Katzmann und das verschwundene Kind

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Katzmann und das verschwundene Kind
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Franziska Steinhauer

Katzmann und das

verschwundene Kind

Der erste Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Franziska Steinhauer, erfolgreiche Cottbuser Krimiautorin, ist bekannt für ihre psychologisch ausgefeilten Kriminalromane. Mit besonderem Geschick verknüpft sie mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Zuletzt erschienen von ihr «Wortlos» (2009), «Mord im Hause des Herrn» (2009), «Gurkensaat» (2010) sowie der Krimi zur Frauen-Fußball-WM «Spielweise» (2011). (www.franziska-steinhauer.de)

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520502

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

PROLOG Juni 1918

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

Die Reihe

PROLOG
Juni 1918

ER BEWEGTE SICH überraschend behende. Schob den schweren, unerwartet sperrigen Sack durch Gebüsch und dichtes Gestrüpp. Selbst hier brannte die Sonne heiß auf seinen Rücken, und er fluchte leise. Hätte das nicht noch ein paar Tage warten können, bis es wieder kühler war? Nein, konnte es nicht! Natürlich nicht. Schon jetzt ging ein unangenehmer Gestank von diesem Sack aus, der rasch ungewollte Aufmerksamkeit erregt hätte. Nein, das Ding musste verschwinden. Heute. Die hereinbrechende Dunkelheit würde ihm die Arbeit erleichtern. Doch bis dahin galt es, die Zeit zu nutzen und den besten Platz zu finden.

Er hatte Glück gehabt. Mit dem Sack auf dem Gepäckträger hatte er quer durch die Stadt radeln müssen, um dieses Waldstück zu erreichen. Niemand hatte von ihm und seiner Fracht Notiz genommen, obwohl die Straßen und Gehwege so voller Leute gewesen waren, dass man hätte annehmen können, das in Zeiten von Pest oder Krieg abgesagte Vogelwiesenfest fände in diesem Jahr wieder statt. Dieses ursprünglich als Schützenfest veranstaltete Vergnügen erfreute sich über die Jahre immer größerer Beliebtheit, die Besucher verschuldeten sich gar für den Besuch. Diese glücklichen Zeiten für Pfandleiher waren nun vorbei. Ihm war das gleichgültig. Er fand sein Vergnügen in vollkommen anderen Dingen. Seine Freuden wollte er nicht mit anderen teilen.

Nur einmal war die Situation brenzlig geworden, als ein großer Hund angefangen hatte, sich für sein Gepäck zu interessieren, und nur schwer davon zu überzeugen gewesen war, in dem Sack befänden sich nur ein paar Werkzeuge.

Die Kleine war selbst schuld. Wie die anderen auch.

«Wenn du mir kein Eis kaufen willst, sage ich Mama, wo du mich anfasst. Ich glaube, dann gibt es Ärger», hatte sie gesagt und ihn dabei mit demselben kalten Blick gemustert wie seine Frau. Was danach passiert war, hatte ihn selbst überrascht. Und er gab sich größte Mühe, nicht eine Sekunde davon zu vergessen.

Am liebsten hatte sie laut und hemmungslos gelacht. Ansteckend. Mit ihr war wieder Farbe in sein Leben gekommen. Für einige Zeit war sie zum Wichtigsten in seinem Denken geworden. Nun ging es nur noch darum, ihren Kadaver gut zu verbergen. Er konnte sich problemlos vorstellen, was seine Frau mit ihm anstellen würde, käme sie dahinter. Wie aufs Stichwort begannen die Narben auf seinem Rücken zu brennen und zu jucken.

Je tiefer er in den Wald eindrang, desto ruhiger und kühler wurde es. Schon bald fand er die Stelle, die er am Vortag ausgesucht hatte, zog den versteckten Spaten aus dem aufgeschütteten Reisighaufen und begann zu graben. Nach zwei Stunden sah er sich zufrieden um: Er würde vor dem Winter nicht noch einmal kommen müssen - niemand konnte hier ein Grab erahnen.

Und plötzlich spürte er ein unglaubliches Gefühl von Freiheit. Er breitete die Arme aus, atmete gierig die Waldluft tief in seine Lungen und wusste sofort, was das zu bedeuten hatte: Er war tatsächlich frei. Frei für die Nächste.

