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KAPITEL VIER

Durch die Straßen von Paris zu laufen, fühlte sich wie ein Traum an – nur nicht so, wie man es erwarten oder sich wünschen würde. Reid erreichte die Kreuzung der Rue de Berri und der Avenue des Champs-Élysées, die trotz des kühlen Wetters wie immer mit Touristen wimmelte. Der Arc de Triomphe war ein paar Häuserblocks entfernt im Nordwesten zu sehen. Er war das Herzstück des Charles de Gaulle Platzes, aber Reid nahm seine Großartigkeit nicht wahr. Eine neue Vision blitzte in seinen Gedanken auf.

Ich war hier schon einmal. Ich habe an genau dieser Stelle gestanden und auf das Straßenschild geschaut. In Jeans und einer schwarzen Motorradjacke, die Farben der Welt von einer polarisierten Sonnenbrille abgeschwächt …

Er ging nach rechts. Er war sich nicht sicher, was er in dieser Richtung finden würde, aber er hatte den unheimlichen Verdacht, dass er es erkennen würde, wenn er es sah. Es war eine unglaublich bizarre Empfindung, nicht zu wissen, wohin er ging, bis er dort ankam.

Es fühlte sich so an, als ob jeder neue Anblick den Hauch einer vagen Erinnerung hervorrief, jede unabhängig von der nächsten, aber doch immer irgendwie übereinstimmend. Er wusste, dass das Café an der Ecke die besten Pasteten servierte, die er je probiert hatte. Bei dem süßen Duft der Konditorei auf der anderen Straßenseite lief ihm das Wasser im Mund zusammen, weil er an herzhafte Schweineohren dachte. Er hatte noch nie zuvor Schweineohren gegessen. Oder doch?

Selbst Geräusche erschütterten ihn. Passanten unterhielten sich miteinander, während sie den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich richteten sich einige Blicke auf sein verbundenes, verletztes Gesicht.

„Ich würde wirklich nicht den anderen Typen sehen wollen“, murmelte ein junger Franzose zu seiner Freundin. Beide kicherten.

In Ordnung, keine Panik, dachte Reid.

Anscheinend kannst du Arabisch und Französisch. Die einzige andere Sprache die Professor Lawson sprach, war Deutsch und ein paar Sätze auf Spanisch.

Es gab noch etwas anderes, etwas das schwerer zu definieren war. Hinter seinen rasselnden Nerven und dem Instinkt zu rennen, nach Hause zu gehen, sich irgendwo zu verstecken, hinter all dem gab es einen kalten, stählernen Rückhalt. Es war, als hätte er die schwere Hand eines älteren Bruders auf seiner Schulter, eine Stimme in seinem Hinterkopf, die zu ihm sagte: Entspanne dich. Du weißt das alles.

Während die Stimme in seinem Hinterkopf ihn leise führte, standen seine Mädchen und ihre Sicherheit im Vordergrund. Wo waren sie? Woran haben sie gerade gedacht? Was würde es für sie bedeuten, würden sie beide Eltern verlieren?

Er hatte nicht einen Moment aufgehört, an sie zu denken. Selbst als er in dem dreckigen Kellergefängnis geschlagen wurde, während diese Visionen in seine Gedanken eindrangen, hatte er immer an die Mädchen gedacht – und ganz besonders an die letzte Frage. Was würde mit ihnen geschehen, wäre er dort in diesem Keller gestorben? Oder sollte er sterben, während er diese tollkühne Sache tat, die er nun vorhatte?

Er musste sich versichern. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen. Aber zuerst brauchte er eine Jacke und das nicht nur, um sein blutbeflecktes Hemd zu verstecken. Das Februarwetter brachte es zu fast zehn Grad Celsius, war aber definitiv noch zu kalt, um nur in einem Hemd herumzulaufen. Der Boulevard bildete einen Windkanal und die Brise war steif. Er ging ins nächste Kleidergeschäft und wählte den ersten Mantel, der ihm ins Auge fiel – eine dunkelbraune Bomberjacke, Leder mit Fleece gefüttert. Seltsam, dachte er. Nie zuvor hätte er sich eine solche Jacke ausgesucht, er stand mehr auf Tweed und karierte Mode, aber er fühlte sich dazu hingezogen.

