Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln

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Marianne Grünfeld

Im Jahr 1943 verschärfen sich die deutschen Zwangsmaßnahmen. Bei einem Schiffsunglück im Januar lassen zahlreiche Zwangsarbeiter, die ins französische Cherbourg gebracht werden sollen, ihr Leben. Weitere Inselbewohner werden deportiert. Insgesamt werden während der gesamten Besatzung Hunderte britischer Staatsbürger verschleppt.53 Bürger, die noch immer eigene Radiogeräte besitzen, werden verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt. Unter der britischen Bevölkerung wächst der Ärger über die Besetzung. Im November werden auf Guernsey englische Matrosen bestattet, die bei einem erfolglosen Angriff auf einen deutschen Konvoi durch U-Boot-Torpedos ums Leben gekommen sind. Dabei versammeln sich 5000 Inselbewohner und verwandeln die Beerdigung in eine Demonstration des Protestes.54 Vereinzelte Protestaktionen, z. B. wirft eine Frau Pferdemist auf deutsche Armeeangehörige, werden mit Haftstrafen verfolgt. Von einem kämpferischen Widerstand gegen die deutsche Besetzung, wie ihn die Partisanen Titos in Jugoslawien oder die Résistance in Frankreich leisten, kann allerdings für die Kanalinseln zu keinem Zeitpunkt der Jahre 1940 bis 1945 gesprochen werden. Die jungen Männer, die einen solchen Widerstand hätten tragen können, sind 1940 überwiegend geflohen und kämpfen nun an den Fronten des Krieges, die älteren Einwohner arrangieren sich und versuchen, die Besetzung ›auszusitzen‹. Zwar werden vereinzelt Sabotageakte verübt, z. B. Einbrüche in Geschützstellungen, und besonders mutige Inselbewohner verstecken geflüchtete Zwangsarbeiter und Juden, doch wie in jeder vergleichbaren Situation sind auch auf den Kanalinseln die ›Helden‹ in der Minderheit.55 Die wohl häufigste Form von Widerstand ist das Hören von sogenannten ›Feindsendern‹, also BBC. Die Suche nach Radios beschäftigt die deutschen Besatzer daher die ganzen Jahre der Okkupation.

Einen vollkommenen Gegensatz zu Widerstandsaktionen stellen die zahlreichen Liebesbeziehungen zwischen deutschen Männern und Inselbewohnerinnen dar.56 Vielen jungen Frauen auf den Inseln fehlen mögliche britische Partner.57 Sexuelle Not, Abenteuerlust, ein Überangebot an attraktiven, wenig beschäftigten jungen Männern in Uniform58, in denen viele nicht den Feind, sondern einen Menschen sehen, führen zu intimen Verhältnissen, von denen auch Freiherr von Aufseß in seinen Tagebüchern ausführlich berichtet. Manche Frauen werden aber auch aus purer Not und aus Überlebenswillen Beziehungen zu deutschen Landsern eingegangen sein. Aus dieser Art von Liebesverhältnissen oder, wie Sanders formuliert, »horizontal collaboration«59 gehen ca. 470 uneheliche Kinder hervor.60 Die meisten Menschen hoffen aber einfach nur auf ein baldiges Kriegsende, werden in dieser Hoffnung jedoch enttäuscht. Frauen, die sich mit Deutschen einlassen, werden von den Inselbewohnern verächtlich als ›Jerrybags‹61 bezeichnet.

Im Juli 1943 sinkt ein Schiff, das Sklavenarbeiter und französische Prostituierte auf die Inseln bringen soll, wobei erneut 250 Menschen sterben. Freiherr von Aufseß wird im November als Nachfolger von Wilhelm Casper Leiter der Zivilverwaltung in der Feldkommandantur 515. Casper wechselt in das Besatzungsregime nach Dänemark, wo er in den Stab des ›Reichsbevollmächtigten‹ und Kriegsverbrechers Werner Best eintritt.62

