und sich in einen erwartungsvollen, dünnlippigen Blick wandelte. „Ich kenne Sie nicht“, sagte Reid. „Ich weiß nicht, wen Sie repräsentieren. Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen alles sage, was ich weiß und dann hier weggehe und einfach darauf vertraue, dass es an den richtigen Ort gelangt?“

„Ja“, sagte Yuri, „das ist genau, was ich erwarte und der präzise Grund für dieses Treffen.“

Reid schüttelte seinen Kopf. „Nein. Sehen Sie, Yuri, ich finde, dass diese Informationen zu wichtig sind, um damit Stille Post zu spielen und zu hoffen, dass sie in der richtigen Reihenfolge an die richtigen Ohren geraten. Darüber hinaus gibt es nur einen einzigen Ort, an dem sie existieren – genau hier.“ Er tippte sich auf seine linke Schläfe. Es stimmte; die Informationen, nach denen sie suchten, befanden sich vermutlich irgendwo in den Tiefen seines Gehirns und warteten darauf, entdeckt zu werden. „Ich würde auch denken“, fuhr er fort, „das jetzt, wo sie diese Informationen haben, sich unsere Pläne ändern müssen. Ich habe genug davon, nur der Bote zu sein. Ich will daran teilhaben. Ich will eine richtige Rolle.“

Yuri starrte ihn nur an. Dann stieß er ein lautes, brüllendes Lachen aus und schlug gleichzeitig so heftig auf den Tisch, dass sich mehrere Gäste in der Nähe zu ihnen umdrehten. „Sie!“, rief er und zeigte mit einem Finger auf ihn. „Sie mögen vielleicht ein Expat sein, aber Sie haben noch immer diesen amerikanischen Ehrgeiz!“ Er lachte wieder und klang dabei fast wie ein Esel. „Was wollen Sie wissen, Ben?“

„Beginnen wir mal damit, wen Sie repräsentieren.“

„Woher wissen Sie denn, dass ich jemanden repräsentiere? Ihrem Wissen nach könnte ich hier der Boss sein. Der Kopf hinter dem Masterplan!“ Er streckte beide Hände in einer großen Geste nach oben und lachte wieder.

 

Reid grinste. „Das glaube ich nicht. Ich glaube, Sie sind in der gleichen Position wie ich, überbringen Informationen, tauschen Geheimnisse, haben Treffen in beschissenen Bars.“

Eine Verhörmethode – Begeben Sie sich auf das gleiche Level. Yuri war ganz eindeutig ein Polyglott und schien nicht die gleiche Hartnäckigkeit zu haben, die seine Entführer zeigten. Aber selbst wenn er sich auf niedrigerem Niveau befand, wusste er trotzdem immer noch mehr als Reid selbst. „Wie wäre es mit einem Deal? Sie erzählen mir, was Sie wissen und ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß.“ Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern. „Und vertrauen Sie mir. Sie wollen wissen, was ich weiß.“

Yuri strich sich nachdenklich über die Bartstoppeln. „Ich mag Sie, Ben. Was irgendwie, wie sagt man es … widersprüchlich ist, denn Amerikaner machen mich normalerweise krank.“ Er grinste. „Schade für Sie, aber ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich weiß.“

„Dann zeigen Sie mir, wer es kann.“ Die Worte flossen nur so aus ihm heraus, als hätten sie sein Gehirn umgangen und wären direkt auf seiner Zunge gelandet. Der logische Teil in ihm (oder besser gesagt, der Lawson-Teil in ihm) protestierte laut. Was machst du denn?! Finde soviel heraus, wie du kannst und verschwinde von hier!

„Würden Sie mich gern auf einer kleinen Fahrt begleiten?“ Yuris Augen blitzen auf. „Ich werde Sie zu meinem Boss bringen. Dort können Sie ihm erzählen, was Sie wissen.“

Reid zögerte. Er wusste, er sollte es nicht tun. Er wusste, dass er es nicht tun wollte. Aber er hatte dieses seltsame Gefühl der Verpflichtung und diese eiskalte Gelassenheit in seinem Hinterkopf, die ihm wieder sagte: Entspann dich. Er hatte eine Waffe. Er hatte eine Reihe von Fähigkeiten. Er war so weit gekommen und soweit er es jetzt beurteilen konnte, ging diese Sache definitiv weit über ein paar iranische Männer in einem Pariser Keller hinaus. Es gab einen Plan und die CIA war involviert. Außerdem wusste er irgendwie, dass es darum ging, viele Menschen zu verletzen oder noch schlimmer.