Die Bomberjacke kostete zweihundertvierzig Euro. Egal; er hatte eine Tasche voller Geld. Er suchte sich auch noch ein neues Shirt aus, ein schiefergraues T-Shirt und dann eine neue Jeans, neue Socken und robuste braune Stiefel. Er brachte alle Artikel zur Kasse und bezahlte in bar.

Auf einem der Geldscheine befand sich ein Fingerabdruck aus Blut. Der dünnlippige Verkäufer tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Ein blitzartiger Gedanke –

Ein Typ betritt blutüberströmt eine Tankstelle. Er bezahlt sein Benzin und will gerade gehen. Der verwirrte Verkäufer ruft: „Hey, Mann, geht es dir gut?“ Der Typ lächelt. „Oh ja, mir geht es gut. Es ist nicht mein Blut.“

Ich habe diesen Witz noch nie zuvor gehört.

„Darf ich bitte Ihre Umkleidekabine benutzen?“, fragte Reid auf Französisch.

Der Verkäufer deutete auf die Kabinen im hinteren Teil des Geschäfts. Während der gesamten Transaktion hatte er kein einziges Wort gesagt.

Bevor er sich umzog, betrachtete sich Reid zum ersten Mal in einem sauberen Spiegel. Gott, er sah wirklich schrecklich aus. Sein rechtes Auge war stark angeschwollen und es zeigten sich Blutflecken auf den Verbänden. Er musste eine Apotheke finden, um ein paar gute Erste-Hilfe-Sachen zu kaufen. Er ließ seine schmutzige und leicht blutverschmierte Jeans über seinen verletzten Oberschenkel hinuntergleiten und zuckte dabei zusammen. Etwas fiel auf den Boden und erschreckte ihn. Die Beretta. Er hatte fast vergessen, dass er sie hatte.

Die Pistole war schwerer, als er gedacht hätte. Neunhundertfünfundvierzig Gramm, ungeladen, er wusste das. Sie zu halten war, wie eine verflossene Geliebte zu umarmen, vertraut und fremd gleichzeitig. Er legte die Waffe hin und zog sich weiter um, stopfte seine alten Sachen in die Einkaufstüte und steckte dann die Pistole in den Hosenbund seiner neuen Jeans, an seinem Rücken.

Auf dem Boulevard hielt Reid den Kopf gesenkt und lief zügig den Bürgersteig entlang. Er brauchte nicht noch mehr Visionen, die ihn jetzt ablenkten. Er warf die Tüte mit der alten Kleidung in einen Mülleimer an der Ecke, ohne dafür auch nur anzuhalten.

„Oh! Excusez-moi“, entschuldigte er sich, als er mit seiner Schulter eine vorbeilaufende Frau in einem Businessanzug anrempelte. Sie funkelte ihn an. „Es tut mir leid.“ Sie schnaubte und ging weiter. Er steckte seine Hände in die Jackentaschen – gemeinsam mit dem Handy, welches er gerade aus ihrer Handtasche geklaut hatte.

Es war einfach gewesen. Zu einfach.

Zwei Häuserblocks entfernt stellte er sich unter die Markise eines Kaufhauses und zog das Telefon heraus. Er atmete erleichtert auf – er hatte die Geschäftsfrau aus einem bestimmten Grund ausgesucht und sein Instinkt hatte sich bestätigt. Sie hatte Skype auf ihrem Handy installiert, mit einem Konto, das zu einer amerikanischen Nummer gehörte. Er öffnete den Internetbrowser des Handys, suchte die Nummer von Pap’s Feinkostladen in der Bronx und wählte sie.

Eine junge männliche Stimme antwortete sofort. „Pap’s, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ronnie?“ Einer seiner Schüler aus dem Vorjahr arbeitete Teilzeit in Reids Lieblings-Feinkostladen. „Hier ist Professor Lawson.“

„Hallo, Professor!“, sagte der junge Mann fröhlich. „Wie geht es Ihnen? Möchten Sie eine Bestellung zum Abholen aufgeben?“

„Nein. Ja … so ungefähr. Hören Sie zu, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten, Ronnie.“ Pap’s Feinkostladen war nur sechs Häuserblocks von seinem Haus entfernt. An schönen Tagen ging er oft zu Fuß dorthin, um belegte Brötchen zu kaufen. „Haben Sie Skype auf Ihrem Handy?“

„Ja?“, sagte Ronnie mit einem verwirrten Klang in seiner Stimme.