1944 ist das Jahr einer rasanten Verschärfung der Umstände. Die Inseln werden zu ›Festungen‹ erklärt, die im Falle englischer Angriffe entschlossen zu verteidigen sind. Von englischer Seite werden zunehmend erfolgreich deutsche Konvois, die Lebensmittel und Treibstoff zu den Inseln bringen sollen, angegriffen. Durch diese Attacken verschärfen sich die Lebensbedingungen der Inselbewohner. Die Feldkommandantur wird verkleinert und in ›Platzkommandantur‹ umbenannt. Ihre kampffähigen Mitarbeiter werden zur Wehrmacht eingezogen. Nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 kommt es keineswegs zu einem von den deutschen Militärs erwarteten Angriff auf die Inseln. Die Channel Islands werden einfach ›links liegen gelassen‹ und stattdessen ausgehungert. Zu diesem Zeitpunkt sitzen 26 000 deutsche Soldaten untätig auf den Inseln herum, benötigen aber wie die Inselbewohner Nahrung, Medikamente, Treibstoff.63 Nach der Eroberung der normannischen Häfen durch die Alliierten bricht der Versorgungsnachschub für die Inseln völlig zusammen. Deutsche Soldaten, die in den Kämpfen in der Normandie verwundet wurden und auf die Inseln gebracht werden konnten, finden in den dortigen Lazaretten keine angemessene Versorgung mehr.

Hans Max Freiherr von Aufseß

In der allmählich unhaltbar werdenden Lage informieren die Deutschen im September 1944 das Rote Kreuz der neutralen Schweiz über das absehbare Ende der Nahrungsvorräte. Viele Inselbewohner hungern bereits. Die Deutschen bieten die Evakuierung der Zivilbevölkerung an, wären aber auch mit der Hilfe des Roten Kreuzes einverstanden. Premierminister Churchill lehnt beide Vorschläge zunächst ab. In sicherer Erwartung der abweisenden deutschen Antwort verlangt er stattdessen die Kapitulation der Besatzer. Gas- und Stromleitungen zu den Inseln werden von den Alliierten gekappt. Die Deutschen beginnen nun unter der Zivilbevölkerung nach verbliebenen Nahrungsmitteln zu suchen und gefundene Nahrung einzuziehen, um die eigenen Soldaten ernähren zu können. Dieser Bruch des Völkerrechts erzürnt die zunehmend verzweifelten Insulaner. Deutschen Landsern wird Zwangsruhe verordnet, um Kalorien zu sparen. Die Truppe ist kaum noch kampffähig. Im November erlaubt das britische Kriegskabinett doch noch Hilfslieferungen durch das Rote Kreuz. Das schwedische Rot-Kreuz-Schiff ›Vega‹ erreicht allerdings erst im Dezember 1944 die Inseln. Im Februar und März 1945 bringt die ›Vega‹ noch einmal dringend benötigte Nahrungsmittel auf die Inseln.64 Einerseits bleibt die Mehrheit der Menschen auf den Inseln, Briten wie Deutsche, von Krieg und Tod verschont – anders als Millionen Europäer auf dem Festland während des erfolgreichen Vorstoßes der Alliierten auf das ›Deutsche Reich‹ –, andererseits müssen die Menschen hungern und große Ungewissheiten ertragen.

Oberst von Schmettow wird im Januar 1945 durch den überzeugten Nationalsozialisten und kampfwilligen Admiral Friedrich Hüffmeier abgelöst. Dieser hält markige Durchhaltereden und unternimmt am 8. und 9. März 1945 einen erfolg- wie verlustreichen Angriff auf die Hafenstadt Granville, die am Westufer der normannischen Halbinsel Cotentin liegt. Es gelingt den Deutschen, Kohle zu erbeuten und einige Amerikaner gefangen zu nehmen. Am 9. Mai kapitulieren die Deutschen aber schließlich trotzdem kampflos. Selbst Hüffmeier muss einsehen, dass seine Truppe keinen Widerstand mehr leisten kann und ein Gemetzel nach dem Selbstmord des ›geliebten Führers‹ und der einen Tag zuvor erfolgten Kapitulation der Wehrmacht ebenso lächerlich wie tragisch wäre. Nach fünf Jahren endet die Zeit der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln nicht in einem dramatischen Finale, sondern in einer banalen Übergabe auf einem englischen Kriegsschiff. Die deutschen Besatzer gehen in Kriegsgefangenschaft, während gleichzeitig englische Truppen die Inseln wieder in Besitz nehmen.

