Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln

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KOMMENTIERTE EDITION
Tagebuch 1

Tagebuch 1 ist eine Kladde im Stil und mit den Maßen eines Poesiealbums. Der Einband besteht aus geriffeltem, grünem Kunstleder. In der Innenseite des Einbands befindet sich unten links eine Reklame-Prägemarke mit weißer Schrift auf blauem Grund. Inschrift ›M. Gruber Papierhandlung München Georgenstr. 41‹. Die Einträge sind mit energischer, häufig flüchtiger und von individuellen Abweichungen geprägter deutscher Kurrentschrift abgefasst. Zum Schreiben wurde blaue Tinte und in wenigen Ausnahmen Bleistift verwendet.

Allen Tagebüchern ist gemeinsam, dass der Autor immer wieder Personen mit Klarnamen oder auch Abkürzungen nennt, die nicht mehr sicher ermittelt werden können, jedenfalls nicht, ohne einen unverhältnismäßigen Aufwand zu betreiben, der der mangelnden welthistorischen Bedeutung einzelner Handelnder nicht gerecht würde; dies gilt auch für einige geschilderte Zusammenhänge. Damit müssen Herausgeber und Leser bzw. Leserin leben. Dort aber, wo Personen oder Zusammenhänge ermittelt werden konnten, durch die Schilderung des Autors aber nicht dem Leser bzw. der Leserin sofort erkennbar oder verständlich sind, werden in den Anmerkungen erklärende Informationen angeboten. Die Rechtschreibung folgt dem Originaltagebuch und wurde nicht an heutige Regeln angepasst. Fehler der Grammatik und Rechtschreibung wurden nur in Ausnahmen korrigiert.

Nicht immer sind die Buch- und Filmzitate sowie literarischen Anspielungen des Freiherrn eindeutig aufzulösen. Wo dies aber möglich ist, werden entsprechende Angaben in den Fußnoten vorgenommen. Historische Personen, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden dürfen, werden in den Fußnoten nicht weiter erklärt. Ansonsten erfolgen Erklärungen im Anmerkungsapparat.

Enthält: Einträge vom 8. Oktober bis 31. Oktober 1943 und vom 5. Juni bis 1. September 1944. Lücke zwischen 1. November 1943 und 4. Juni 1944. Es geht dann mit einem Eintrag zum 11. August 1944 weiter, womit sich eine weitere Lücke vom 6. Juni bis zum 10. August 1944 ergibt. Die Versionen ›B‹ und ›C‹ beginnen am 30. Juli 1944. Tagebuch 1 ist somit in Teilen nicht veröffentlicht bzw. bewusst von Hans Max von Aufseß vor der Öffentlichkeit zurückgehalten worden.

Hans Max Frhr. v. u. z. Aufseß.

Aufsess Oberfranken

Schloß Oberaufseß

Tagebuch I

[1] Tagebuchnotizen.

08. 10. [19]43

Rückfahrt von Paris nach Granville.1 Ein leichter herbstlicher Schleier liegt über dem Land, durch den die Sonne ungewiss durchdringt. Das grüne Weideland zwischen den herbstlichen Baumumzäunungen gefällt mir innig. Ich stehe oft auf in meinem leeren Coupé, um noch direkter noch im stärkeren Gegenüber alles zu beschauen. Vom Schauen leicht ermüdet lese ich wieder und nicke ein wenig ein. Der Wechsel ist so erfrischend, daß ich mich tief ausgeruht und befriedigt fühle und zu klaren Rückblicken auf die Urlaubstage alles angeregt finde. Das fruchtbare landschaftlich schöne Frankreich gäbe überall ein tragbares Dasein. Ich schaue mir kleine Hütten an und beobachte einen alten Mann, der am Stock schwer durch den Obstgarten zum Hause zu hinkt, um einen Apfelkorb hineinzutragen. Es kommt mir über, daß der Mann wenig an den Krieg und alle Verheerungen denken wird. Gewiss ist er wunschlos u. glücklich. Eine Bauernhütte ist zu einem Viertel mit neuem Stroh überdeckt. Ich denke an die niedergebrannten Ruinen in Deutschland. Wäre es in meiner Heimat, so möchte ich auch unter einer Strohkate dort gern leben. Vielleicht führt der Krieg uns zum einfachen Leben zurück und ich sehe darin kein Unglück, soweit es das Landleben auf eigenem Boden ist. Die Natur müsste ein Mittel erfinden gegen die Unnatur der Großstädte. Die Technik, die sie [2] ermöglicht hat, zerstört sie folgerichtig nun wieder.2

9. 10. [1943]

In Granville mit Schwester3 Irmgard große Tauschgeschäfte zugunsten der Lieben zu Hause abgeschlossen. (19 kg Butter, 10 kg Leberwurst). Es ist so nett mit ihr dieser Handel, denn im Grunde ist sie genau so uneigennützig wie ich selbst dabei. Wir führen uns als große Geschäftsleute auf und der Handel sind doch nur Liebesgaben.