„Sehr gut. Hier ist, worum ich Sie bitten möchte. Schreiben Sie diese Nummer auf …“ Er wies den Schüler an, schnell zu seinem Haus zu laufen, um zu sehen wer, wenn überhaupt irgendwer, dort war und ihn dann auf dieser amerikanischen Nummer zurückzurufen.

„Professor, stecken Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“

„Nein, Ronnie, mir geht es gut“, log er. „Ich habe mein Handy verloren und eine nette Frau lässt mich ihres benutzen, damit ich meine Kinder wissen lassen kann, dass es mir gut geht. Aber ich habe nur ein paar Minuten Zeit. Wenn Sie also bitte …“

„Sagen Sie nichts mehr, Professor. Ich bin froh, wenn ich helfen kann. Ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück.“ Ronnie legte auf.

Während er wartete, ging Reid nervös unter der kurzen Länge der Markise auf und ab und sah alle paar Sekunden auf das Telefon, für den Fall, dass er den Anruf verpasste. Es fühlte sich so an, als würde eine ganze Stunde verstreichen, bevor es klingelte, obwohl es nur sechs Minuten gewesen waren.

„Hallo?“, er beantwortete den Skype Anruf beim ersten Klingeln. „Ronnie?“

„Reid, bist du das?“, fragte eine verzweifelte, weibliche Stimme.

„Linda!“, sagte Reid atemlos. „Ich bin so froh, dass du da bist. Höre zu, ich muss wissen –“

„Reid, was ist passiert? Wo bist du?“, wollte sie wissen.

„Die Mädchen, sind sie bei –“

„Was ist passiert?“, unterbrach ihn Linda erneut. „Die Mädchen sind heute Morgen aufgewacht und sind fast durchgedreht, weil du weg warst, also haben sie mich angerufen und ich bin gleich vorbeigekommen ...“

„Linda, bitte“, versuchte er erneut zu fragen, „wo sind sie?“

Sie sprach über ihn hinweg, deutlich verstört. Linda war eine Menge Dinge, aber gut in einer Krisensituation zu reagieren, war keins davon. „Maya sagte, dass du manchmal morgens spazieren gehst, aber sowohl die Vorder- als auch die Hintertür standen offen und sie wollte die Polizei rufen, weil sie sagte, dass du nie dein Telefon zu Hause lässt und jetzt kommt dieser Junge aus dem Feinkostladen und reicht mir ein Telefon –?“

 

„Linda!“, zischte Reid scharf. Zwei ältere Männer, die an ihm vorbeigingen, sahen zu ihm auf. „Wo sind die Mädchen?“

„Sie sind hier“, keuchte sie. „Sie sind beide hier, im Haus mit mir.“

„Sie sind in Sicherheit?“

„Ja, selbstverständlich. Reid, was ist los?“

„Habt ihr die Polizei gerufen?“

„Noch nicht, nein … im Fernsehen wird immer gesagt, man soll vierundzwanzig Stunden warten, bevor man jemanden als vermisst meldet … steckst du in irgendeiner Art von Schwierigkeiten? Von wo aus rufst du mich an? Wessen Skype Konto ist das?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Hör mir einfach zu. Bitte die Mädchen eine Tasche zu packen und bringe sie in ein Hotel. Nichts irgendwo in der Nähe; außerhalb der Stadt. Vielleicht nach Jersey ...“

„Reid, was?“

„Meine Brieftasche liegt auf meinem Schreibtisch im Büro. Benutze die Kreditkarten nicht direkt. Hole dir einen Vorschuss mit den Karten darin und nimm das Geld, um für den Aufenthalt zu bezahlen. Vorläufig unbefristet.“

„Reid! Ich werde überhaupt nichts tun, bis du mir endlich sagst, was los ist … Moment!“ Lindas Stimme klang gedämpft und weiter entfernt. „Ja, er ist es. Es geht ihm gut. Denke ich. Warte, Maya!“

„Dad? Dad, bist du das?“, erklang eine neue Stimme in der Leitung. „Was ist passiert? Wo bist du?“

„Maya! Ich, äh, musste in letzter Minute etwas erledigen. Ich wollte dich nicht wecken …“

„Willst du mich verarschen?“, ihre Stimme klang schrill, aufgeregt und besorgt zugleich. „Ich bin nicht dumm, Dad. Sag mir die Wahrheit.“