Das Verhalten der Inselbewohner während der fünfjährigen Okkupation ist ein heute umstrittenes Thema in der britischen Öffentlichkeit. Unmittelbar nach dem Krieg wird über die Kollaboration oder zumindest Kooperation vieler Insulaner, wie sie auch die Tagebücher des Freiherrn von Aufseß deutlich dokumentieren, zunächst lange Zeit der Mantel eines gnädigen Schweigens gebreitet. Frauen allerdings, die sich mit Deutschen ›eingelassen‹ haben, werden von vielen Insulanern, vor allem von jenen, die den Krieg in England verbracht haben, geächtet.65 Auch dieses Muster ist mit den Vorgängen in Frankreich vergleichbar. Dort werden Frauen nach der Befreiung stellvertretend für den Abgrund an Kollaboration, dessen sich große Teile der französischen Gesellschaft schuldig gemacht haben, gedemütigt und geschlagen.66 Auch die Kinder aus diesen Verhältnissen werden ausgegrenzt. Männer wie Carey oder Coutanche aber, deren Verhalten mindestens diskussionswürdig war, können nach 1945 als geachtete Mitglieder der Inselgemeinschaft weiterleben.

Auf den Kanalinseln gibt es keine Massenerschießungen von Geiseln, und selbst die Repressalien sind im Vergleich zu den Menschheitsverbrechen von SS und Wehrmacht in anderen Teilen Europas weniger dramatisch, dabei aber keineswegs harmlos. Auch auf den britischen Kanalinseln werden zwischen 1940 und 1945 Juden verfolgt, Einwohner deportiert und sterben Hunderte Zwangsarbeiter67. Die Deutschen verwickeln biedere und mit der Situation überforderte Beamte, aber auch viele Inselbewohner in einen Zwiespalt zwischen Widerstand und Überlebenswillen, der manche, aber keineswegs alle Insulaner in die Grauzonen von Kollaboration und Kooperation führt. Der Mikrokosmos der deutschen Okkupation der Channel Islands im großen Makrokosmos des Zweiten Weltkriegs verdient es, auch in Deutschland, im Land der Täter und ihrer Nachfahren, genauer betrachtet zu werden. Es gibt dabei vielleicht aus englischer, ganz gewiss aber aus deutscher Sicht keinen Grund, sich die Jahre 1940 bis 1945 auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney ›schönzureden‹.

Hans Max Freiherr von und zu Aufseß (1906–1993)

Hans Max Freiherr von und zu Aufseß ist vielleicht ein Stück weit, aber sicherlich nicht ganz und gar der ›gute Deutsche‹, als der er sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern darzustellen versucht und als der er in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg auch in englischen Publikationen geschildert wird. Als Teil eines Besatzungsregimes gehört er zu den Mittätern, wobei der Begriff des ›Täters‹ selbstverständlich differenziert werden muss. Freiherr von Aufseß ist kein Mörder, aber ein Rädchen im Getriebe eines Mordapparats.

 

Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Menschen der Vergangenheit mit erhobenem moralischen Zeigefinger zu beurteilen und ihnen ihre Schwächen vorzuhalten. Doch der Mühe einer kritischen Einordnung in den historischen Kontext und einer Abwägung der Handlungsmöglichkeiten und -spielräume, die diesen Menschen in schwierigen, potentiell verbrecherischen Umständen zur Verfügung standen, sollte man sich als Historiker doch unterziehen. Das gebietet schon allein der Respekt vor den Subjekten der Untersuchung. Folgt man aber der einzigen umfassenderen deutschsprachigen Biographie, die 2015 in den ›Fränkischen Lebensbildern‹68 erschien, war Hans Max Freiherr von Aufseß ein bruchlos tadelloser Mann, der auf den Inseln sein Möglichstes tat, um die Einwohner vor den größten deutschen Repressalien zu schützen. Der Verfasser dieser Biographie folgt dabei dem von Aufseß selbst geschaffenen, von Casper, dem Hauptverantwortlichen für die Durchführung der von seinen Vorgesetzten in Paris angeordneten antijüdischen Maßnahmen auf den Inseln69, und einigen englischen Autoren nach dem Krieg weiter tradierten Bild einer ›guten Okkupation‹ durch gebildete und distinguierte Besatzer von adeligem Geblüt. Casper verweist in seinem wenig glaubwürdigen Verteidigungsbüchlein auf englische Zeugen, die von Aufseß als tadellosen Besatzer schildern: »Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von deutscher Seite, soweit es die Zivilbevölkerung betraf, und eine der interessantesten (…).«70 Auch die 2014 publizierte Chronik der Familie von Aufseß unterlässt eine Einordnung in den historischen Kontext und erwähnt die Tätigkeit des Freiherrn auf den Kanalinseln nur in dürren Worten.71 Selbst im Jahr 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, sind noch die alten Mechanismen von Verdrängung und Verleugnung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirksam. Doch nur selten präsentiert sich die Vergangenheit, wenn man sie gründlich betrachtet, als eindimensionale Angelegenheit ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. So ist es auch bei Hans Max Freiherr von und zu Aufseß, der sich gern selbst mit ›HMA‹ abkürzte.