EINS

«ABER DAS IST DOCH nicht möglich!» Verzweifelt warf die blonde Frau beide Hände hoch in die Luft und ließ sie dann, als habe sie plötzlich alle Kraft verlassen, wieder in den Schoß fallen.

«Wir geben uns alle erdenkliche Mühe», versicherte Kommissar Fritz Ganter und wiegte seinen schweren Kopf bekümmert von einer Seite zur anderen. «Jeder Polizist draußen auf der Straße weiß inzwischen Bescheid. Alle halten Ausschau nach Trude. Wir haben mit ihren Freundinnen gesprochen, mit der Lehrerin, aber niemand konnte uns weiterhelfen.»

Fritz Ganter, untersetzt und von ausgesprochen unsportlichem Naturell, beobachtete betroffen, wie sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Natürlich konnte er, selbst Vater einer Tochter, ihren Kummer nachfühlen. Es war nicht leicht zu begreifen, wie ein blonder Engel auf dem Weg zur Schule verschwinden konnte, als sei er vom Erdboden verschluckt worden.

Er verstand es auch nicht.

Sein wie für die Ewigkeit gezogener Scheitel rötete sich leicht, und unter dem mit Pomade fixierten Kurzhaarschnitt bildete sich trotz der Kälte im Bureau ein Film feinster Schweißtröpfchen. Als Frau Winterstein vor wenigen Tagen angab, ihre Tochter sei von der Schule nicht nach Hause gekommen, hatte er sich nicht ausmalen können, wie sich dieser Fall entwickeln würde. Kein Problem, war sein erster Gedanke, bis zum Abend bringen wir die Kleine nach Hause zurück. Doch das Mädchen fand sich nicht wieder ein. Das wirklich Irritierende war aber, dass niemand das Kind gesehen hatte. Weder am Tag seines Verschwindens noch danach. Nicht einmal die neugierige und überaus schwatzhafte Frau Janker, die im Parterre direkt gegenüber der Schule wohnte und wirklich alles mitbekam, was in der Straße vor sich ging.

Es gab nur drei Möglichkeiten. Erstens: Das Kind war tot. Der weiße, zarte Körper lag irgendwo leblos mit einer blutroten Wunde quer über den Hals. Doch daran mochte Fritz Ganter gar nicht denken. Die andere Möglichkeit, so schien ihm, war auch nicht viel besser: Das schmächtige Kind in der Hand eines Wüstlings, der es in irgendeinem Keller gefangenhielt. Auch eine dritte Variante konnte er nicht ausschließen. Entgegen der Darstellung der Mutter war es möglich, dass es sich bei dem Mädchen um eines von der abenteuerlustigen Sorte handelte. Konnte es also sein, dass niemand sie gesehen hatte, weil sie das selbst so wollte? War der Augenstern der Mutter schlicht durchgebrannt?

«Sie können doch hier nicht so untätig rumsitzen, während irgendjemand meinen Liebling verschleppt hat! Von allein wird Trude kaum an Ihren Schreibtisch kommen. Suchen Sie mein Kind! Sie tun doch überhaupt nichts! Am Ende ist sie gestürzt und liegt irgendwo, hilflos!»

Fritz Ganter beschloss, stoische Ruhe zu bewahren. Natürlich hatten sie den Weg zur Schule abgesucht - großräumig. Unter jedem Busch und hinter jedem Baum suchten Polizisten und Freunde der Wintersteins, doch das Kind wurde nicht gefunden.

«Sie wissen, dass wir …» Weiter kam er nicht.

Rüde fiel ihm die Mutter ins Wort: «Dann tun Sie mehr! Trude ist ein wohlerzogenes Mädchen. Sie geht nicht mit Fremden mit. Sie bemühen sich gar nicht, meine Kleine zu finden!»

Ganter hielt für zehn Sekunden den Atem an - eine Methode, die sich bewährt hatte. Was wusste diese elegante Dame schon von Polizeiarbeit? Er musterte ihre verhärmten, sorgenvollen Züge, und plötzlich war sein Zorn verraucht. Sie tat ihm leid. Wenn er ihr erzählte, wo er schon überall nach der Kleinen gesucht hatte - die Augen würden ihr übergehen! Erst gestern eine Razzia im Puff von Madame Antoinette. Im Hinterzimmer hatten sie einige Dresdner Größen beim illegalen Glücksspiel ertappt, von Trude aber keine Spur gefunden.