Er seufzte. „Du hast recht. Es tut mir leid. Ich kann dir nicht sagen, wo ich bin, Maya. Und ich sollte nicht zu lange am Telefon sein. Tu einfach, was deine Tante dir sagt, in Ordnung? Ihr werdet das Haus für eine Weile verlassen. Geht nicht zur Schule. Lauft nicht irgendwo rum. Sprich nicht über mich am Telefon oder am Computer. Verstanden?“

„Nein, das habe ich nicht verstanden! Steckst du in Schwierigkeiten? Sollen wir die Polizei rufen?“

„Nein, bitte tu das nicht“, sagte er. „Noch nicht. Gib mir einfach etwas Zeit, um etwas zu klären.“

Sie war für einen langen Moment still.

Dann sagte sie: „Versprich mir, dass es dir gut geht.“

Er zuckte zusammen.

„Dad?“

„Ja“, sagte er ein bisschen zu forsch. „Mir geht es gut. Bitte tu einfach, was ich sage und geh mit deiner Tante Linda mit. Ich liebe euch beide. Richte Sara aus, was ich gesagt habe und gib ihr eine Umarmung von mir. Ich melde mich, sobald ich kann –“

„Warte, warte!“, sagte Maya. „Wie willst du mit uns Kontakt aufnehmen, wenn du nicht weißt, wo wir sind?“

Er dachte einen Moment lang nach. Er konnte Ronnie nicht bitten, noch tiefer verwickelt zu werden. Er konnte die Mädchen nicht direkt anrufen. Und er konnte nicht riskieren zu wissen, wo sie sich befanden, denn das könnte man gegen ihn verwenden ...

„Ich werde ein falsches Skype Konto einrichten“, sagte Maya, „unter einem anderen Namen. Du wirst wissen, welchen. Ich werde es nur von Hotelcomputern aus prüfen. Wenn du uns kontaktieren musst, schicke uns eine Nachricht.“

Reid verstand sofort. Er fühlte eine Welle des Stolzes über sich kommen; sie war so schlau und in einer Drucksituation so viel cooler, als er jemals gehofft hatte.

„Dad?“

„Ja“, sagte er. „Das ist gut. Pass auf deine Schwester auf. Ich muss los …“

„Ich hab dich auch lieb“, sagte Maya.

Er beendete den Anruf. Dann schniefte er. Wieder kam der dringende Instinkt in ihm hoch, zu ihnen nach Hause zu rennen, sie in Sicherheit zu bringen, alles zu packen, was sie konnten und irgendwohin wegzugehen.

Aber er konnte es nicht tun. Was auch immer es war, wer auch immer hinter ihm her war, hatte ihn bereits einmal gefunden. Er hatte sehr viel Glück gehabt, dass sie nicht hinter seinen Mädchen her waren. Vielleicht wussten sie nichts von den Kindern. Das nächste Mal, wenn es ein nächstes Mal gäbe, hätte er vielleicht nicht soviel Glück.

Reid öffnete das Handy, zog die SIM-Karte heraus und zerbrach sie in zwei Teile. Er ließ die Stücke in einen Gully fallen. Als er weiter die Straße entlanglief, warf er die Batterie in einen Mülleimer und die beiden Telefonhälften in einen anderen.

Er wusste, dass er in die ungefähre Richtung der Rue de Stalingrad lief, obwohl er keine Ahnung hatte, was er tun würde, wenn er dort ankam. Sein Gehirn schrie ihn an, die Richtung zu wechseln, irgendwo anders hinzugehen. Aber eine Selbstsicherheit in seinem Unterbewusstsein zwang ihn weiterzugehen.

Seine Entführer hatten ihn gefragt, was er von ihren „Plänen“ wusste. Die Orte, nach denen sie ihn gefragt hatten, Zagreb, Madrid, und Teheran, mussten miteinander verbunden sein und sie hatten ganz klar etwas mit den Männern zu tun, die ihn entführt hatten. Was auch immer diese Visionen waren – er weigerte sich noch immer, sie als etwas anderes anzuerkennen –, sie enthielten Wissen über etwas, das entweder geschehen war oder noch geschehen würde. Wissen, das er nicht kannte. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr spürte er das quälende Gefühl von Dringlichkeit.

Nein, es war mehr als das. Es fühlte sich wie eine Verpflichtung an.