Die Quellenlage zur Biographie des Freiherrn von Aufseß ist gut, wurde bisher aber in Teilen übersehen oder ignoriert. Die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP im Bundesarchiv Berlin gibt Auskunft über eine Parteimitgliedschaft, die aussagekräftige Spruchkammerakte des Entnazifizierungsverfahrens befindet sich im Staatsarchiv Coburg. Unterlagen des Kriegsgefangenenlagers ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Informationen zu Hans Max von Aufseß’ Zeit als ›Prisoner of War‹ (›PoW‹) lagern im National Archive im Londoner Stadtteil Kew. Im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld befindet sich der Nachlass des Freiherrn mit Manuskripten, privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen. Schließlich sind auch die zahlreichen Publikationen, die Hans Max von Aufseß nach dem Krieg veröffentlicht hat, weitere Quellen zum Verständnis und zur Einordnung seiner Person. Viele im ›Jersey Archive‹ befindliche Unterlagen, die seine Tätigkeit auf den Inseln dokumentieren, wurden von britischen Autoren, vor allem von Paul Sanders, gehoben, akribisch gesichtet und in der schon erwähnten umfangreichen Literatur verarbeitet.

Hans Max Otto Hermann Karl Gustav Freiherr von und zu Aufseß wird am 4. August 1906 in Berchtesgaden geboren. Er ist Teil einer fränkischen Adelsfamilie, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Noch heute zeugen eine Burg, ein Schloss und ein Dorf in der Fränkischen Alb von der Geschichte der Familie von Aufseß. Seine Vorfahren waren Bischöfe, freie fränkische Ritter – Raub-, aber auch Ordensritter – Reichsfreiherren, Verwaltungsbeamte und Militärs. Zuletzt erlangte Markus von Aufseß, 1987 bis 1990 Fußballprofi beim Zweitligisten SpVgg Bayreuth, eine gewisse Bekanntheit. Das Haus Aufseß trennt sich im 18. Jahrhundert in die Linien ›Unteraufseß‹ und ›Oberaufseß‹. Hans Max Freiherr von Aufseß gehört zur Linie ›Oberaufseß‹. Sein bis heute bekanntester Vorfahr ist sein Großonkel Hans von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der Begründer des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Sein Vater Ernst Moritz Leopold, verheiratet mit Caroline Freiin von Hohenfels, ist zur Zeit der Geburt von Hans Max Leiter des Bezirksamts in Berchtesgaden.72 Bei seiner Geburt hat Hans Max bereits zwei Schwestern, Anna und Elisabeth, und 1925 folgt mit Bruder Albrecht noch ein ›Nachzügler‹. Der Freiherr wird in die festgefügte Provinzadelswelt des späten bayerischen König- und deutschen Kaiserreichs hineingeboren. In dieser Welt gibt es Privilegierte und Gesinde. Seine glückliche Kindheit auf Burg Aufseß schildert Hans Max 1930 als junger Mann in einem romantisch-naturbewegten Gedicht: »Der Hof lag groß und breit, leicht im Gefälle/Hinauf zum Schloß, hinunter in die Ställe/Lief ich wohl hundertmal in Knabenschnelle/Und als Jüngling wieder hundertmal. (…) Hell überflattert von den Wolkenfahnen:/Das Tal, der Wald und Flur und Burg der Ahnen./Ich war daheim, Du gütiges Geschick.«73 Schon in diesem Jugendwerk spiegeln sich eine schwärmerische Ader und eine virile Lebensbejahung, die auch im Tagebuch der Okkupationszeit immer wieder durchscheinen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und auch das Leben in der fränkischen Provinz berührt, ist Hans Max von Aufseß acht Jahre alt. Mit Rittmeister Otto-Walter von Aufseß, der im November 1914 fällt, und Major Siegfried von Aufseß, beide aus der Linie ›Unteraufseß‹, der 1917 an den Folgen einer Verwundung stirbt74, verliert, wie viele andere auch, diese Familie im Krieg Menschenleben. Bei Beginn der ersten deutschen Republik, welche 1919 die Standesprivilegien des deutschen Adels abschafft und so die Lebensverhältnisse der ganzen Familie verändert, ist Hans Max zwölf Jahre alt. Er gehört damit zu jener sogenannten ›Kriegsjugendgeneration‹75 der zwischen 1900 und 1912 Geborenen, die, zu jung für eine Bewährung im Fronteinsatz, das Ende von Kaiserreich und alter Ordnung sowie die schwierigen Anfangsjahre der deutschen Republik als Verlusterfahrung wahrnehmen, gegen die sie sich machtlos fühlen. Diese Generation radikalisiert sich und ihr entstammt ein Großteil der späteren nationalsozialistischen Funktionsträger, u. a. Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder der schon erwähnte Werner Best. Auch der fast gleichaltrige Hans Werner von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der wie Hans Max in München Jura studiert, gehört zur ›Kriegsjugendgeneration‹. Mitglied in der SS und der NSDAP macht er Karriere als persönlicher Referent des Reichslandwirtschaftsministers Walter Darré. Bei den ›Nürnberger Prozessen‹ nach 1945 sagt Hans Werner von Aufseß als Zeuge aus.