 

«Frau Winterstein, ich verstehe Ihre Aufregung. Es ist natürlich schrecklich, wenn die kleine Tochter nicht nach Hause kommt. Sie können mir glauben, wir versuchen alles, um Trude zu finden.» Beinahe hätte er hinzugefügt: Und wenn wir jeden Stein umdrehen müssen. Es gelang ihm allerdings in letzter Sekunde, sich auf die Lippen zu beißen und den Fauxpas zu verhindern. Diese flapsige Redewendung wäre von der hysterischen Mutter womöglich so ausgelegt worden, dass die Polizei gar nicht mehr daran glaube, Trude lebend zu finden. Denn wer unter einem Stein liegt, ist in der Regel tot.

In die Augen der Mutter schlich sich ein bösartiger Ausdruck. Ganter, der ein sorgfältiger Beobachter war, bemerkte es sofort. Er ahnte, was nun unweigerlich kommen musste.

«Wenn die Suche nach meinem Liebling Sie derart überfordert, werde ich mit Ihrem Vorgesetzten reden, damit er Sie von dieser Aufgabe entbindet!», intonierte sie schrill.

Ganter wartete eine geschlagene Minute, bevor er freundlich erklärte: «Das hat Ihr Arbeitgeber bereits getan. Nach diesem Gespräch wurde ich von meinem Vorgesetzten ausdrücklich für meine bisher geleistete Arbeit in dem Fall gelobt. Niemand denkt daran, mich abzuziehen. Frau Winterstein, der Schmerz über das unerklärliche Verschwinden Ihrer Tochter verstellt Ihnen den Blick!»

Falls er erwartet hatte, sie sei nun entsprechend zerknirscht oder gar beschämt, sah er sich enttäuscht. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen offener Hass sprühte.

«Vor mir werden Sie erst wieder Ruhe haben, wenn Sie meine Trude gesund bei mir abgeliefert haben!», zischte sie bebend Und Ganter befürchtete, dass es genau so sein würde. Doch in dem Augenblick, als Frau Winterstein die Bureautür mit Schwung hinter sich zuknallte, hatte er eine Idee: Konrad! Der würde ihm sicher helfen.

ZWEI

DER UMSCHLAG in der Innentasche seines warmen Mantels knisterte leise bei jeder Bewegung. Immer wieder verirrten sich seine Finger an die Stelle über seinem Herzen, als könnten auch sie es nicht glauben: Konrad Benno Katzmann, Dresdenkorrespondent der Leipziger Volkszeitung. Und das mit 22 Jahren, so kurz nach Abschluss seines Studiums. Unfassbar! Ein eigenes Aufgabengebiet ganz in seiner Verantwortung. Gut, räumte er in Gedanken widerwillig ein, Leistner, der Redakteur, redete noch mit - aber sonst niemand.

Womit sollte er beginnen, vielleicht mit einer Artikelserie? Oder lieber mehrere Artikel über unterschiedliche Themen?

Hinter dem Fenster huschte im Tempo des Zuges die karge Winterlandschaft vorbei. Dürre Äste der Bäume reckten sich dunkel vor einem grauen Himmel. Er wusste, dass es kalt war, auch wenn er es hier im Abteil nicht so deutlich spürte. In Dresden würde ihn die Kälte beim Aussteigen anfallen wie ein wildes Tier.

Natürlich hatte er nicht vor, über das Wetter zu schreiben. Das konnte er getrost anderen überlassen, die nicht müde wurden, Parallelen zwischen dem Grau des Novembers und der politischen Entwicklung zu ziehen. Ihm schwebte etwas anderes vor: Er wollte Leipzigs und Dresdens Bürger gleichermaßen mitreißen und Optimismus verbreiten, die Menschen stärken für eine neue Politik in einer neuen Zeit!

Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen war, befand sich im Umbruch. Doch genau das sorgte auch für Angst und Besorgnis unter den Menschen, die im Moment nichts so sehr herbeisehnten wie den Frieden. Zwar sprach die Presse immer wieder davon, dass nun endlich ein friedliches Zeitalter beginne und dass eine neue soziale Gerechtigkeit bald allen Glück und Wohlstand bringe. Doch wenn die Menschen sich umschauten, dann sahen sie nur die große Arbeitslosigkeit und das Chaos nach der Abdankung des Kaisers. Wilde Spekulationen von mehr oder weniger Kundigen machten die Runde, jedes Gerücht sorgte für Unruhe. Demonstrationen waren an der Tagesordnung, und da allen die notwendige Erfahrung mit der neuen Regierungsform «Demokratie» fehlte, schürten sie bei den einen tiefste Sorgen und den anderen zu große Erwartungen. Im Grunde konnten die meisten sich eine Zeit ohne Kaiser und König gar nicht vorstellen.

Diese Verunsicherung war nichts Besonderes, die gab es in Dresden wie anderswo. Katzmann seufzte tief. Selbstverständlich wäre ein Artikel über die geplante Versammlung bei Sarrasani Pflicht. Doch fanden solche Kundgebungen so gut wie überall statt, wenn auch meist in Zelten und Hallen und nicht in solch prunkvollem Rahmen, wie ihn das Rundhaus des Zirkus in Dresden bot. Katzmann suchte nach einem außergewöhnlichen Thema für seinen Artikel.

Noch eine halbe Stunde bis Dresden. Katzmann freute sich auf das Gespräch mit seinen Eltern. Endlich konnte er ihnen beweisen, dass man als Reporter Karriere machen konnte. Sein Vater redete schon seit Wochen auf ihn ein, er solle gründlich die Konsequenzen seines Handelns und der getroffenen Entscheidungen bedenken, es sei nicht zu spät, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Aber was hieß das schon? Wilhelm Katzmann wetterte beharrlich gegen die Errichtung einer Republik und prophezeite Chaos und Verderben. War das auch die Stimme der Vernunft?

«Wohin soll das alles führen?», war die Phrase, die ohne Ausnahme in einen heftigen Disput zwischen Vater und Sohn mündete. Besonders wetterte der Vater gegen die Kommunisten, aber die Sozialdemokraten blieben auch nicht ungeschoren. Am schlimmsten jedoch war, dass Konrad nun ein Parteibuch hatte, eines der USPD. Daran kam man nicht vorbei, wenn der Arbeitgeber die Leipziger Volkszeitung war. Konrad hatte zunächst gezögert, wollte sich politisch nicht binden lassen, seine freie Meinung nicht aufgeben, sich nicht verbiegen müssen. Solange er nur freier Mitarbeiter war, kein Problem. Doch nun war es entschieden! Darüber kam Wilhelm Katzmann nicht hinweg, hüllte sich nicht selten in trotziges Schweigen, wenn sein Sohn zu Besuch kam.

Heute würde es anders sein! Wieder fingerte er im Mantel nach dem Arbeitsvertrag, lauschte glücklich auf das diskrete Rascheln des Papiers.

Träge rumpelte der Zug weiter. Das gleichförmige Ruckeln hatte eine derart beruhigende Wirkung auf Konrad Katzmann, dass er gegen eine zunehmende Schwere der Lider kaum mehr ankämpfen konnte. Bis morgen sollten die ersten Artikel fertig sein, grübelte er im Rhythmus der Räder.

Langsam nahm eine Idee konkrete Gestalt an. Warum nicht über Dresdens gesellschaftliches Leben in Zeiten der Spanischen Grippe schreiben? Natürlich wütete die Influenza auch anderswo, sie war kein singuläres Dresden-Ereignis. Was aber, wenn es keine Aufführungen mehr in der Semperoper geben konnte, weil die Sänger oder Musiker erkrankt waren? Oder wenn die Besucher ausblieben, aus Angst vor Ansteckung? Das wäre dann schon etwas Besonderes. Die Semperoper war weltweit bekannt!

Fielen die Vorstellungen eventuell auch bereits unter das Verbot von Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen? Gleich auf dem Heimweg könnte er die ersten Nachforschungen anstellen.

Seine Gedanken zogen weiter zu Martina. Sie war vielleicht die schönste Frau, die ihm je im Leben begegnet war. Bedauerlicherweise hatte sie kaum Notiz von ihm genommen, als sie sich nach der Arie tief verbeugt hatte.