Er nickte einmal mit fest zusammengebissenen Zähnen.

„Großartig.“ Yuri lehrte sein Glas und stand auf, wobei er seinen linken Ellbogen noch immer angewinkelt hielt. „Au revoir.“ Er winkte dem Barkeeper zu. Dann führte ihn der Serbe in den hinteren Teil der Bar Féline, durch eine kleine schmuddelige Küche und hinaus durch eine Stahltür in eine gepflasterte Gasse.

Reid folgte ihm hinaus in die Nacht, überrascht zu sehen, dass es so schnell dunkel geworden war, während er sich in der Bar aufgehalten hatte. Am Ende der Gasse wartete ein schwarzer Geländewagen mit Motor im Leerlauf und seine Fenster waren fast so dunkel wie die Lackierung selbst. Die hintere Tür öffnete sich, noch bevor Yuri sie erreichte und zwei Schlägertypen stiegen aus. Reid wusste nicht, wie er sie sonst beschreiben sollte; sie waren breitschultrig, eindrucksvoll und versuchten gar nicht erst die TEC-9 Automatikpistolen zu verstecken, die in Halterungen unter ihren Armen hingen.

„Entspannt euch, meine Freunde“, sagte Yuri. „Das ist Ben. Wir bringen ihn zu Otets.“

Otets. Phonetisches russisch für „Vater“. Oder auf einem mehr technischen Level „Erschaffer“.

„Kommen Sie“, sagte Yuri freundlich. Er legte eine Hand auf Reids Schulter. „Es ist eine schöne Fahrt. Wir trinken unterwegs Champagner. Kommen Sie.“

Reids Beine wollten nicht funktionieren. Es war riskant – zu riskant. Wenn er mit diesen Männern ins Auto stieg und sie herausfanden, wer er war oder vielleicht nur, dass er nicht der war, der er behauptete zu sein, würde er als toter Mann enden. Seine Mädchen würden Waisenkinder werden und sie würden wahrscheinlich nie erfahren, was aus ihm geworden war.

Aber welche Wahl hatte er? Er konnte ja auch nicht so tun, als hätte er plötzlich seine Meinung geändert; das wäre noch viel verdächtiger. Es sah so aus, als hätte er den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, bereits dadurch überschritten, indem er Yuri nach hier draußen gefolgt war. Und wenn er seine Maskerade lange genug aufrechterhalten konnte, konnte er vielleicht die Quelle finden – und herausfinden, was in seinem eigenen Kopf vor sich ging.

Er trat einen Schritt auf den Geländewagen zu.

„Ah! Un momento, por favor.“ Yuri gab seinen muskulösen Begleitern ein Zeichen mit einem Finger. Einer von ihnen drückte Reids Arme nach oben, während der andere ihn abtastete. Zuerst fand er die Beretta, die hinten in seiner Jeans steckte. Dann wühlte er mit zwei Fingern in Reids Taschen und zog das Bündel Euros und das Wegwerfhandy heraus. Er reichte alles an Yuri weiter.

„Das hier können Sie behalten.“ Der Serbe gab ihm das Geld zurück. „Diese anderen Sachen werden wir in Gewahrsam nehmen. Zur Sicherheit. Das verstehen Sie?“ Yuri steckte sich das Telefon und die Waffe in die Innentasche seiner Wildlederjacke und für einen kurzen Augenblick sah Reid den braunen Griff einer Pistole.

„Ich verstehe“, sagte Reid. Er war jetzt unbewaffnet und hatte außerdem keine Möglichkeit Hilfe zu rufen, wenn er sie brauchte. Ich sollte wegrennen, dachte er. Sprinte einfach los und schaue nicht zurück ...

Einer der Schlägertypen drückte seinen Kopf hinunter und schob ihn auf die Rückbank des Geländewagens. Sie beide stiegen nach ihm ein und schließlich folgte auch Yuri, der die Tür hinter sich schloss. Er setzte sich neben Reid, während die gekrümmten Schlägertypen fast Schulter an Schulter auf einem nach hinten gerichteten Sitz ihnen gegenüber saßen, direkt hinter dem Fahrer. Eine dunkel getönte Trennwand trennte sie von den Vordersitzen des Autos.