Seine Entführer schienen gewillt gewesen zu sein, ihn für sein Wissen langsam zu töten. Und er hatte das Gefühl, dass, wenn er nicht herausfand, was das war und was er angeblich wissen sollte, noch mehr Menschen sterben würden.

„Monsieur.“ Reid wurde von einer matronenhaften Frau mit einem Schal aus seinen Gedanken gerissen, die sanft seinen Arm berührte. „Sie bluten“, sagte sie auf Englisch und zeigte auf ihre eigene Augenbraue.

„Oh. Merci.“ Er berührte mit zwei Fingern seine rechte Augenbraue. Ein kleiner Schnitt hatte den Verband durchnässt und ein Tropfen Blut lief über sein Gesicht. „Ich muss eine Apotheke finden“, murmelte er laut.

Dann atmete er tief durch, als ihm ein Gedanke kam: es gab eine Apotheke zwei Häuserblocks entfernt. Er war nie drin gewesen – jedenfalls nicht zu seinem eigenen vertrauensunwürdigen Wissen –, aber er wusste es einfach, genauso wie er den Weg zu Pap’s Feinkostladen kannte.

Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Die anderen Visionen waren alle instinktiv gewesen und wurden durch äußere Reize hervorgerufen; Anblicke, Geräusche oder sogar Düfte. Dieses Mal gab es keine dazugehörige Vision. Es war ein schlichtes Wissen, genauso wie er wusste, wo er an jeder Straßenkreuzung langlaufen musste. So, wie er gewusst hatte, wie man die Beretta lädt.

Er traf eine Entscheidung, bevor die Ampel grün wurde. Er würde zu diesem Treffen gehen und so viele Informationen sammeln, wie er konnte. Dann würde er sich entscheiden, was er damit tun würde – vielleicht musste er es den Behörden melden und sie würden ihn bezüglich der vier Männer im Keller freisprechen. Die Polizei die Festnahmen machen lassen, während er nach Hause zu seinen Kindern zurückkehrte.

In der Drogerie kaufte er eine kleine Tube Sekundenkleber, eine Schachtel Pflasterzugverbände, Wattestäbchen und Make-up, das fast seinem Hautton entsprach. Er ging mit seinen Einkäufen zur Toilette und schloss die Tür hinter sich ab.

Er löste die Verbände, die er schnellstmöglich in der Wohnung in seinem Gesicht befestigt hatte und wusch das verkrustete Blut von seinen Wunden. Er benutzte die Pflasterzugverbände für die kleineren Schnitte. Für die tieferen Wunden, die normalerweise genäht werden müssten, presste er die Ränder der Haut zusammen und drückte etwas Sekundenkleber darauf, während er die Zähne fest zusammenbiss. Dann hielt er für ungefähr dreißig Sekunden den Atem an. Der Kleber brannte sehr, aber er trocknete schnell. Zum Schluss verteilte er Make-up auf den Konturen seines Gesichts, besonders auf den Verletzungen, die seine ehemaligen sadistischen Entführer verursacht hatten. Es gab keine Möglichkeit sein geschwollenes Auge und den angeschlagenen Kiefer völlig zu verstecken, aber wenigstens würden ihn so weniger Menschen auf der Straße anstarren.

Der gesamte Prozess dauerte etwa eine halbe Stunde und in dieser Zeit klopften zweimal andere Leuten an die Toilettentür (das zweite Mal schrie eine Frau auf Französisch, dass sich ihr Kind fast in die Hose machte). Beide Male rief Reid nur zurück: „Occupé!“

Als er endlich fertig war, betrachtete er sich selbst im Spiegel. Es war alles andere als perfekt, aber zumindest sah er nicht mehr so aus, als wäre er in einer unterirdischen Folterkammer geschlagen worden. Er fragte sich, ob er dunkleres Make-up hätte kaufen sollen, einen Ton, der ihn ausländischer aussehen ließ. Wusste der Anrufer, wen er treffen sollte? Würde er erkennen, wer er war – oder, ob er der war, für den sie ihn hielten? Die drei Männer, die zu seinem Haus gekommen waren, schienen sich nicht so sicher gewesen zu sein; sie hatten ihn mit einem Foto abgleichen müssen.