Da kein Dampfer nach Jersey fährt, Autofahrt nach St. Malo. Wieder herrlicher duftiger Herbsttag. Nur Auto fährt zu schnell. Es gibt viel zu viel zu schauen. Es liegt zu viel Poesie ringsum bereit und die verträgt kein rasendes Fahren. An der Küste gegen Cancale4 entlang blüht der freie Meerboden rot, weit draußen stürmt das Meer an. Herrliche Farben. Das Auto rast. Wie möchte ich gern hier halten und die Farben näher betrachten. Vielleicht ist der Meerboden immer so rot. Es sind die Farben von Frankreich, blaues Meer, weiße Brandungswellen und roter Strand.

In Malo steigen ein paar hundert junge Rekruten auf das Schiff. Es ist ihre erste Fahrt. Ich denke daran, wie schwärmerisch u. begeistert ich [3] gewesen wäre und finde nur wenig in ihnen. Manche freilich saßen die ganze kühle Mondnacht auf der Aussichtsbank und sie mögen in ihrem jungen Herzen wohl manches Gefühlvolle zur Heimat zurückgeschickt haben. – Wir liegen bis zum Eintritt völliger Dunkelheit auf Reede mit dem herrlichen Anblick des Hafengolfs, der in seinem interessanten Aufbau, der befestigten alten Stadt in Insellage, der Hafen, der Flußmündung, der reich bebauten Villenufer und der vorgelagerten kleinen Felseninseln an die Reihe französischer Meister aus dem 18. Jahrhundert erinnert.5 Es müßten nur unsre grauen Dampfschiffe Segelschiffe sein. Die Überfahrt im Mondlicht ist wunderschön. Unser Schiff fuhr schnell (12 Seemeilen). Es treibt majestätisch durch das glitzernde ungewisse Mondlicht über dem Meer. Ein bescheidener General ohne jede Begleitung ist an Bord. Er hat den sympathischen Zug nach unbedingtem Alleinsein und hinkt mit seinem Holzbein einsam am Oberdeck hin u. her. Er hat sich jeden Empfang verboten. Ich erfahre, daß es niemand [4] weniger als unser kommandierender General Marx vom Korps6 ist. (Spätere Bem. 31. 8. Marx am Anfang der Invasion gefallen.)

Wache vor der Platzkommandantur

10. 10. [1943]

Empfang der Kameraden sehr herzlich. Welch friedlicher Ort hier. Alles geht seinen gemütlichen Lauf. Die Post aus aller Richtung der Heimat ist viel trüber.7 Zu Hause nicht hier ist Front. Ich sehe und beurteile manche Menschen wieder neu und plastischer. Welch junges Kind ist doch Schwester Marie8. Zweifellos wechselt Reifsein oder es vollzieht sich schwingungsartig. Eine weite Reise bringt einen weiter, langes Bleiben dagegen an einem Ort bringt zurück.

Max Barthel9 schickt mir ein Buch von sich von erstaunlicher Kindlichkeit. Sein Erfolg liegt nur im einfachen Lied. Ein Liedersänger kann keine Novelle schreiben. Zur Novelle gehört eine anderer ich möchte fast sagen völlig [unleserlich] mondäner Mensch. Wie werde ich es ihm danken!

Nachmittags zum Tee bei Casper10. Wir reden immer ein bisl zuviel gescheite Sachen über Bücher, Politik, dienstliche Dinge, die seelischen Spalten zwischen diesen gewaltigen Schichtungen bleiben zu sehr ver- [5] schlossen, nicht weil er sie nicht hätte, sondern weil er wohl ein zu norddeutscher Mensch ist, der sich und damit unwillkürlich auch andere zu viel verschließt u. verbietet, weil auch irgendwie die schöpferische treibende vulkanische Macht zu wenig stark ist, um das warme Innere dabei durchkommen zu lassen. Trotzdem alles nett und anregend war, gehe ich mit dem erleichterten Gefühl, etwas abgesessen zu haben.