Katzmann war darüber fast gekränkt, gelang es ihm doch sonst mühelos, die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts nicht nur zu wecken, sondern zu fesseln. Er wusste, dass er gut aussah, seine markanten Züge, die dichten Haare, die er asymmetrisch gescheitelt trug, weil er schon vor Jahren erkannt hatte, dass der Mittelscheitel den meisten Männern nicht stand, sie dumm und dröge wirken ließ. Und dann natürlich seine Augen. Die ungewöhnliche Farbe faszinierte seine Gesprächspartner, egal ob sie nun männlich oder weiblich waren. Eisvogelblau. Wenn das Licht in günstigem Winkel einfiel, funkelten goldene Blitze darin. Aber Martina hatte das alles offensichtlich nicht bemerkt.

Dresden, Bahnhof Neustadt. Endlich! Von nun an musste er, der nicht gern Bahn fuhr, die Strecke Dresden—Leipzig—Dresden zum Glück seltener zurücklegen. Sein Arbeitsschwerpunkt lag nun hier. Da blieb mehr Zeit für seine Artikel.

Hastig raffte Katzmann seine Habseligkeiten zusammen, zerrte den Schal fester um den Hals und stopfte die langen Enden vor der Brust fest. Er setzte den Hut auf, rückte ihn zurecht. Sollte es regnen oder gar schneien, würde der ihn wenigstens vor Nässe schützen. Ein Lob auf den Erfinder in Guben, Carl Gottlob Wilke! Ihm verdankte die Welt den wetterfesten Filzhut. Katzmann fuhr in die Handschuhe, die er sich vor ein paar Tagen geleistet hatte. Wenn er seine Eltern besuchte, würde er sie in die Manteltasche schieben, nach Auffassung seines Vaters brauchten wahre Männer so etwas nicht. Handschuhe seien ein Indiz für den Verfall der Tugenden in der Gesellschaft. Schließlich müsse der Soldat an der Front auch mit kalten Händen die Heimat verteidigen können!

Mit einem Schaudern erinnerte er sich an das Abhärtetraining, das sein Vater in jedem Jahr zu Beginn des Winters mit ihm durchführte. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ihm alle Finger, Zehen, Ohren und die Nasenspitze erhalten geblieben waren. Nur eine großflächige Erfrierung an delikater Stelle hatte er davongetragen, als er über mehrere Stunden mit unbekleidetem Unterleib im Schnee sitzen musste.

Wie erwartet empfing ihn ein eisiger Wind, dem es mühelos gelang, die Mäntel, Röcke und Hosenbeine der Passanten zu durchdringen. Ein feiner Schleier aus Wassertröpfchen legte sich über Katzmanns Brillengläser und raubte ihm die Sicht. Murrend klemmte er sein Gepäck zwischen die Beine und fischte ungeschickt sein Reinigungstuch aus der Manteltasche.

Ärgerlich - immer diese jahreszeitlich bedingte Blindheit, die den Brillenträger völlig außer Gefecht setzt! Gründlich wischte er die Feuchtigkeit ab, blies seinen warmen Atem über die Sehhilfe, rieb erneut. Dann schob er die Bügel über die Ohren und drückte seine Mappe enger an den Körper. Er griff nach seinem kleinen Lederkoffer und machte sich auf den Weg.

Zu seiner Überraschung war in den Straßen ein dichtes Gedränge. Männer und Frauen eilten, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, den Bürgersteig entlang, andere standen in kleinen Gruppen diskutierend in Hauseingängen zusammen.

Und doch hatte sich seine Stadt stetig verändert. Das Lachen war aus Dresden verschwunden, als stünde es unter Strafe. Längst hatte sich das Novembergrau in den Herzen und im Denken der Menschen eingenistet. Besorgt registrierte er die vielen Kranken, die sich hustend und schniefend unter den anderen bewegten. An den Ecken entdeckte er einige Bettler, einer hockte der Kälte zum Trotz auf dem eisigen Boden, den Blick leer wie die Dose zu seinen Füßen. Katzmann kramte in seiner Manteltasche und fand eine Reichsmark. Scheppernd fiel sie in das Gefäß, und der Mann bedankte sich leise. Doch das hörte der junge Reporter schon nicht mehr.

Er musterte die Menschen. Bildete er sich das ein, oder waren es tatsächlich mehr Soldaten, die hier entlanggingen? Heimkehrer, die ziellos durch die Straßen streunten, weil In-Bewegung-Sein noch immer besser war als still in einer Ecke zu stehen, der gnadenlosen Kälte schutzlos preisgegeben. Katzmann wusste, dass man in einigen Schulen Notunterkünfte eingerichtet hatte, damit die heimgekehrten Kämpfer erst einmal eine Anlaufstelle und ein Dach über dem Kopf fanden.