„Was mache ich denn?“, fragte er sich selbst. Du bereitest dich auf ein Treffen mit einem gefährlichen Verbrecher vor, der höchstwahrscheinlich ein bekannter Terrorist ist, sagte die Stimme in seinem Kopf – nicht die neue aufdringliche Stimme, sondern seine eigene, Reid Lawsons Stimme. Es war sein eigener gesunder Menschenverstand, der ihn verspottete.

Dann meldete sich die souveräne, selbstbewusste Persönlichkeit, die unter der Oberfläche verborgen lag, zu Wort. Alles wird gut, sagte sie zu ihm. Nichts, was du nicht schon einmal getan hättest. Seine Hand griff instinktiv nach dem Griff der Beretta, die an seiner Rückseite unter seiner neuen Jacke verborgen war. Du weißt all das.

Bevor er die Drogerie verließ, kaufte er noch ein paar andere Sachen: eine billige Uhr, eine Flasche Wasser und zwei Schokoriegel. Draußen auf dem Bürgersteig verschlang er beide Schokoriegel. Er war sich nicht sicher, wie viel Blut er verloren hatte und er wollte seinen Blutzuckerspiegel stabil halten. Er lehrte die ganze Wasserflasche und fragte dann einen Passanten nach der Uhrzeit. Er stellte die Uhr und legte sie an sein Handgelenk.

Es war halb sieben. Er hatte ausreichend Zeit, frühzeitig zum Treffpunkt zu gehen und sich vorzubereiten.

*

Es war schon fast dunkel, als er die Adresse erreichte, die ihm am Telefon gegeben worden war. Der Sonnenuntergang in Paris warf lange Schatten über den Boulevard. Rue de Stalingrad 187 war eine Bar im zehnten Pariser Stadtbezirk, die sich Féline nannte. Die Bar war heruntergekommen, mit übermalten Fenstern und eingerissener Fassade. Sie befand sich in einer Straße, in der es sonst nur Kunstateliers, indische Restaurants und unkonventionelle Cafés gab.

Reid hielt kurz inne, eine Hand bereits an der Tür. Wenn er eintrat, gäbe es kein Zurück mehr. Er konnte immer noch gehen. Nein, entschied er sich, das konnte er nicht. Wohin würde er gehen? Nach Hause, damit sie ihn wiederfinden würden? Und mit diesen seltsamen Visionen in seinem Kopf leben?

Er ging hinein.

Die Wände der Bar waren schwarz und rot gestrichen und mit Plakaten aus den fünfziger Jahren übersät, die grimmige Frauen, Zigarettenhalter und Silhouetten zeigten. Es war zu früh oder vielleicht zu spät, als dass dieser Ort voll war. Die wenigen Gäste, die sich hier herumtrieben, Sprachen mit gedämpften Stimmen und beugten sich schützend über ihre Getränke. Melancholischer Blues erklang leise aus einer Stereoanlage hinter der Bar.

Reid scannte die Bar von links nach rechts und wieder zurück. Niemand schaute in seine Richtung und niemand sah wie die Typen aus, die ihn gefangen genommen hatten. Er setzte sich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar mit Blick auf die Tür. Er bestellte einen Kaffee, obwohl der im Grunde nur dampfend vor ihm stand.

Ein buckeliger alter Mann rutschte von seinem Hocker und humpelte in Richtung Toiletten. Reid bemerkte, wie sein Blick auf die Bewegungen des Mannes fiel und den Mann analysierte. Ende sechzig. Hüftdysplasie. Gelbliche Finger, mühsames Atmen – ein Zigarrenraucher. Ohne seinen Kopf zu bewegen, schwenkten seine Augen auf die andere Seite der Bar, wo zwei rau aussehende Männer in Overalls eine gedämpfte, aber leidenschaftliche Unterhaltung über Sport führten. Fabrikarbeiter. Der auf der linken Seite schlief nicht genug, wahrscheinlich der Vater junger Kinder. Der Mann auf der rechten Seite war vor kurzem in eine Schlägerei verwickelt gewesen oder hatte zumindest irgendetwas geboxt; seine Fingerknöchel waren verletzt. Ohne darüber nachzudenken, analysierte er die Manschetten ihrer Hosen, ihrer Ärmel und die Art, wie sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützten. Jemand, der eine Waffe hätte, würde sie beschützen, versuchen sie zu verbergen, sogar unbewusst.