Hans Max von Aufseß besucht die Volksschule sowie Gymnasien in Bayreuth und München. Anschließend studiert er Rechtswissenschaften und Forstwissenschaften in München, Erlangen, Wien, Hamburg und Paris.76 Im Wintersemester 1927/28 schließt er sich dem ›Verband der Vereine Deutscher Studenten – Kyffhäuserverband‹ in München an.77 Der Verband ist zu diesem Zeitpunkt zwar nichtschlagend, aber antisemitisch und antirepublikanisch eingestellt. Seit 1926 bestehen Kontakte des Verbands zum ›Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund‹. Der junge Student Hans Max von Aufseß bewegt sich damit in einem politisiert-antidemokratischen Umfeld.

Am 1. Mai 1933 tritt Hans Max Freiherr von und zu Aufseß mit der Mitgliedsnummer 2524705 in die NSDAP, Ortsgruppe Heiligenstadt, Gau Bayerische Ostmark, ein.78 Als Wohnort gibt er Oberaufseß, als Beruf »Assessor« an.79 An diesem 1. Mai 1933, dem im ganzen Reich aufwendig begangenen ›Tag der Nationalen Arbeit‹, treten überdurchschnittlich viele Deutsche in die NSDAP ein, um so noch knapp einer Aufnahmesperre der Partei entgehen zu können, die mit Wirkung dieses Datums gilt. Der Freiherr gehört damit der sehr großen Zahl von Neumitgliedern an, die nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ am 30. Januar 1933 und den unfreien Wahlen vom 5. März d. J. in die Partei eintreten und die der Volksmund spöttisch als ›Märzgefallene‹ bezeichnet. Hatte die Partei Ende 1932 719 446 Mitglieder, sind es im Mai 1933 bereits 2,5 Millionen.80 1,3 Millionen der 2,5 Millionen Mitglieder treten erst zwischen der Märzwahl 1933 und dem 1. Mai d. J. in die NSDAP ein.81 Altgedienten Nationalsozialisten sind diese Neumitglieder ein Ärgernis, werden doch hinter vielen Eintrittsgesuchen mit Recht Opportunisten und ›Glücksritter‹82 vermutet, wie das Oberste Parteigericht mit Blick auf die ›Märzgefallenen‹ urteilt: »Wer vor dem 30. 1. 1933 zu uns kam, war willens für die Bewegung zu opfern. Jetzt kamen nicht mehr nur Menschen, die für die Ziele des Führers kämpfen wollten, es ließen sich auch Leute aufnehmen, die nun an der Bewegung verdienen wollten.«83 Die Aufnahmesperre, die erst 1937 wieder aufgehoben wird, soll diese Entwicklung stoppen. Am Ende des ›Dritten Reichs‹ sind dennoch 8,5 Millionen Deutsche Parteimitglieder.84