11. 10. [1943]

Der Tag war grau in grau ohne Wind. Das Wetter überlegt sich, was es werden soll und vielleicht hat es noch schöne sonnige Nachherbsttage im grauen Sack.

Unser Hausgenosse Kriegsgerichtsrat v. [Treskow] ist ein geradezu hassender Pessimist. Alle Dinge wenden sich bei ihm zu einer verfolgerischen bösen Art. Sein türkensäbelkrummer scharfer Mund steht gefährlich unter den stechenden Augen, von denen das eine ein blindes Glasauge ist. Vielleicht kommt ihm die bittere Art, alles anzusehen, vom einen Auge. Mit zweien sieht man allemal mehr hinter die [6] Dinge. Ist es doch ein physiognomisches Gesetz11, daß weitauseinanderstehende Augen Fantasie bedeuten. Pessimismus ist aber eine Art von Flachheit und zwar die Schlimmste. (»Und trank sich Hass aus einem Meer von Liebe.«)

Die hinter mir liegende Reise hat mir eine große Aufmunterung gebracht. Ich arbeite froher, zupackender und ich beteilige mich an allen Reden frischer. Auch die Sphäre der Gewohnheit liegt dünner um mich herum. Ich sehe die Zeit hier als eine gestreckte Frist, die es noch glücklich auszunützen gilt. Es folgen schwere Zeiten. Heute fühlte ich fast sinnlich ihr unheimliches Herannahen. Es kam nur die Nachricht durch, daß sämtliche Schwestern die Inseln verlassen müßten. Ist das der Vorakt einer Räumung? Wann naht unsre Zeit? Ein Ende wird hier ja alles nehmen. Wie viele sah ich schon scheiden. Das erst- [7] malige Dunkel in meinem Büro, in dem nur die Schreibtischfläche hell beleuchtet strahlt, war mir so ungewohnt und machte mich unruhig.12 Ich ging auf u. ab, packte zuletzt nichts mehr an. Der helle Schreibtisch im Dunkel rings war mir wie das bisschen erleuchtete Gegenwart im Dunkel der Zukunft ringsum. Ein französischer Sender brachte hübsche Chansons und ich war froh, ihnen lauschen zu können.

 

Beim Abendessen viel zu langes Sitzen und ein Ereifern über das Gespräch, ob wir die Engländer zu mild behandelten13, wobei wir die Gegner, die ja alle nicht in unsere Reihen sitzen, leicht abfertigten.

Ich habe mir 3 Bücher gekauft: Von Jakob Burkhardt die Kulturgeschichte Griechenlands14. Ich liebe die freie Persönlichkeit dieses Mannes, von dem jemand schrieb, daß er vielleicht als letzter unabhängig lebte. »Seht [8] ihn nur an, niemand war er Untertan.«15 Ein zweites Buch von Macdonald: Selbstbildnis eines Gentleman.16 Und ein drittes von Manfred Hausmann: Salut gen Himmel.17 Ich habe für Monate zu lesen und meine Büchermenge geht weit über alles Soldatengepäck. Es werden nicht weniger als 60 Bücher schon wieder um mich sich angesammelt haben. Wie der Oberst18 dauernd daran leidet in der Furcht zu dick zu werden, so plagt mich bei jedem Buch die Sorge wohin damit, denn ich will sie alle lesen.

Die Frontbuchhandlung in der King Street, St. Helier, Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)

12. 10. [1943]

Mit Dr. Auerbach19 den Abend verbracht. Ein ausgezeichnetes »intelligibles«20 Verstehen. Keiner langweilt den anderen. Alles bleibt in starker gegenseitiger Korrespondenz lebendig. Später kam Dr. Caspar dazu. Er war nicht geladen, kam aber, weil die Nachricht vom Tod seines Bruders ihn an diesem Tag schwer getroffen hatte. [9]

Er lief weinend bei Empfang der Nachricht im Büro auf u. ab und wir waren fast beängstigt, er könnte in seiner rasch entschlossenen Art sich etwas antun. Die Überredung, daß er doch heimfahren solle, hat ihn am besten abgelenkt. Als er in unseren kleinen gemütlichen Kreis um den Kamin saß, vergaß er alles für Augenblicke und strahlte manchmal wie an seinen vergnügtesten Tagen. Ich glaube, wenn ein Schmerz auf eine gereifte und harmonisch gebildete Seele trifft, so beschlägt sie sich so vollkommen, daß ein so rasches Vergessen aber auch ein so deutlich sichtbarer Schmerz nicht möglich ist. –

