Katzmann und das verschwundene Kind

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«Wenn du es so sehen willst. Ansonsten ist die Begleitung ein Freundschaftsdienst.»

Auch Konrad spähte jetzt in die finstere Gasse. Doch es war nichts mehr zu hören. «Glaubst du, es könnte etwas mit Politik zu tun haben?», fragte er dann.

«Ja. Für mich sah es aus wie eine Gruppe Spartakisten.»

«Ich meine das Verschwinden des Kindes, Fritz! Wollte sich jemand rächen? Immerhin arbeitete der Vater in der Rüstungsindustrie, war also bei den Kriegsbefürwortern - und es gibt mehr als genug, die schon lange Frieden fordern.»

Perplex starrte Fritz Ganter seinen Freund an. «Mann! Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen!»

VIER

Drahtmitteilung von unserem Dresdenkorrespondenten Konrad Katzmann vom 2. November 1918, exklusiv für die Leipziger Volkszeitung:

Misstrauen gefährdet Zusammenleben

Wenige Tage vor der geplanten Versammlung im Zirkus Sarrasani scheint in Dresden jeder jedem zu misstrauen. Vielleicht traut sich der eine oder andere selbst nicht mehr über den Weg. Die wichtigste Frage dieser Tage ist nicht länger die nach Gesundheit, Familie oder - besonders da, wo der Ernährer fehlt - nach der Überlebensstrategie. Offensichtlich ist die politische Zugehörigkeit das, was zählt. Für manch einen abendlich herumstreunenden Familienvater führt die Antwort nicht selten direkt ins Krankenhaus. Doch eines sollten sich alle merken, egal ob Kommunisten, Sozialisten, Kaisertreue, Liberale: Politische Überzeugungen ändert man nur durch gute Argumente und niemals durch Prügel. Unter der Knute wird nur scheinheilig gekuscht, Schläger erreichen nichts als Heuchelei und Verlogenheit.

HARRY war ausgeschlafen. Das späte Abendessen hatte sich in ein kleines stinkendes Häufchen in der Ecke des Wohnzimmers verwandelt, und nun rührte sich erneut der Hunger. Und er war bereit für ein Abenteuer! Harry beschloss, seinen Gastgeber zu wecken.

Das Problem bestand einzig und allein in der Tatsache, dass eine reibungslose Kommunikation mit seinem neuen Menschen nicht möglich schien. Leises Fiepen, zaghaftes Jaulen, beherztes Ziehen an der Bettdecke - nichts von alldem hatte bisher zum Erfolg geführt. Harry begann mutig zu knurren.

Unerwartet fiel ein Arm aus der Bettdecke. Geduckt pirschte sich der Welpe an. Stupste mit der feuchten Nase dagegen, nahm den dicksten Finger vorsichtig zwischen die Zähne - und versuchte durch einen gewagten Spurt mit der Beute unters Bett zu sausen.

Der Erfolg dieser Aktion war im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend: Fluchend stürzte Konrad aus dem Bett.

Vom Turm der Frauenkirche schlug es sechs.

«Spinnst du?», fuhr er den Hund an, der es nicht ganz bis unters Bett geschafft hatte. Sorgfältig untersuchte er seinen linken Daumen. Nur ein paar harmlose Kratzer. «Da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Mit deinen Milchzähnen konntest du noch keinen großen Schaden anrichten.» Konrad ließ sich schwer auf die Matratze zurückfallen.

Dreißig Sekunden später sprang er wieder auf.

«Was stinkt hier so?» Die Frage hatte einen eindeutig drohenden Unterton, und Harry wollte unsichtbar werden.

«Sieht so aus, als sollte ich Katja schnell suchen. Das mit uns beiden klappt nicht», schimpfte Konrad wütend, während er die Bescherung beseitigte.

Wenig später saß er frisch gewaschen und angezogen am Tisch und frühstückte. Genussvoll bestrich er sein Brot mit Marmelade, Harry bekam ein Rührei.

«Friss das mit Verstand! Eier sind verdammt teuer. Nun gut, dann fängt der Tag heute eben früher an, Harry. Aber das muss nicht zur Regel werden, hörst du?» Der Bohnenkaffee duftete, und Konrad ließ sich Zeit für die erste Tasse. Seine Mutter hatte ihm bei seinem letzten Besuch zwei Dosen zugesteckt, wohl als Trost gegen die bösen Worte des Vaters. Er würde etwas davon abfüllen und Frau Ludwig vor die Tür stellen. Für die Kinder konnte er sicher irgendwo Schokolade auftreiben.