Graue Gesichter in grauen Mänteln, die in einer grauen Stadt unterwegs waren. Deprimierend.

Ein Zeitungsjunge brüllte über die Straße: «Extrablatt! Extrablatt! Schon wieder Opfer der Grippewelle zu beklagen. Prominenter unter den Toten! Extrablatt! Extrablatt! Maler Egon Schiele an Grippe gestorben! Meuterei der deutschen Seekriegsflotte in Wilhelmshaven! Extrablatt! Extrablatt!»

Kunden bestürmten den Jungen, rissen ihm die dünne Ausgabe förmlich aus den Händen.

Katzmann beschloss, am Alberttheater vorbeizugehen. So konnte er gleich feststellen, ob Vorstellungen wegen der Erkrankungswelle abgesetzt worden waren.

Der Albertplatz war rund angelegt, und sternfömig trafen an dieser Stelle zwölf Straßen zusammen. Das Alberttheater war hier nicht der einzige Prunkbau. Gegenüber lag die Villa Eschebach, die Dresdenbesuchern gern gezeigt wurde. Das auf einem quadratischen Grundriss errichtete Gebäude verfügte über einen eindrucksvollen Segmentbogen, der zwei Putten zeigte, die eine Kartusche mit den Initialen Eschebachs hielten. Konrad gefielen allerdings die Brunnen auf diesem Platz am besten. Ganz besonders die «Stürmischen Wogen». Hier sah man kämpfende Tritonen über dem runden Steinbecken. Ihre durchtrainierten Körper faszinierten ihn. Solche Muskeln bekommt man als Journalist eher nicht, dachte er ein wenig neidisch nach einem letzten Blick die Hauptstraße hinunter und setzte seinen Weg über die Georgenstraße fort.

 

Schnell hatte er das Haus in der Wolfsgasse erreicht, das sein Großvater ihm vor wenigen Jahren vererbt hatte, stellte sein Gepäck ab und machte auf dem Absatz kehrt. Er würde sofort zu seinen Eltern gehen. Die Melanchthon Straße war schließlich nur ein paar Minuten entfernt. Er schmunzelte amüsiert über sich selbst. Da bemühe ich mich um Unabhängigkeit, doch kaum bekomme ich einen neuen Vertrag, schon habe ich nichts Eiligeres zu tun, als ihn den Eltern zu zeigen! Der Sohn möchte noch immer gelobt werden, es ist doch nicht zu glauben, kicherte er in sich hinein, als er vor der Tür des Elternhauses stand, einem großen, hellen Gebäude mit drei Etagen, das der Vater gekauft hatte, als er nach Großvaters Tod die Leitung der Tabakwarenfabrik übernommen hatte. Es ist wie früher mit dem Zeugnis: Du buhlst noch immer um ihre Anerkennung. Konrad, Konrad, vielleicht solltest du üben, erwachsen zu sein!

«Konrad, herzlichen Glückwunsch!», jubelte die Mutter und schloss ihren Sohn fest in die Arme, während der Vater den Arbeitsvertrag gründlich studierte, um darin verborgene Fallstricke zu entdecken.

«Dresdenkorrespondent - was für ein Wort! Ich bin ja so stolz auf dich!»

«Der Leipziger Volkszeitung », setzte sein Vater bitter hinzu.

«Wenigstens muss ich sie nicht auch noch lesen!»

«Ach Wilhelm, nun gib schon zu, dass du dich freust!» Der Vater schwieg.

«Aber Konrad, nun wirst du doch sicher daran denken, endlich eine Familie zu gründen?», schaffte Frau Katzmann mühelos die Überleitung zu ihrem Lieblingsthema. «Sieh mal, es ist ja nicht so, dass du eine Frau nicht gut ernähren könntest - natürlich mal abgesehen von diesen lästigen Versorgungsengpässen dieser Tage. Das wird nicht ewig so bleiben.»

«Mir ist die Richtige noch nicht begegnet», behauptete der Sohn.