 

Reid schüttelte seinen Kopf. Er wurde langsam paranoid und diese hartnäckigen fremdartigen Gedanken halfen ihm nicht gerade. Aber dann erinnerte er sich an das seltsame Vorkommnis mit der Apotheke, an seine Erinnerung, wo sie sich befand, nur weil er gedacht hatte, er müsse eine finden. Der Akademiker in ihm meldete sich zu Wort. Vielleicht gab es hier etwas für ihn zu lernen. Vielleicht solltest du, anstatt zu versuchen es zu bekämpfen, dich diesen Gedanken öffnen.

Die Kellnerin war eine junge, müde aussehende Frau mit einer verknoteten brünetten Mähne. „Stylo?“, fragte er, als sie an ihm vorbeiging. „Ou crayon?“ Kugelschreiber oder Bleistift? Sie griff in das Gewirr ihrer Haare und zog einen Kugelschreiber heraus. „Merci.“

Er strich eine Cocktailservierte glatt und setzte den Kugelschreiber auf. Dies war keine neue Fähigkeit, die er nie gelernt hatte, sondern eine Professor-Lawson-Taktik, die er in der Vergangenheit viele Male benutzt hatte, um sich an Dinge zu erinnern und sein Gedächtnis zu stärken.

Er dachte an die Unterhaltungen, wenn man sie so nennen konnte, mit den drei arabischen Entführern zurück. Er versuchte, nicht an ihre toten Augen zu denken oder an das Blut auf dem Fußboden oder an das Tablett mit den scharfen Werkzeugen, die dazu gedacht gewesen waren, jegliche Wahrheit, die er in sich hatte, aus ihm herauszuschneiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gesprochenen Details und schrieb den ersten Namen auf, der ihm in den Sinn kam.

Dann murmelte er ihn laut. „Scheich Mustafar.“

Ein marokkanisches Geheimgefängnis. Ein Mann, der sein ganzes Leben mit Reichtum und Macht gelebt hatte, der die weniger Begünstigten mit Füßen getreten hatte, sie unter seinen Schuhen zerquetscht hatte – hatte jetzt eine Scheißangst, weil er wusste, dass du ihn bis zum Hals im Sand eingegraben könntest und niemand je seine Knochen finden würde.

„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß!“, beharrt er.

Tut-tut. „Ich habe andere Informationen. Die besagen, Sie wissen verdammt viel mehr, aber Sie haben wahrscheinlich Angst vor den falschen Leuten. Ich sage Ihnen was, Scheich … mein Freund im Nebenzimmer? Er wird ungeduldig. Sehen Sie, er hat diesen Hammer – es ist nur so ein kleines Ding, ein Steinhammer, wie ihn die Geologen benutzen? Aber er funktioniert wunderbar für kleine Knochen, Knöchel ...“

„Ich schwöre es!“ Der Scheich ringt nervös mit den Händen. Du erkennst es als verräterisches Zeichen. „Es gab andere Unterhaltungen über die Pläne, aber sie waren auf Deutsch, Russisch ... Ich habe sie nicht verstanden!“

„Wissen Sie, Scheich … eine Kugel klingt in jeder Sprache gleich.“

Reid wurde zurück in die Realität der Bar gerissen. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Die Erinnerung war so intensiv gewesen, so lebendig und klar wie jede andere, die er tatsächlich erlebt hatte. Und es war seine eigene Stimme in seinem Kopf gewesen, die beiläufig drohte und Dinge sagte, die er im Traum nicht zu einem anderen Menschen sagen würde.

Pläne. Der Scheich hatte definitiv etwas über Pläne gesagt. Was auch immer die schreckliche Sache war, die an seinem Unterbewusstsein nagte, er hatte das eindeutige Gefühl, dass sie noch nicht passiert war.

Er nahm einen Schluck seines jetzt lauwarmen Kaffees, um seine Nerven zu beruhigen. „In Ordnung“, sagte er zu sich selbst. „In Ordnung.“ Während seiner Befragung im Keller hatten sie nach anderen Agenten im Feld gefragt und drei Namen waren ihm durch den Kopf gegangen. Er schrieb einen auf und las ihn dann laut vor. „Morris.“

Sofort erschien ein Gesicht vor seinem geistigen Auge, ein Mann Anfang dreißig, gutaussehend und er wusste es. Ein großspuriges Halbgrinsen mit nur einer Hälfte seines Mundes. Dunkle Haare, die so gestylt waren, dass er jung aussah.