Was sollte er mit Harry machen? Allein in der Wohnung konnte der Hund nicht bleiben, das stand fest. Wer wusste schon, was für einen Blödsinn er anstellen würde, wenn ihn die Abenteuerlust packte! Halsband, Brustgurt und Leine konnte er selbst basteln, aber wahrscheinlich war der Kleine noch kein geübter Fußgänger. «Für dich brauchen wir ein mobiles Sofa», erklärte er dem aufmerksam zuhörenden Hund.

Wo hatte er nur diesen Rucksack gelassen, den ihm ein Freund geschenkt hatte? Im Schrank? Nein, da war er nicht.

Harry half aufgeregt bei der Suche. Steckte seine Nase bald hier, bald dort hinein und wedelte dabei unablässig mit seinem kurzen Schwanz.

«Da ist er ja. Sieh mal! Denkst du, das könnte dir gefallen?» Katzmann erlaubte dem Hund, ausgiebig am Stoff zu schnuppern, öffnete dann den Tunnelzug und beobachtete belustigt, wie der Welpe vorsichtig hineinkroch.

«Na, du schnupperst ja mit dem ganzen Körper!», lachte Katzmann amüsiert und überlegte fieberhaft, wie er Katja finden konnte, um ihr den Hund zurückzugeben. Vielleicht wäre es am besten, zur Brücke zurückzugehen und dann dieselbe Richtung einzuschlagen, die Katjas Tanten gestern gewählt hatten, als sie ihn zurückließen.

«So machen wir das», teilte er dem überraschten Harry mit und legte ihm ein provisorisches Halsband an.

Gegen acht Uhr waren die beiden schon unterwegs. Der Hund war offensichtlich froh, sich die Beine vertreten zu können, und jagte neben Konrad her, wickelte ihm die Leine um die Beine und blieb ständig stehen, um ausgewählte Stellen intensiv zu beschnuppern. Katzmann wartete darauf, dass Harry müde wurde und bereitwillig in den Rucksack kriechen würde.

«Um diese Zeit sind Linda und Lili bestimmt noch unterwegs. Mit ein bisschen Glück treffen wir eine der beiden, dann können wir gleich mit den Ermittlungen für Fritz beginnen. Und meine eigene kleine Frage klären - wegen Martina», gestand er dem Vierbeiner in verschwörerischem Ton. «Ich kenne weder ihren Nachnamen noch die Adresse, unter der ich sie erreichen kann. Dresden ist ziemlich groß. Womöglich treffe ich sie nie wieder.»

Als der Hund nicht mehr toben wollte, setzte Katzmann ihn in den Rucksack und ließ die Überschlaglasche offen, so konnte der Welpe rausgucken, falls er später Lust dazu bekäme.

Drei Ecken weiter entdeckte er eine bekannte Silhouette vor sich. Sie schwankte beim Gehen deutlich hin und her, wie bei starkem Seegang, was bestimmt nicht nur an den hohen Absätzen lag. Wohlgefällig ruhten Katzmanns Augen auf ihrem schwingenden Becken. Da hatte Anton wirklich einen guten Fang gemacht, dachte er anerkennend.

«Linda!»

Die große, wohlgeformte Frau blieb stehen. Sie drehte sich aber nicht um, als habe sie Angst vor dem, was sie dort sehen könnte.

«Linda, ich bin’s, Konrad! Wie schön, dich zu treffen.»

Mit einem Seufzer der Erleichterung drehte die blonde Frau sich um, und nun erkannte er den Grund für ihr vorheriges Zögern.

«Alle Achtung! Das nenn ich mal ein Veilchen!», entfuhr es dem Reporter, und Linda zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen.

«Anton», entgegnete sie nur, als sei das Erklärung genug.

«Dachte ich mir. Kann ich dich ein Stück begleiten?»

«Klar. Du kennst das Risiko. Wie leicht man zusammengeschlagen werden kann, weißt du selbst. Kunden behandelt Anton natürlich wesentlich zuvorkommender.»

Bis zur übernächsten Querstraße dauerte es, bis Linda ihre Veilchengeschichte erzählt hatte.

«Und bei dir? Gibt’s was Neues?», erkundigte sie sich endlich.

«So weit, so gut. Ich bin jetzt Dresdenkorrespondent. Das bedeutet, ich wurde befördert.»

«Gratuliere, mein Freund!»

«Danke. Du, Linda, ich habe da neulich eine Frau getroffen …», begann er umständlich.

«Aha.»