Ich liebe ein wenig die Schwester Marie v. Wedel. Eigentlich habe ich mich über sie geärgert, weil sie beim Wiedersehen nach 3 [10] Wochen so ungeschickt und fast albern war. Aber es waren andere dabei und so war ja alles nur Geniertheit. Unmöglich hätte sie vor anderen auch nur für den Kartengruß danken können. Sie hat ein so starkes Innenleben, daß sie nur in wenigen Augenblicken ganz sie selbst ist. Ihre Stirn hat etwas männlich Kühnes, ihre Augen besitzen eine Schalkhaftigkeit, die für eine ganze Mädchenoberklasse ausreichen würde, ihre Nase hat die feine Witterung eines Rehs, ihr Mund ist sensibel halb geöffnet, wie der eines klassizistischen Mädchenepitaphs21, ihr schlanker Körper hat die Bewegungslust und feinen Fesseln der Vollblüterrasse. Die durch so hohe [Dotationen] entstehenden Spannungen in ihrem Wesen werden zusammenge- [11] halten von einer ganzen Genealogie von preußischem Pflichtbewußtsein22 und überstrahlt von einem großen mädchenhaften Scharm. Sie ist wahrhaftig nicht leicht zu nehmen, hängt von Umgebung und Kleinigkeiten sehr stark ab und flieht mit ihren Worten rasend dahin, wie mit ihrem ganzen Wesen, weil alles überlebendig und geladen ist. Ich benenne sie für mich mit dem Beinamen »la Fugitive«23 die Enteilende, Dahinfliehende. Es muß sie erst einmal das Feuer einer großen Liebe ausbrennen und ausbacken, damit alles ruhiger und gesetzter wird, damit ihre prärafaelitisch steifen und abrupten Bewegungen der langen Glieder Weichheit und Harmonie bekommen. In einem guten Sportkostüm müßte sie hervorragend aussehen, so viel läßt die Schwesterntracht ahnen, [12] ja sie verrät sogar süße weibliche Formen und die Geniertheit wäre wohl gar nicht so groß, wenn nicht eine starke natürliche Sinnlichkeit dahinter verborgen läge, die sich in ihrer Unberührtheit als Fliehkraft äußert, das Fliehende zieht ja besonders an und nichts ist lockender für den Jäger als das Verfolgen des fliehenden Wildes. (Zeus u. Daphne24)

Im Dienstsitz White Lodge. »Plauderecke am englischen Kamin«, so lautet von Aufseß’ Bildunterschrift. (Foto: H. M. von Aufseß)

13. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

Ein neuer Hausgenosse, ein Kriegsgerichtsrat aus Sachsen25, ist vertretungsweise gekommen. Es ist ein gemütlicher kleiner Sachse, findet sich sehr schnell hinein und ist in kleinen praktischen Dingen zu Haus. Im Badezimmer hat er neue Nägel u. Haken angebracht, überall auf Serviettenring, Zuckerdose u. s. w. klebt fein säuberlich schon ein Schildchen mit seinem Namen. Er hat eine neue [13] Antenne gelegt und Birnen im Haus verschraubt, alles zum Besten von uns und sich. Auch in seinem Leben scheinen überall kleine Schildchen mit Lebensweisheiten angebracht, fein säuberlich und ganz lange Sprüchchen oft, so wie er am Abend auf eine eigene ersonnene Weise seine Stiefel vor die Türe hängt und jedem Tag- und Nachthemd im Badezimmer seinen mitgebrachten besonderen Bügel gibt. Ich muss mich über seine überraschend auftretenden kleinen Zweckmäßigkeiten an allen Orten innerlich schief verlachen. Heute Mittag stellte er sich den Aschenbecher wie einen Dessertteller vor sich hin, weil nach Befragung das Deckblatt seiner Zigarren schlecht sei und [14] immer etwas Asche herunterfalle, die nun gleich in den Becher abtropfe. Gegen Verspottung als Sachse u. s. w. hat er bereits auch etwas in seinem Geistesschatz angebracht, es ist aber zu kompliziert und ich habe mir die sinnvolle etwas lange Wendung nicht gemerkt.

14. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

Der Bailiff26 besuchte mich. In meiner Abwesenheit ist wieder einmal etwas ohne die Überlegung befohlen worden, ob wir bei Weigerung der Landesstaaten es erzwingen können und wollen.27 Der Erfolg ist, daß wir einen gegebenen Befehl zurückziehen und ihn nicht oder schlecht u. recht selbst durchführen müssen. Der [mit Elan gestrichenes Wort, vermutlich aber Bailiff, darüber nur ein ›H‹] mit seinem kalten, jüdischen Gesicht28 hat einen billigen Triumph davongetragen. Er ist [15] unser wahrer Feind, nicht weil er uns haßt, sondern weil er sich maßlos liebt. Er wird uns später einmal maßlos herein- und ohne alle Anständigkeit heruntersetzen. Wenn wir ihn nicht von der Insel herunterschmeißen, wir würden uns an den Kopf schlagen können, welche Schriften und jüdisch advokatischen29 Ankläger wir uns da [drei energisch durchgestrichene, nicht mehr lesbare Wörter] hochgezogen haben. Ich fasse den Oberst bei seinem nicht großen Mut, d. h. bei seiner Angst und ich werde es noch durchsetzen und einen echt englisch kalten Weg zu finden wissen, um diesen Mann zu entfernen.

15. 10. [1943]

Casper ist in Sonderurlaub gefahren. Es fällt wieder doppelte Arbeit an. Mit Oberst im Auto weit auf den Strand hinausgefahren. Wir durften den Wagen nicht stehen lassen, da er sonst versunken wäre. Außer- [16] gewöhnlich tiefe Ebbe. Besuch des Rocco-Towers, eines weit im Meer draußen liegenden imposant gebauten Forts aus dem Jahr 180030. Architektonisch sehr schön. Ich bin tief verletzt, daß er von der Artillerie willkürlich als Zielscheibe verwendet wurde und erhebliche Schäden an den Zinnen entstanden sind. Gegenüber den heutigen betonierten Festungsbauten ist es noch ganz aus riesigen Granitquadern gebaut. Es gibt ein Rätsel auf, wie sie auf dieses unzugängliche Rock hinausgebracht wurden.

16. 10. [1943]

Ich lese Jakob Burkhardt Griechische Kulturgeschichte das Kapitel über Untergang u. Zerstörung Griechenlands. Es ist interessant, wie die Geschichte schon gleiche Scherbengerichte abgehalten hat, wie in [17] unserer Zeit. Die Worte eines Komikers gelten für alle Städte des damaligen Griechenland: »Eine große Einsamkeit ist die große Stadt«31. Einige bei Homer genannte Orte zu finden, wäre schwer und für den Findenden wegen ihrer Verödung nutzlos.32

St. Brelade's Bay auf Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)

17. [10. 1943]

Wer ist nun die Anziehendere der beiden Schwestern Wedel? Ich weiß es nicht, ich liebe sie beide gleich und es könnte mir wie in heißen Jugendtagen gehen, wo ich mich in die beiden Schwestern [unleserlich] verliebte und die eine immer auf die andere wartete, bis ich sie beide wieder verküßte. Damals liebte ich sie sogar nur alle beide zusammen, eine allein war mir sofort langweilig.

Ich fuhr mit dem Rad in das entferntere Soldatenheim in der Brelades bay33 hinaus und wir plauderten 2 Stunden, die sich Schwe- [18] ster Heidi34 freigemacht hatte. Sie hat die gleiche gute Rasse und famose Erziehung, aber sieht bis auf die große schlanke Figur doch ganz anders aus. Ihre Augen sind kleiner, bestimmter und realer. Sie ist klüger, ruhiger, reifer, hat nicht das Fliehende in sich, sondern stellt einen klaren faßbaren Mittelpunkt dar. Während die andere einen prachtvollen Tänzer und Reiteroffizier heiraten könnte, ist diese für einen Juristen, Gelehrten oder Professor bestimmt. Marie reißt mit, Heidi zieht an. Marie macht zu viele Seitensprünge Heidi zu wenig. So ist die eine dynamisch, die andere statisch. Bei aller Ähnlichkeit ist daher doch ein großer Unterschied und da beide äußerlich gleich hübsch und rassig ist die Entscheidung schwer. Meiner Natur [19] läge im Ende doch mehr Heidi. Ich bin nicht passionierter Jäger genug, um mein Leben lang Wild zu jagen. Im übrigen bin ich viel zu gut verheiratet35, um dieses Problem mich beschäftigen zu lassen. Aber es geht doch ein starker Ausstrom gegenseitig aus. Alle Ehelichkeit in Ehren, die Strahlungen sind da und sie sind ungeheuer stark, aber unsre gute Erziehung und unsre Selbstdisziplin sind ja immer noch größer. Es werden schon alte Gedanken einer Annäherung weit abgewiesen, so weit jedenfalls, daß sie nicht schaden und nur die angenehme Wärme eines Flirts davon ausgeht.