Ein privater Flugplatz in Zagreb. Morris sprintet neben dir. Ihr beide habt eure Waffen gezogen, Lauf nach unten gerichtet. Ihr könnt nicht zulassen, dass die beiden Iraner das Flugzeug erreichen. Morris zielt zwischen zwei Schritten und gibt zwei Schüsse ab. Einer trifft einen Unterschenkel und der erste Mann fällt. Du zielst auf den anderen und bringst ihn brutal zu Boden …

Noch ein Name. „Reidigger.“

Ein jungenhaftes Lächeln, ordentlich gekämmtes Haar. Ein kleiner Bauch. Das Gewicht würde ihm besser stehen, wäre er ein paar Zentimeter größer. Der Grund vieler Witze, aber er nahm es gutmütig.

Das Ritz in Madrid. Reidigger bewacht den Flur, während du die Tür eintrittst und den Attentäter außer Gefecht setzt. Der Mann greift nach der Waffe auf seinem Schreibtisch, aber du bist schneller. Du brichst sein Handgelenk … Später erzählt Reidigger, dass er das Geräusch draußen auf dem Flur hören konnte. Ihm wurde schlecht davon. Alle lachen.

Der Kaffee war nun kalt, aber Reid merkte es kaum. Seine Finger zitterten. Es gab keinen Zweifel; was auch immer mit ihm geschah, dies waren Erinnerungen – seine Erinnerungen. Oder die von jemand anderem. Die Entführer hatten ihm etwas aus dem Hals geschnitten und es als einen Erinnerungsunterdrücker bezeichnet. Das konnte nicht wahr sein; er war das nicht. Das war jemand anderes. Er hatte die Erinnerungen einer anderen Person, die sich mit seinen eigenen mischten.

Reid setzte den Stift wieder auf die Serviette und schrieb den letzten Namen. Er sagte ihn laut: „Johansson.“ Eine Gestalt kam ihm in den Kopf. Lange blonde Haare mit gepflegtem Glanz. Hohe, formschöne Wangenknochen. Volle Lippen. Graue Augen, die Farbe von Schiefer. Eine Vision blitzte auf …

Mailand. Nacht. Ein Hotel. Wein. Maria sitzt mit ihren Beinen im Schneidersitz auf dem Bett. Die obersten drei Knöpfe ihrer Bluse sind offen. Ihre Haare sind zerzaust. Du hast nie zuvor bemerkt, wie lang ihre Wimpern waren. Zwei Stunden zuvor hast du ihr dabei zugeschaut, wie sie zwei Männer in einer Schießerei getötet hat und jetzt gibt es Sangiovese und Pecorino Toscano. Eure Knie berühren sich fast. Ihr Blick trifft deinen. Keiner von euch sagt etwas. Du kannst es in ihren Augen sehen, aber sie weiß, dass du nicht kannst. Sie fragt nach Kate …

Reid zuckte zusammen, als er plötzlich Kopfschmerzen bekam, die sich wie eine Sturmwolke in seinem Schädel ausbreiteten. Im selben Augenblick verschwand die Vision und verblasste. Er kniff die Augen zusammen und massierte für eine Minute seine Schläfen, bis die Kopfschmerzen nachließen.

Was zur Hölle war das gewesen?

Aus irgendeinem Grund schien die Erinnerung an diese Frau, Johansson, die kurze Migräne verursacht zu haben. Noch beunruhigender war jedoch das bizarre Gefühl, dass er während der Kopfschmerzen gespürt hatte. Es fühlte sich wie … Verlangen an. Nein, es war mehr als das – es fühlte sich wie Leidenschaft an, die von Aufregung und ein bisschen Gefahr noch verstärkt wurde.

Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer diese Frau war, aber versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte nicht noch mehr Kopfschmerzen verursachen. Stattdessen setzte er den Stift wieder auf die Serviette auf, um den letzten Namen zu schreiben – Null. So hatte ihn der iranische Vernehmer genannt. Aber noch bevor er ihn aufschreiben oder wiederholen konnte, hatte er eine seltsame Empfindung. Die Haare seines Nackens standen ihm zu Berge.

Der wurde beobachtet.

Als er wieder aufblickte, sah er einen Mann im dunklen Eingang des Félines stehen. Er hatte Reid im Visier wie ein Falke, der eine Maus beobachtete. Reids Blut wurde kalt. Er wurde tatsächlich beobachtet.