Einer der beiden klopfte mit zwei Fingern an die Trennwand zum Fahrer. „Otets“, sagte er mürrisch.

Ein schweres, verräterisches Klick-Geräusch verschloss die hinteren Türen und mit ihm begriff Reid plötzlich, was er getan hatte. Er war mit drei bewaffneten Männern in ein Auto gestiegen, ohne zu wissen, wohin sie fuhren und mit nur sehr geringem Verständnis davon, wer er sein sollte. Yuri zu täuschen, war nicht sonderlich schwierig gewesen, aber jetzt wurde er zu einem Boss gebracht … würden Sie wissen, dass er nicht der war, der er behauptete? Er kämpfte gegen den Drang an aufzuspringen, die Tür aufzureißen und sich aus dem Auto zu stürzen. Es gab kein Entkommen, zumindest nicht im Moment; er würde warten müssen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten und darauf hoffen, dass er heil aus der ganzen Sache herauskam.

Der Geländewagen fuhr los durch die Straßen von Paris.

KAPITEL SECHS

Yuri, der in der französischen Bar so gesprächig und lebhaft gewesen war, war während der Autofahrt ungewöhnlich still. Er öffnete eine Klappe neben seinem Sitz und zog ein abgegriffenes Buch mit einem eingerissenen Einband hervor – Machiavellis Der Prinz. Der Professor in Reid wollte laut spotten.

Die beiden Schlägertypen saßen ihm schweigend gegenüber, mit nach vorne gerichtetem Blick, als würden sie versuchen, Löcher durch Reid hindurch zu starren. Er merkte sich schnell ihre Gesichtszüge: der Mann auf der linken Seite war glatzköpfig, weiß, hatte einen dunklen Schnurrbart und Knopfaugen. Er trug eine TEC-9 unter seiner Schulter und eine Glock 27 in einem Knöchelholster. Eine unsaubere, verblasste Narbe über seiner linken Augenbraue deutete auf eine schlechte Flickarbeit hin (nicht sehr viel anders als das, was Reid wahrscheinlich zu erwarten hatte, sobald seine Sekundenkleber-Intervention geheilt war). Er konnte die Nationalität des Mannes nicht ausmachen.

Der zweite Schlägertyp hatte etwas dunklere Haut mit einem vollen, ungepflegtem Bart und einem beträchtlichen Bauch. Seine linke Schulter schien leicht herunterzuhängen, so, als würde er seine rechte Hüfte bevorzugt belasten. Auch er hatte eine automatische Pistole unter dem Arm, aber sonst keine anderen Waffen, soweit Reid es erkennen konnte.

Er konnte jedoch die Markierung an seinem Hals sehen. Die Haut war zerfurcht, rosa und leicht erhaben, dort wo sie verbrannt worden war. Es war die gleiche Markierung, die er bei dem arabischen Brutalo in dem Pariser Keller gesehen hatte. Eine Art Symbol, da war er sich sicher, aber keines, das er erkannte. Der schnauzbärtige Mann schien keine Markierung zu haben, jedoch war ein großer Teil seines Halses unter seinem Hemd verdeckt.

Yuri hatte sie auch nicht – zumindest keine, die Reid sehen konnte. Der Kragen der serbischen Wildlederjacke war hoch. Vielleicht handelte es sich um ein Statussymbol, dachte er. Etwas, das verdient werden musste.

Der Fahrer lenkte das Fahrzeug nordöstlich auf die A4 in Richtung Reims und ließ Paris hinter sich zurück. Durch die getönten Fenster sah die Nacht noch dunkler aus; sobald sie die Stadt der Lichter verlassen hatten, war es für Reid schwierig, Orientierungspunkte zu erkennen. Er musste sich auf die Streckenmarkierungen und Verkehrsschilder verlassen, um zu wissen, wohin sie fuhren. Die Landschaft veränderte sich langsam vom Städtischen zu freier, rustikaler Topografie, die von rollenden Hügeln und Bauernhöfen auf beiden Seiten geprägt war.

Nach einer Stunde völliger Stille räusperte sich Reid: „Ist es noch viel weiter?“, fragte er.

Yuri legte einen Finger auf seine Lippen und grinste dann. „Oui.“

Reids Nasenlöcher weiteten sich, aber er sagte nichts mehr. Er hätte fragen sollen, wie weit die Fahrt sein würde; soweit er es beurteilen konnte, waren sie auf dem direkten Weg nach Belgien.