Der General36 rief mich an und wollte mit mir den Abend verbringen. Leider bin ich schon beim Oberst eingeladen.

18. 10. [1943]

Dr. Auerbach war beim Oberst miteingeladen. [20] Dadurch war schon der Abend gerettet. Wir ziehen den kleinen sächsischen Kriegsgerichtsrat37 mit seinem praktischen Sinn für die kleinen Umweltsdinge auf. Die Wirkung aber ist überraschend. Er zieht vor und aus allen Hosentaschen besonders darin aufgehängte Dinge wie Messer, Schlüssel, Feuerzeug heraus, und erklärt ganz hochgenommen u. begeistert, wie er die Sachen weder verlieren noch sie ihm die Taschen kaputt machen können. Heut beim Frühstück begann er mit einer langen Geschichte, wie er den Abfluß seines Dunges auf den Garten konstruiert habe. Im Eifer beginnt er neben dem Sächsisch noch zu stottern, daß sich die am Morgen noch nicht angestimmten Sinne aesthetisch geradezu empören über dieses botokudische38 Gestammle eines deutschen Zwergstammes.

[21]

31. 10. [1943]

Das Buch lag fast 14 Tage in der Schublade. Die Tage sind zu sehr ausgefüllt39, um die Arbeit zu erledigen, die Bewegungslust zu stillen, den Lesehunger zu befriedigen, die Natur im Herbstkleid zu genießen und last not least mich mit den entzückenden beiden Schwestern Wedel zu befassen, ganz abgesehen davon, daß Briefe zu schreiben waren, Briefe der verschiedensten Art. Meine geliebte Frau schreibt mir, daß wider alle Erwartung u. Absicht womöglich ein Kindlein aus dem letzten Urlaub sich anmelde. Nun bin ich noch mehr in das Wohl u. Wehe dieses 5ten Kriegsjahres verflochten. Die Auspizien für einen Sohn sind günstig. Ich war kühl. Verstimmungen der letzten Zeit, die übertriebene Geselligkeit in Altaussee hatten mich vorsichtig u. reserviert gemacht. Es sollte diesmal in den kurzen Tagen des Sonderurlaubs sicher keine Enttäuschung geben. Ein wenig teile ich aber den indischen Glauben, daß der mehrliebende Teil das ihm entgegengesetzte Geschlecht herbeizieht u. bestimmt. Außerdem [22] liegt der September auch an meinem Sternbild. Ich bin nicht abergläubisch und weiß nichts. Aber wenn es Ahnungen gibt, so sind sie diesmal für einen Sohn eingestellt.40 Es wird uns ein drittes Kind noch enger zusammenschließen, denn die Überlegungen dazu haben uns manche Verstimmung in den letzten Jahren gebracht. Die große Sorge rund um Marilies und das Kind erfüllen alles in allem mich aber mit einem geradezu fanatischen Willen, mein Leben in dieser gefährlichen und sich in den Grundfesten verändernden Zeit zu beziehen und gut durchzustehen. Ich beginne es mit unendlichen Einkäufen und bin im Päckchenpacken schon ein Meister geworden, wobei ich zugeben muß, daß die handliche Arbeit mich nach langer Büroarbeit geradezu erfrischt. Es fand die Einweihung des neuen Soldatenheimes La Houge statt, das [23] Schwester Heidi als Heimleiterin übernimmt. Ich war mit Oberst geladen. Eine Menge Offiziere stand am Gang – was fehlt nicht bei einer so [unleserlich]haften Angelegenheit – ein steifes Gegrüße begann, eine die erstickende militärische Steifheit voller Rangbewußtsein und Enge beklemmt mich, daß ein revolutionäres indessen wohlverhaltenes inneres Lachen mich ankam. Endlich war alles verstummt an den hübsch gedeckten Tischen. Ausgerechnet saß ich zwischen Schwester H.41, die ich schon ein halbes Jahr fast ostentativ gemieden hatte, weil sie gar so viel Selbstbewußtsein in ihrem Heim hat und mit ihrem schmutzigen Karpfengesicht nicht mit [unleserlich] eine zu primitive Sinnlichkeit in ein Heim bringt, weil sie außerdem noch auf eine Junge spielt, die ihr nicht mehr zukommt. Jedes Alter verlangt eine gewisse Hal- [24] tung und es steht zu 40 Jahren nicht, was einer 20jährigen erlaubt ist. Wir schwiegen nach mühsamen Redethemen ausgiebig am Tisch. Der Oberst hielt eine ganz nette leichte Rede und ich war froh, daß sie nicht so dürftig wie seine übrigen war. Der General war aufgehalten durch Sturm auch noch auf Jersey. Er bewegte sich mit einer natürlichen Eleganz durch die Runden, die dem Selbstbewußtsein und der Gutgelauntheit eines gutgewachsenen alten Offiziers u. Gentleman entsprang. Auch ohne alle rote Streifen hätte ihm niemand die absolute Führereigenschaft absprechen können. Nach einer Weile ging ich hinaus auf den Gang Schwester Heidi nach, um sie zu begrüßen. [25]