Nachweis über die Mitgliedschaft in der NSDAP in der Berliner Zentralmitgliederkartei

Der Umstand, dass von Aufseß der NSDAP beitritt, bedeutet nicht zwingend, dass er ein von allen ideologischen Inhalten überzeugter Nationalsozialist ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass der am Anfang einer möglichen Karriere stehende 26-jährige ›Assessor‹ für seine Pläne, sich als Jurist zu etablieren und eine Familie zu gründen, die Parteimitgliedschaft für hilfreich hält. Des Freiherrn Berufsstart fällt genau in die Zeit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur und ähnlich wie z. B. für viele frisch examinierte und häufig arbeitslose Junglehrer ist auch für Juristen am Anfang der Laufbahn die Einfügung in das neue System Voraussetzung für Erfolg. Diese Argumentation bemüht von Aufseß 1947 dann auch in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren. Es muss jedoch deutlich gesagt werden, dass auch nach dem Beginn des ›Führerstaats‹ ein Parteieintritt immer freiwillig ist und niemand gezwungen wird, sich aus Gründen beruflicher Opportunität der NSDAP anzuschließen.85 Es war im ›Dritten Reich‹ möglich, moralisch integer zu bleiben, wenn man bereit war, auf Vorteile des Systems zu verzichten. Ungeachtet der Frage, ob Hans Max von Aufseß beim Parteieintritt überzeugter Nationalsozialist ist, kann festgestellt werden, dass er nicht zögert, in eine aggressiv antisemitisch, rassistisch und demokratiefeindlich orientierte Organisation einzutreten, die im Mai 1933 ihre brutale Gewaltbereitschaft bereits hinlänglich nachgewiesen hat.

Im Jahr 1934 zieht von Aufseß in das 90 Kilometer von Oberaufseß entfernte oberfränkische Industriestädtchen Naila und lässt sich dort als Anwalt nieder.86 Im selben Jahr heiratet er Marie Luise (Marilies) von Klipstein; dem Paar werden 1936 und 1939 die Töchter Uta und Cordula geboren.87 Ein Sohn, Hans-Michael, folgt noch während der Zeit des Freiherrn auf den Kanalinseln. Von Aufseß tritt später noch dem ›Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps‹ (NSKK) und dem ›Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund‹ (NSRB) bei.88 Die Mitgliedschaft im NSRB ist für Juristen keine Zwangsmitgliedschaft, aber faktisch unerlässlich, will man im ›Dritten Reich‹ als Anwalt tätig sein.

Die ältere Tochter Uta erinnert sich im Rückblick an die Vorkriegszeit in Naila: »So begann er mit einer Anwaltskanzlei in Naila und zog mit seiner kleinen Familie dort hin. Hier gab es Industrie, und es lebten Freunde und Verwandte in der Umgebung. Als 1939 Cordula geboren wurde und die Eltern mittlerweile ein kleines Haus mit Garten gebaut und ihr Eigen nannten, schritten die Kriegsvorbereitungen immer weiter voran und die Eltern hielten das Leben in dieser Industriestadt mit kleinen Kindern für nicht mehr angebracht und sinnvoll. Außerdem wurde mein Vater auch gleich eingezogen, und wir zogen mit Sack und Pack nach Altaussee in Österreich zu Freunden der Eltern, die dort schon eine Wohnung in einem Bauernhof besorgt hatten.«89

Hans Max von Aufseß wird nach Kriegsausbruch zu einer FLAK-Abteilung der Luftwaffe eingezogen und an »verschiedenen Fronten im Osten und Westen eingesetzt.«90 Im Mai 1941 erhält er den Rang eines Unteroffiziers.91 Ab November 1941 wird er Stabsunteroffizier bei der Luftwaffe in Frankreich, jedoch wegen seiner guten Französischkenntnisse bei der Spionageabwehr in Paris eingesetzt.92 Als Kriegsverwaltungsrat kommt der Freiherr schließlich 1942 auf die Kanalinseln, zunächst als Stellvertreter Caspers. Diese Versetzung verdankt von Aufseß nun seinen Englischkenntnissen.93

 

Marilies von Aufseß. Bildunterschrift: »Die Reisebegleiterin / ›Wer will eine Reise tun / der muss mit der Liebsten fahren‹ Eichendorff«.