Die Autobahn A4 wurde zur A34, welche wiederum zur A304 wurde, als sie immer weiter nördlich fuhren. Die Bäume, die in der pastoralen Landschaft verteilt standen, vermehrten sich und kamen näher. Breite schirmartige Nadelbäume, die die offenen Ackerflächen einrahmten und schließlich zu ununterscheidbaren Wäldern wurden. Die Steigung der Straße nahm zu, als die rollenden Hügel zu kleinen Bergen wurden. Er kannte diesen Ort. Oder besser, er kannte diese Region und das nicht nur wegen einer aufblitzenden Vision oder implantierten Erinnerungen. Er war noch nie hier gewesen, aber er wusste aus seinem Studium, dass sie die Ardennen erreicht hatten, einen gebirgigen Waldstreifen, der sich zwischen dem Nordosten Frankreichs, Süd Belgien und dem Norden Luxemburgs erstreckte. In 1944 hatte die deutsche Armee versucht, ihre Panzerdivisionen durch die dichtbewachsene Region zu leiten, um die Stadt Antwerpen einzunehmen. Dies wurde von amerikanischen und britischen Truppen in der Nähe des Flusses Maas vereitelt. Der nachfolgende Kampf wurde die Ardennenoffensive genannt und war die letzte große Offensive der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gewesen.

Irgendwie fand er, trotz der fürchterlichen Situation, in der er sich befand oder bald befinden würde, ein wenig Trost beim Nachdenken über die Geschichte, sein früheres Leben und seine Studenten. Aber dann wanderten seine Gedanken wieder zu seinen Mädchen, die verängstigt und allein waren und nicht wussten, wo er war oder in was er hineingeraten war.

Tatsächlich sah Reid schon bald ein Straßenschild, welches die Annäherung an die Grenze anzeigte. Auf dem Schild stand Belgique und darunter Belgien, België, Belgium. Keine drei Kilometer später hielt der Geländewagen an einem einzelnen Grenzposten mit einer Betonmarkise an. Ein Mann mit dickem Mantel und gestrickter Wollmütze sah hinaus auf das Fahrzeug. Grenzsicherheit zwischen Frankreich und Belgien war nicht vergleichbar mit dem, was die meisten Amerikaner gewohnt waren. Der Fahrer öffnete das Fenster und sprach mit dem Mann, aber man konnte die Worte durch die geschlossene Trennwand und Fenster nicht hören. Reid blinzelte durch die getönte Scheibe und sah, wie der Arm des Fahrers dem Grenzoffizier etwas reichte – einen Geldschein. Eine Bestechung.

Der Mann mit der Wollmütze winkte sie durch.

Nach ein paar mehr Kilometern auf der N5 verließ der Geländewagen die Autobahn und fuhr auf eine schmale Straße, die parallel zur Hauptverkehrsstraße lag. Es gab kein Ausfahrtschild und die Straße selbst war kaum asphaltiert; es handelte sich um eine Zufahrtsstraße, höchstwahrscheinlich für Holzabfuhrfahrzeuge gemacht. Der Wagen wurde wegen der tiefen Furchen der Strecke ordentlich durchgerüttelt. Gegenüber von Reid stießen die beiden Schlägertypen aneinander, aber sie starrten ihn weiterhin die ganze Zeit an.

 

Er sah auf seine billige Uhr, die er in der Apotheke gekauft hatte. Sie waren seit 2 Stunden und 46 Minuten unterwegs. Gestern Abend war er noch in den USA gewesen, war dann in Paris aufgewacht und nun befand er sich in Belgien. Entspann dich, sagte sein Unterbewusstsein wieder. Kein Ort, an dem du nicht schon gewesen wärst. Pass einfach auf und halte deinen Mund.

Auf beiden Seiten der Straße konnte man nichts anderes als dichten Baumbewuchs sehen. Der Geländewagen fuhr weiter die gewundene Straße eines Berges hinauf und dann wieder hinunter. Reid schaute die ganze Zeit über zum Fenster hinaus und tat so, als wäre er unbeschäftigt, aber er suchte nach irgendeiner Art Wahrzeichen oder einem Hinweis, die ihm verraten würden, wo sie sich befanden – idealerweise etwas, das er später den Behörden erzählen konnte, wenn es sein musste.