 

Es war niemand draußen. Sie pustete und schüttelte sich in der entzückendsten Weise und griff mit beiden Händen nach den glänzenden Backen. Eine reizende Vertraulichkeit mir gegenüber lag darin. Ich durfte wie eine Freundin ein wenig hinter die Fassade dieses ihres Einweihungsfestes sehen, das eine große heiße und anstrengende Angelegenheit war. Auf ihre Frage, ob ich die übrigen Räume schon gesehen habe, schwindelte ich und verneinte ich gern und ließ mich von ihr nochmals überall durchführen. Das hätte Marie nie getan, sie hat einen im Trubel eher übersehen und ich glaube, es war eher weniger ihre Kurzsichtigkeit als ihre Geniertheit und Schroffheit, die auch allen ihren Bewegungen anhaftet. – Die Räume waren mit großem Geschmack mit den vor- [26] handenen Mitteln eingerichtet. Es strahlte überall etwas Persönliches aus, wie die Bilder hingen, die Schränke standen u. s. w. Ich wurde gefragt und durfte Ratschläge geben. Es waren entzückende Minuten, so privat beiseitegenommen worden zu sein und in diesen Augenblicken fand von einem menschlich warmen Gesichtspunkt gesehen, die wahre Einweihung des Heimes statt. Ich schrieb Schwester Heidi einen Brief in französischer Sprache darauf, weil man darin graziöser die Wohlgelungenheit des neuen Heimes nochmals nachfeiern konnte.42 Er enthielt nichts Anzügliches – ich würde gegen Heidi nie anzüglich sein, sie verdient nur gerade Offenheit oder völlige Zurückhaltung – es [27] sei denn, daß die Tatsache eines Briefes am gleichen Tag geschrieben auf einer kleinen Insel sich zugesandt etwas Anzügliches enthielt.43 Und so war mir es sehr recht, daß wir später den Brief nie erwähnt haben. Ich vergesse von diesem Tag nicht einen wunderschönen Strauß im Flur aus Heidis Hand und ihr neckisches mich Anlachen mit den beiden Handrücken auf den glühenden Backen.