Seine Haltung zum Nationalsozialismus ist trotz der Parteimitgliedschaft bereits 1940 kritisch. In einem unveröffentlichten Essay aus dem Jahr 1940 mit dem Titel ›Die sanfte Gewalt‹ schreibt von Aufseß: »Wir Deutschen sind nach dem Weltkrieg lange genug durch eine Zeit der Schwäche geschritten, um uns nach einem starken Willen zu sehnen. Wir haben ihn bekommen. Das SA Gesicht auf dem Plakat hat in Reinform die Züge des Männlichen und Willensmässigen getragen. Wir Deutsche sind wie so oft in unserer Geschichte von einem Extrem in das andere gefallen. Vom uferlosen Liberalismus ging es über in die Begrenztheit des totalen Staates, von der Disziplinlosigkeit in die höchste Ausrichtung und von der Planlosigkeit in das doktrinäre Programm. (…) Das Preussisch-Nationalsozialistische Deutsche bricht über von Tatkraft, seine Sprache ist befehlsmässig abrupt, seine Meinungsäusserungen zu laut (…) Es fordert heraus, weil es einseitig den Kampf, den Willen und die Pflicht bejaht und anbetet, – weil es keine sanfte Gewalt ist.«94 Der Freiherr spricht einem sanften, christlich geprägten autoritären Staat das Wort: »Es ist der ganze wärmere Blutstrom des deutschen Südens auf den Plan zu rufen, damit das Unharmonische im Deutschen nicht beherrschend wird.«95

Diese vollzogene innere Distanz zum Nationalsozialismus hindert von Aufseß jedoch nicht an der Zusammenarbeit mit dem Regime. Nach dem Krieg schildert Hans Max von Aufseß seine Tätigkeit auf den Inseln allerdings auf günstigste Weise: »Es ist mir dort gelungen, alle Nazimethoden in der Verwaltung des Landes, auch alle Nazidienststellen fernzuhalten.«96 Folgt man dem Urteil von Paul Sanders, der die englischen Quellen am besten kennt, überzeichnet von Aufseß seine Rolle allerdings ein wenig: »Von Aufsess’ power (…) was limited to deploring and intervening in the cutting down of old trees. Von Aufsess clearly had too much time on his hands to have been part of the inner political circle. (…) devouring every genre of books and films that got into in his hands and criss-crossing the island, often on horseback, cultivating relationships with compatriots and a select few islanders alike.«97

In Briefen, die von Aufseß nach 1945 von den Kanalinseln erhält, wird aber deutlich, dass er sich durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Bedürfnisse der Inselbewohner bemüht hat und dabei auch Erfolge erzielen konnte. In einem Brief einer Inselbewohnerin vom 2. Januar 1947 an den Freiherrn heißt es: »I shall never forget your great effort in 1945 in trying to give us civilians our vegetables when that detestable Nazi admiral did his best to starve us all.«98 Edward Le Quesne, Präsident des ›Committee of public health States of Jersey‹, schreibt an von Aufseß im November 1947: »As minister of Labour during the whole of the Occupation of the Islands I can bear witness to the moderation you showed in putting into operation the orders of your superiors.«99

Doch ist Sanders’ Einschätzung ebenfalls zutreffend. In der Tat findet von Aufseß neben der mit begrenzten Kompetenzen versehenen Verwaltungstätigkeit viel Zeit für Gespräche, Frauenbekanntschaften, Ausritte oder entspannte Stunden am Strand. Im Auftrag der Feldkommandantur 515 gibt der Freiherr sogar einen Bildband mit dem Titel ›Bilderbogen‹100 über die Kanalinseln heraus. Die Texte und Bilder stammen vom Freiherrn, der dafür viele Stunden müßig über die Inseln gezogen sein muss. Das Buch erreicht drei Auflagen und wird in insgesamt 36 000 Exemplaren ausgeliefert. Nach Kriegsende ist es ein gesuchtes Souvenir englischer Soldaten. Sogar Adolf Hitler soll ein Exemplar erhalten haben, wie von Aufseß im Oktober 1943 berichtet: »Es wurde vom Chef des Fuehrerhauptquartiers, General Schmundt dem Fuehrer in den schweren Tagen vor Stalingrad im Januar 43 vorgelegt. Trotz des besonderen Interesses des Fuehrers für die Kanalinseln habe er begreiflicherweise keine Zeit dafuer gehabt, denn der Russe habe wider alle Regeln der Kriegskunst eine ungeheure Winteroffensive gestartet, stand woertlich gleich einem Eingestaendnis des Ueberraschtseins darin. (…) Die Engländer auf den Inseln haben es in grosser Menge gekauft und den oeffentlichen Bibliotheken eingereiht, wobei sie zugestanden haben, dass es das beste bisher erschienene illustrierte Buch der Inseln sei. Eine englische Uebersetzung des Textes ist hinzugefuegt worden.«101 Das Buch selbst ist eine unkritische Lobpreisung der Inseln und stellt dabei die deutsche Besatzung als freundliches Idyll dar.