«Getroffen ist vielleicht ein zu großes Wort dafür. Gesehen und gehört, das trifft es viel besser: Sie ist Sopranistin. Vor ein paar Tagen ging sie zufällig die Straße vor mir entlang. Rassig, dunkle Haare, Hochsteckfrisur, dunkle Augen, olivfarbener Teint. Sie hat mit dir gesprochen.» Erwartungsvoll sah er Linda an.

«Und nun soll ich dir verraten, wer das war?»

«Ja, das wäre wirklich nett von dir. Ich habe den Nachnamen nicht mitbekommen.»

«Ach, Konrad. Das hieße doch, ihre Seele an einen Seelenfresser zu verkaufen!», stöhnte Linda theatralisch auf.

«Linda, wie kannst du so etwas über mich sagen? Niemand hat Grund sich zu beschweren!»

«Ernst meinst du es doch mit keiner!», gab sie patzig zurück. In dem verschwollenen violetten Auge glaubte Katzmann für einen Augenblick, etwas Weißes aufblitzen zu sehen. Er schauderte.

«Du wickelst sie nur um den Finger!» Konrad lachte. Warm und sympathisch.

«Hör auf damit», herrschte sie ihn an. «Du siehst so verdammt gut aus - und wenn du lachst, kann dir keine mehr widerstehen!»

«Ich liebe die Frauen! Nur dieser Brauch, sich für eine entscheiden und sie heiraten zu müssen, behagt mir nicht. Außerdem will keine Frau mit einem unsteten Reporter verheiratet sein.»

«Das genau ist dein Trick, Konrad, nicht wahr? Weil dir keine böse sein kann, jedenfalls nicht länger als 24 Stunden, hast du leichtes Spiel mit unseren Herzen.» Linda strich ihm wehmütig mit eiskalten Fingern über die Wange.

Er registrierte erschrocken die dünnen Strumpfhosen und die aufreizende Kleidung, die nicht zum Warmhalten gedacht war. Jetzt bemerkte er auch, wie stark sie zitterte. Konnte sie auf so kurzer Strecke derart ausgekühlt sein?

«Sind euch die Kohlen ausgegangen, oder gibt es andere Gründe dafür, dass Anton euch nicht anständig einheizt?», erkundigte er sich besorgt.

«Lass gut sein, Konrad. Das muss ich ganz allein mit Anton klären.» Sie setzte sich wieder in Bewegung. Schwankte womöglich noch deutlicher als zuvor.

 

«Warte mal, Linda!» Katzmann zerrte sein Notizbuch hervor und notierte ein paar Worte, riss dann die Seite heraus und drückte sie Linda in die Hand. «Hier, das ist die Adresse von Felix Grump. Der Mann ist in Ordnung, er spricht nicht viel, das ist so seine Art. Er wird dir Kohlen geben. Beruf dich auf mich - Konni. Sag ihm, Konni kommt in den nächsten Tagen vorbei.»

Zögern schob Linda den Zettel in ihre Handtasche.

«Du brauchst keine Sorge zu haben, Felix mag keine Frauen. Der interessiert sich nur für seine Haustiere.»

«Martina Leewenkron. So heißt sie. Aber ich warne dich, sie ist vergeben. Verlobt mit Heinz Kleinmann. Die Kleinmanns haben ein Gut in Richtung Radebeul. Handle dir bloß keinen Ärger ein!»

«Danke. Ich werde vorsichtig sein.» Katzmann nickte ihr zu und fragte dann, während er in Gedanken schon ein nächstes zufälliges Zusammentreffen mit Martina plante: «Sag mal Linda, ist dir was darüber zu Ohren gekommen, dass Anton und seine Freunde kleine Mädchen für spezielle Kunden anbieten?»

Linda kam aus dem staksigen Rhythmus, knickte mit dem linken Knöchel um und geriet ins Straucheln.

«Wie jung?» Das klang giftig.

Konrad war überrascht über diese Reaktion. Linda war keine von denen, die sich leicht aus der Ruhe bringen ließen.

«Etwa zehn Jahre alt.»

Linda atmete hörbar auf. «Ich befürchtete schon, Anton dächte daran, sich neues, jüngeres Personal zuzulegen. Frischeres Blut. So ganz knackig bin ich auch nicht mehr.» Ihr unversehrtes Auge forschte nervös in seinem Gesicht.

«Keine Sorge», wiegelte Katzmann ab. «Ich frage nicht, weil ich so etwas gehört hätte, sondern weil ich ein zehnjähriges Mädchen suche.»