Der Oberst ließ sich von mir zu allem leiten und wenn niemand nach mir herein kommt, gelten auch meine Vorschläge. Oft berechne ich auch die möglichen späteren Einflüsse und es gelingt mir sie auszuschalten. Ich kenne ihn viel zu gut in all seinen eitlen Schwächen und, wenn ich nicht mein Ziel für richtig hielte, müßte ich [28] über die raffinierten Mittel der Beeinflussung mich für schmutzig halten. Die Notwendigkeit der Ausweisung der B.44 aus verschiedenen Gründen war mir klar, obwohl die Folgen sehr hart45 sind. Die B. hatte persönlich bei ihm vorgesprochen und ihn für ihr Bleiben erweicht. Ich trug dem Oberst die objektiven Gründe für eine Ausweisung vor, verschwieg dagegen die subjektiven, die in ihrer Person lagen, denn ich wußte ja, daß er darin umgestimmt worden war von ihr. Ich verließ ihn mit dem Resultat, daß sie aus Menschlichkeitsgründen bleiben könne, im Grunde war er nur von der hübschen Person46 bestrickt [29] worden. Nach mir schickte ich Herrn K. zu ihm in einer anderen Angelegenheit und nebenbei erzählte dieser nun, wie die B. es dick mit allen Männern treibe und verschiedene Offiziere eingefangen hätte47. Ich hatte das in Vorbedacht nicht selbst gesagt, denn er hatte sie reizend gefunden und hätte von mir nicht gern gehört, daß er sich hier gründlich getäuscht hatte. Der Erfolg war, daß er sofort zu mir schickte und nun doch plötzlich für die Ausweisung war. Er war nicht belehrt und in seiner Eitelkeit verletzt worden, sondern war gleichsam selbstständig auf die Schliche der B. gekommen. Zur Zeit möchte ich ihn in einer mir wichtig erscheinenden Sache beeinflussen, aber ich kenne noch nicht den wahren Grund seiner Ablehnung, sodaß mir die richtigen [30] Mittel zum Ansatz fehlen. Gestern nach dem Essen habe ich die Pferde besucht, die alle im Freien in Boxen standen. Udo kennt mich von Weitem an meinem Schnalzen und spitzt die Ohren, weil ich ihm immer etwas mitbringe. Ich hatte aber diesmal nichts dabei, und ließ mir einen Blechkübel voll Hafer geben. Ich habe ihn reihum an meine Lieblinge vergeben und es gab viel Aufregung, Eifersucht und langgestreckte Mäuler und scharrende Hufe. Dabei zeigte sich, daß jedes Pferd eine ganz andere Maulgröße, Lippenbewegung und eine verschiedene Art von Gier und listiger Anheimsung der immer weniger [31] werdenden Körner hatte. Satan legte die Ohren weit zurück und sein Ausdruck bedeutete gleichzeitig Befriedigung wie auch Abwehr gegen Einmischung seiner Nachbarn, Pferdeköpfe sind wundervoll ausdrucksvoll und gute langschädelige Menschenköpfe gleichen ihnen oft nicht wenig.

Der Hengst »Satan«, mit dem von Aufseß Ausritte unternahm. (Foto: H. M. von Aufseß)

Wir waren in einem englischen Film: Dr. Auerbach hat dazu angeregt und ihn so gelobt, daß er sich schließlich verpflichtet zur Teilnahme fühlte. Ich meinerseits hatte den Oberst und die Wedelschwestern zur Teilnahme mit veranlaßt und so durfte also keinesfalls ein Reinfall eintreten. Es handelte sich um eine Geschichte aus der englischen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts. Ein Dichter und eine Dichterin lernen sich durch ihre Sonette kennen, die draus entstehende Liebe heilt die gelähmte Frau und die Tochter verläßt das Haus des egoistisch [32] sie liebenden Vaters, das Stück war getragen von 2 reizenden Schauspielerinnen und hatte große Feinheiten und einen geschickt bemessenen Wechsel zwischen heiteren und ernsten Szenen.48 Vor mir saß Heidi, neben mir flüsterte mir Dr. A schwer verständliche Sprachstellen übersetzend zu. Heidi beugte sich dabei zurück und nahm auch oft die hastigen Bemerkungen auf. So war sie ganz gestraffte Aufmerksamkeit nach beiden Seiten und vor dem Bild der Leinwand und der sympathischen hübschen Schauspielerin selbst ein mitspielendes Wesen. Oft sah ich auf sie, auf dieses hellwache, lebendige schöne Mädchen in der Halbdunkelheit der Loge, das auf jedes Wort anspielte und ein kluges und sensibles Geschöpf in einer ungewohnten neuen Nähe und Ansprechbarkeit für mich darstellte. Die Anwesenheit zu vieler Kinder brachte Lachsalven an rührend verkehrten Punkten [33] und auch der Oberst saß in einer Weise in seiner Ecke, daß man ihm die fehlende Beteiligung deutlich anmerkte. Tragik u. Seelengröße sprechen ihn nicht an, denn er ist für die mittleren praktischen Lösungen in allen Dingen und darin liegt auch viel Geschick und Verdienst von ihm.

Wir fuhren – Pelz49, Kriegsgerichtsrat und ich – Heidi in ihr Soldatenheim nach Hause u. besuchten draußen eine schöne große Farm, um zu entscheiden, ob der Pächter gegen den Willen der Verpächterin verbleiben sollte. Die alte 84jährige [Dame] Lady Vernon50 empfing uns in dem sehr englischen Landhaus am Kamin, daß mir alles wie die Fortsetzung des soeben gesehenen Films vorkam mindestens im Milieu der Einrichtung und des Geschmacks. Danach kehrten wir bei Heidi im Soldatenheim ein.