Im Oktober 1943 beginnt von Aufseß mit den Eintragungen in seine Tagebücher. Vor seinen Mitarbeitern hält von Aufseß in diesem Jahr immer wieder programmatische Vorträge, in denen er sich für die schon aufgezeigte Mäßigung im Umgang mit den Inselbewohnern ausspricht, aber durchaus auch Identifikation mit den deutschen Zielen im Zweiten Weltkrieg beweist. So führt er am 15. Juli 1943 unter der Überschrift ›Vom Takt und Rücksichtnahme im Krieg‹ aus: »(…) denn zum totalen Krieg gehört nicht nur die Mobilisierung aller materiellen Güter der Nation, sondern ebensosehr der volle Einsatz aller geistigen, zu denen zweifelsohne als Tochter der Vernunft auch die echte Rücksichtnahme zählt. Wieviel in der Welt schon durch kluge Rücksichtnahme erreicht und wieviel durch ihr Fehlen zerstört wurde, darüber ließen sich Bände füllen. Wir Deutschen, die wir heute zur Lenkung und Verteidigung des Schicksals der europäischen Völker berufen sind, müssen uns dies besonders klar vor Augen halten. Denn so wenig die Waffen allein uns zum Siege bringen werden, so wenig wird uns die blosse Gewalt die Vormachtstellung in Europa sichern. (…) Wo es die Verteidigung und die höchste Ausnützung des Landes für den Krieg bedingt, gibt es natürlich keine persönliche Rücksichtnahme. Für wen soll es aber z. B. gut sein, dem Engländer sein Tennis- und Golfspielen zu verbieten, wenn er die ganze Woche für uns gearbeitet hat. (…) So muss sich die deutsche Geradheit mehr in Geschmeidigkeit wandeln (…). Es wird dann nicht mehr die Rede vom taktlosen oder rücksichtslosen Deutschen sein. Dem Augenblick nur immer richtig angepasst, müssten wir sogar mit unseren guten Grundeigenschaften allen wahrhaft überlegen sein.«102 Ähnliche Gedanken formuliert von Aufseß in einem Vortrag im August 1944. Der Vortrag trägt den Titel ›Die Kanalinseln im Belagerungszustand‹: »Wir handeln hier als Besatzungsmacht auf rechtlicher Grundlage. (…) Alles, was hier geschieht, steht unter der Glasglocke der Weltöffentlichkeit. Unser Handeln wird nicht nur als ein Verhalten der Deutschen in einem besetzten Staat schlechthin gewertet, es hat auch eine unmittelbare Auswirkung auf die weit grössere Anzahl von Deutschen, die unter englischer und amerikanischer Herrschaft lebt. Nicht dass wir deswegen in unserem Handeln vom Urteil der anderen abhängen (…). Aber es gibt eine Bindung an das Recht und eine Rücksichtnahme aus Vernunft, deren wir uns bei allen Handlungen bewusst sein müssen. (…) Als Grundsatz des Rechts einer Besatzungsmacht gilt die Erhaltung des fremden Volkes. Man muss die fremde Zivilbevölkerung leben lassen und ihr nicht das Letzte nehmen. Dieser Grundsatz wurde von Herrn General Schmundt bei seinem Besuch der Kanalinseln als ausdrücklicher Wunsch des Führers bestätigt. Der Militärbefehlshaber in Frankreich, General von Stülpnagel, der Befehlshaber Nordwestfrankreich, General Vierow und General von Mühlendorf vom AOK VIII haben endlich wiederholt der hiesigen Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht, dass für die Bedürfnisse der englischen Zivilbevölkerung in ausreichendem Mass gesorgt werden müsse.«103