«Es ist nicht gut für einen Mann, wenn er allein lebt! Das entspricht nicht seiner Natur und führt nicht selten dazu, dass sich Krankheiten einstellen», mahnte die Mutter halsstarrig.

«Syphilis?»

«Konrad!», donnerte die Stimme Wilhelms durch den Raum.

«Nicht in meinem Haus, und nicht gegenüber deiner Mutter!»

«Also wirklich! Müsst ihr denn immerzu in diesem Ton miteinander umgehen? Ich glaube, das Beste wird sein, ich sorge für eine gute Tasse echten Kaffee und ein bisschen Gebäck.» Damit erhob sich die ungewöhnlich große Frau, ordnete ihren seidigschimmernden Rock und stolzierte erhobenen Hauptes zur Tür hinaus.

Wilhelm Katzmann hievte seinen schweren Körper aus dem Plüsch des Sessels und trat hinter seinen Sohn.

«Deine Mutter macht sich ernsthaft Sorgen um dich. Es ist nicht richtig, ihre Ängste ins Lächerliche zu ziehen! Du weißt sehr genau, dass sie es gern ordentlich hat. Und bei dir sieht sie das Fehlen einer weiblichen Hand. Schau dir nur deine Schuhe an! Lotte würde ihren Johannes niemals mit so verschmutzten Schuhen aus dem Haus gehen lassen. Auch die Kinder, immer akkurat. Deine Hose ist ungebügelt, die Schuhe und dein Sakko schmutzig - und die Krawatte passt nicht zum Hemd!»

Konrad schluckte lange an seinem Ärger. Er legte großen Wert darauf, modisch gekleidet zu sein, wusste genau, dass seine Kombinationen exklusiv waren, aber eben nicht dem konservativen Geschmack des Vaters entsprachen. Der war eher von Lottes Mann begeistert, einem Streber, Langweiler, Besserwisser und Petzer, den Konrad schon zu Schulzeiten nicht hatte ausstehen können. Was seine Schwester an ihm fand, war ihm unbegreiflich.

Unerwartet spürte er die Hand seines Vaters, der kein Freund körperlicher Nähe war, auf seiner Schulter. «Komm mit!», forderte Wilhelm Katzmann flüsternd.

Sanfter Druck schob den frischgebackenen Dresdenkorrespondenten aus dem Sessel, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Schweigend überquerten sie den Hof, erreichten die Garage. «Mach mal das Tor auf!»

Dort, in der Mitte des Raumes, stand ein seltsam buckliges Ding, verborgen unter einer großen grauen Plane. Überall schien es Beulen zu haben, größere und kleine. An der höchsten Stelle, etwa siebzig Zentimeter vom Boden, zeichneten sich Hörner ab.

«Na, möchtest du nicht nachsehen?», fragte der Vater ungeduldig.

In respektvollem Abstand umschlich der junge Mann das suspekte Objekt, betastete die Plane.

«Deine Mutter und ich haben ehrlich gesagt schon länger mit deinem beruflichen Fortkommen gerechnet. Eigentlich hatte ich gehofft, man würde dir bei einer seriösen Zeitung einen Posten als verantwortlicher Redakteur anbieten, vielleicht für Politik. Aber nun ist es eben, wie es ist. Ausgerechnet bei diesem linken Revolverblatt - daran ist wohl im Moment nichts zu ändern, aber es ist und bleibt enttäuschend. Nun, von alldem einmal abgesehen, dachten wir, es könne nicht schaden, deine Mobilität zu verbessern. Man hat mir versichert, es sei zuverlässig und nützlich.»

Konrad hörte die verletzenden Worte seines Vaters kaum. Nur bei dem Wort «nützlich» zuckte er kurz zusammen. Unter der Plane war demnach nichts zu erwarten, was ihm Freude machte, sondern ihm von Nutzen war. Typisch! So war sein Vater schon immer gewesen.

«Gerade nach den schweren Zugunglücken in letzter Zeit ist deine Mutter stets in großer Sorge um deine Gesundheit. Vor sechs Wochen erst, direkt in Neustadt, gab es wieder einen schrecklichen Unfall. Der D 13 Leipzig—Dresden war auch darin verwickelt. Wie entsetzlich, von 18 Toten und 118 Verletzten lesen zu müssen! Da ist es nur ein geringer Trost, dass man die Verantwortlichen sicher zur Rechenschaft ziehen wird. Eine Farbuntüchtigkeit! Unglaublich, dass das niemandem aufgefallen war! Deine Mutter behauptet, man habe die Erschütterung bis hierher spüren können, wie ein Erdbeben. Und erst der Lärm! Letzte Nacht gab es schon wieder ein Unglück, in Briesen. Ein Auffahrunfall mit 19 Toten und etwa 50 Verletzten! Deine Mutter ist davon überzeugt, dass Zugfahren sehr gefährlich für ihren einzigen Sohn ist.»