Vor ihnen erschienen Lichter, aber er konnte aus seinem Blickwinkel die Herkunft nicht erkennen. Der Geländewagen wurde langsamer und kam zu einem sanften Halt. Reid sah einen schwarzen schmiedeeisernen Zaun, jeder seiner Pfosten war mit einer gefährlichen Spitze gekrönt und erstreckte sich zu beiden Seiten, soweit das Auge reichte in die Dunkelheit. Neben ihrem Fahrzeug befand sich ein kleines Wachhaus aus Glas und dunklen Ziegelsteinen mit einem fluoreszierenden Licht darin. Ein Mann tauchte auf. Er trug Hosen und einen Wollmantel mit aufgestelltem Kragen und einem grauen Schal um den Hals. Er versuchte nicht einmal die schallgedämpfte MP7, die an einem Riemen über seiner rechten Schulter hing, zu verstecken. Genau genommen griff er nach der Maschinenpistole, als er auf das Auto zuging, aber er hob sie nicht.

Heckler & Koch, Modellvariante MP7A1, sagte die Stimme in Reids Kopf. Achtzehn-Zentimeter Schalldämpfer. Elcan Reflexvisier. Dreißig-Schuss-Magazin.

Der Fahrer öffnete sein Fenster und sprach für ein paar Sekunden mit dem Mann. Dann ging der Wächter um den Geländewagen herum und öffnete die Tür auf Yuris Seite. Er beugte sich hinunter und sah hinein. Reid konnte den Geruch von Roggenwhisky riechen und spürte einen eisigen Luftzug, der mit ihm von draußen hineinkam. Der Mann sah jeden von ihnen an, sein Blick blieb schließlich auf Reid hängen.

„Kommunicator“, sagte Yuri. „Chtoby uvidet’ nachal’nika.“ Russisch. Nachrichtenüberbringer, der den Boss sehen will.

Der Wachmann sagte nichts. Er schloss die Tür und kehrte auf seinen Posten zurück, von wo aus er einen Knopf auf einer kleinen Konsole drückte. Das schwarze Eisentor summte, als es sich seitlich öffnete und der Geländewagen fuhr hindurch.

Reids Kehle verengte sich, als ihm das volle Ausmaß seiner Situation klar wurde. Er war zu dem Treffen mit der Absicht gegangen, Informationen darüber, was vor sich ging, zu erhalten – nicht nur mit ihm, sondern auch mit all dem Gerede über Pläne und Scheichs und fremde Städte. Er war auf seiner Suche nach einer Quelle mit Yuri und den zwei Schlägertypen ins Auto gestiegen. Er hatte ihnen erlaubt, ihn aus dem Land und mitten hinein in eine dicht bewaldete Region zu bringen und nun befanden sie sich hinter einem hohen, bewachten Tor mit Eisenspitzen. Er hatte keine Ahnung, wie er hier herauskommen sollte, wenn irgendetwas schiefging.

Entspann dich. Du hast so etwas schon mal gemacht.

Nein, das habe ich nicht!, dachte er verzweifelt. Ich bin ein Universitätsprofessor aus New York. Ich weiß nicht, was ich tue. Warum habe ich das gemacht? Meine Mädchen …

Gib einfach nach. Du wirst wissen, was zu tun ist.

Reid atmete tief durch, aber es half nicht seine Nerven zu beruhigen. Er spähte aus dem Fenster. In der Dunkelheit konnte er die Umgebung kaum erkennen. Hinter dem Tor gab es keine Bäume, sondern reihenweise stämmige Reben, die sich durch hüfthohe Gitterwerke wanden und rankten … es war ein Weingut. Ob es wirklich ein Weingut war oder nur die Fassade, darüber war er sich nicht sicher, aber es war zumindest etwas Erkennbares, etwas, das man von einem Hubschrauber oder einer Drohne aus sehen konnte, wenn man darüber flog.

Gut. Das wird später nützlich sein.

Wenn es ein später gibt.

Der Geländewagen fuhr für einen weiteren Kilometer langsam über die Schotterstraße, bis der Weinanbau endete. Vor ihnen lag ein palastartiges Anwesen, quasi ein Schloss, aus grauem Stein mit gewölbten Fenstern und Efeu, der die Südfassade hinauf rankte. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste Reid die Schönheit der Architektur zu schätzen; das Schloss war wahrscheinlich zweihundert Jahre alt, vielleicht sogar noch älter. Aber auch hier hielten sie nicht an; stattdessen fuhr das Auto um das Anwesen herum und dahinter weiter. Nach einem weiteren knappen Kilometer erreichten sie ein kleines Grundstück und der Fahrer schaltete den Motor aus.

Sie waren angekommen. Aber wo sie angekommen waren, das wusste er nicht.

Die Schlägertypen stiegen zuerst aus, gefolgt von Reid und danach Yuri. Die bittere Kälte nahm ihm den Atem. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Den beiden großen Begleitern schien die Kälte nichts auszumachen.

Ungefähr vierzig Meter vor ihnen stand ein großes, gedrungenes Gebäude, zwei Etagen hoch und mehrere Male so breit; fensterlos und aus gewelltem Stahl, der beige lackiert war. Eine Art Produktionsstätte, dachte Reid – vielleicht für die Verarbeitung von Wein. Aber er bezweifelte es.

Yuri stöhnte, als er seine Glieder streckte. Dann grinste er Reid an. „Ben, ich weiß, wir sind inzwischen gute Freunde, aber dennoch …“ Er zog ein schmales Stück schwarzen Stoffes aus seiner Jackentasche. „Ich muss darauf bestehen.“

Reid nickte einmal kurz. Welche Wahl hatte er denn? Er drehte sich um, sodass Yuri die Augenbinde über seine Augen legen konnte. Eine kräftige, fleischige Hand griff seinen Oberarm – zweifellos einer der Schlägertypen.

„Also los“, sagte Yuri, „weiter zu Otets.“ Die starke Hand zog ihn vorwärts und führte ihn in die Richtung der Stahlkonstruktion. Er fühlte eine weitere Schulter, die auf der anderen Seite gegen ihn drückte; die beiden großen Schlägertypen hatten ihn in ihre Mitte genommen.

Reid atmete gleichmäßig durch seine Nase und versuchte sein Bestes, ruhig zu bleiben. Höre zu, sagte die Stimme in seinem Kopf.

Ich höre zu.

Nein, höre zu. Höre zu und gib nach.

Jemand klopfte dreimal an eine Tür. Der Klang war dumpf und hohl, wie der einer Basstrommel. Obwohl er nichts sehen konnte, stellte sich Reid in seinen Gedanken vor, wie Yuri mit der flachen Faust gegen die schwarze schwere Stahltür schlug.

Ein Riegel wurde zur Seite geschoben. Ein Schwall warmer Luft kam ihnen entgegen, als sich die Tür öffnete. Plötzlich, eine Mischung verschiedener Geräusche – Glas klirrte, Flüssigkeit spritzte, Riemen schwirrten. Winzerausrüstung, so wie es klang. Seltsam; von draußen hatte er nichts davon gehört. Die äußeren Wände des Gebäudes waren schallisoliert.

Die starke Hand schob ihn hinein. Die Tür schloss sich wieder und der Riegel wurde zurückgeschoben. Der Boden unter ihm fühlte sich wie glatter Beton an. Seine Schuhe platschten in eine kleine Pfütze. Der saure Geruch der Gärung war am stärksten und darunter konnte man ebenfalls den süßeren vertrauten Geruch von Traubensaft riechen. Sie machten hier wirklich Wein.

Reid zählte seine Schritte, als sie durch die Einrichtung liefen. Sie gingen durch eine weitere Tür und mit ihr ertönte eine Reihe neuer Klänge. Maschinen – eine hydraulische Presse. Eine Schlagbohrmaschine. Die klirrende Kette eines Förderbandes. Der Duft der Gärung wich Fett, Motorenöl und … Pulver. Hier wurde etwas hergestellt; höchstwahrscheinlich Munition. Es gab noch etwas anderes, etwas Vertrautes, außer dem Öl und dem Pulver. Es war etwas süßlich, fast wie Mandeln … Dinitrotoluol. Sie stellten Sprengstoff her.

„Stufen“, sagte Yuris Stimme dicht an seinem Ohr, als Reids Schienbein gegen die unterste Treppenstufe stieß. Die starke Hand führte ihn weiter, als die vier Beinpaare die Stahltreppe hinaufstiegen. Dreizehn Stufen. Wer auch immer diesen Ort gebaut hatte, konnte nicht abergläubisch sein.