Das war ein ungewöhnlich langer Bericht. Wilhelm Katzmann empfand eine heimliche Faszination für die Eisenbahn. Unglücke trafen ihn daher besonders.

Konrad hörte nur mit einem Ohr zu. War es möglich? Dieser Geruch nach Öl und Gummi nährte die irrsinnige Hoffnung, unter dieser Abdeckung könne sich die Erfüllung seines Traumes verbergen.

Mit einem Mal rumpelte sein Herz aufgeregt gegen die Rippen. Das konnte nicht sein! Oder doch?

Konrad ging in die Hocke und hob langsam die Plane an. Reifen! Ihm stockte der Atem. Langsam zog er die Abdeckung herunter.

«Eine NSU 1000!», keuchte er dann. «Mit Beiwagen! Selbst zusammengeschweißt - da hat jemand viel Arbeit und Zeit investiert.»

Auf den ersten Blick verliebt, strich er sanft mit dem Zeigefinger über die Lampe. «Mein Gott, Vater! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»

«Ein einfaches Danke würde sicher genügen. Und vielleicht richtest du es an deine Mutter. Es war ihre Idee.»

«Danke!»

«Sie ist gebraucht, wie du siehst. Es gibt im Moment nicht viele Menschen, die privat solch ein Ding besitzen. Aber man versicherte uns, mit ein bisschen Geschick sei die Reparatur kein Problem.»

Konrad Katzmanns Augen wanderten prüfend über das Wunder. Sicher, ein paar Lackschäden hier und da, aber nicht eine kleine Beule.

«Diese Maschine hat etwas mit dir gemein: Auch sie konnte sich erfolgreich vor dem Dienst an der Front drücken. Asthma hat sie zwar keines, aber der Besitzer hatte sie bei Freunden in der Scheune versteckt.»

Konrad tat so, als habe er diesen boshaften Kommentar nicht gehört. «Ich habe zwar auch ein bisschen Ahnung, aber es ist besser, wenn Klaus sich den Motor ansieht. Der kennt sich mit so was aus», sagte er und versuchte, das Motorrad zu starten. Husten, Qualm, sonst nichts.

Nach dem Kaffee verabschiedete er sich eilig. Er würde noch heute bei Klaus vorbeigehen und ihn fragen, ob er sich die NSU ansehen könne. Beschwingt lief er mit raumgreifenden Schritten in Richtung Elbufer.

Die Augustusbrücke lag am günstigsten. Klaus, der seine Eltern früh verloren hatte, wohnte mit seinen Großeltern in der Adlergasse am Wettiner Bahnhof. Rührend kümmerte er sich um die beiden alten Leute, die ihn damals ohne Zögern aufgenommen, ihn erzogen und für eine gute Ausbildung gesorgt hatten. Ohne sie, das war dem jungen Mechaniker sehr bewusst, hätte er im Leben nicht Fuß fassen können. Klaus liebte Motoren, konnte beinahe alles reparieren. Seine kleine Werkstatt in Übigau war ein echter Geheimtipp.

Ein klebriger dunkler Nebel kroch schon die Auen hoch, Katzmann konnte die anderen Passanten nur noch schemenhaft erkennen. Nicht einmal mehr das Relief am Altstädter Landpfeiler, das angeblich den Baumeister der ersten steinernen Elbbrücke in Dresden, Mathaeus Focius, abbildete, war zu sehen. Es zeigte einen Mann in seltsam verkrampfter Haltung, und böse Zungen behaupteten hartnäckig, es sei entstanden, um daran zu erinnern, wie sehr der Baumeister vom Durchfall geplagt wurde, als er erkannte, er habe die Eisbrecher stromabwärts statt stromaufwärts angebracht. Aber das war natürlich nur ein Gerücht. Doch lustvoll wurde es von einer Generation zur nächsten weitergegeben.