«Konni! Erst willst du von mir den Namen der Leewenkron, und nun stellt sich raus, du bist auf der Jagd nach etwas ganz anderem. Nach zehnjährigen Mädchen! Also wirklich, das hätte ich von dir nicht gedacht!» Damit drehte sie sich um und stöckelte los, so schnell das in ihrer Verfassung möglich war.

«Du verstehst das völlig falsch!», rief er ihr nach, als sie schon um die nächste Ecke klapperte, Empörung in jedem Schritt. Das Missverständnis musste er schleunigst ausräumen, bevor es sich als Gerücht über ganz Dresden verbreitete. «Warte! He, warte! Nun bleib doch stehen!»

Widerstrebend tat Linda ihm den Gefallen. Ihre angespannte Rückenpartie signalisierte höchste Abscheu.

«Nun dreh dich schon zu mir um. Du hast mich nicht ausreden lassen. Eine Familie vermisst ihre Tochter. Ich versuche nur, die Leute zu befragen, die der Polizei nie eine Antwort geben. Wie du zum Beispiel», versicherte Katzmann etwas atemlos.

«Ist das so?», fragte Linda spitz, drehte sich aber zu ihm um.

«Sieh mich ruhig an. Du weißt doch ganz genau, dass ich nicht pervers veranlagt bin!»

«Bei Männern kann man sich da nie sicher sein!» Ihr nicht geschwollenes Lid flackerte heftig.

«Eine Mutter sucht verzweifelt nach ihrer Tochter. Das einzige, was mich interessiert, ist: Muss ich das Mädchen bei Anton und seinen Freunden suchen?»

«Konni! Bei Anton gibt es so was nicht! Prostitution ist ein anstrengendes Gewerbe. Anton weiß das, er beschäftigt nur belastbare Frauen. Mag aber sein, dass es schwarze Schafe in der Branche gibt, wie in jedem Beruf. Kleine Mädchen!» Sie schüttelte sich angewidert. Dann senkte sie die Stimme und griff wie haltsuchend nach Katzmanns Arm. «Ganz ehrlich, Konrad. Wenn die Kleine da reingeraten ist, lebt sie jetzt in der Hölle! Diese Kerle sind skrupellos. Und dabei geht es um sehr, sehr viel Geld. Man munkelt, es gibt mehr und mehr Kunden für so was.»

«Das ist doch sicher nur was für Reiche?»

«Ganz bestimmt. Und es ist geheimer als geheim.»

Katzmann nickte bedächtig. Das bedeutete, auch Linda würde ihm nicht mehr darüber verraten. Es war schon leichtsinnig genug von ihr, so viel gesagt zu haben. Die Regeln in ihrem Gewerbe waren hart. Sie wollte sicher nichts riskieren.

«Komm doch gelegentlich mal wieder ins ‹Pauls›», lud Linda ihn beim Abschied ein. «Da trifft man in letzter Zeit auch immer mehr Kunden mit Sonderwünschen.»

Hatte sie damit recht? Wurden es mehr? Oder trauten sie sich öfter, darüber zu sprechen? Dieses Thema konnte er vielleicht in einem seiner nächsten Artikel aufgreifen.

Schmunzelnd erinnerte er sich an ein Gespräch, dass er vor einigen Wochen in einem Kaffeehaus belauscht hatte: Zwei gesetzte Herren in feinstem Zwirn hatten sich gegenübergesessen und waren in einen heftigen Disput geraten. Der eine hatte pausenlos auf den anderen eingeredet, bemüht, ihm die Tragweite seiner Thesen begreiflich zu machen, während der dickere der beiden immer nur beschwichtigend «Aber nicht doch, mein lieber Dr. Freud!» oder «Aber ich bitte Sie, lieber Freund!» ausgerufen hatte. Interessant war das Thema dieses Gesprächs gewesen. Die beiden hatten darüber gesprochen, ob von den unzähligen Kriegsheimkehrern eine ernsthafte Gefahr für die Bewohner größerer Städte ausgehen könne. Diese Soldaten hatten in den letzten Jahren Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung kennengelernt und teilweise erfolgreich praktiziert. War deshalb davon auszugehen, dass sie zu diesem Mittel auch in ihrem privaten Umfeld greifen würden? Und sie hatten über die Schäden geredet, die der Krieg und all die Entbehrungen in den Hirnen der Soldaten hinterlassen hatten: eine Dystrophie. Konnte man das Zittern und Schütteln, von dem viele Heimkehrer betroffen waren, als Kriegsleiden anerkennen oder nicht? Musste eine Dystrophie nachweisbar sein?

Mit ein bisschen Geschick konnte er die beiden Themen zu einem Artikel verbinden, dachte Katzmann und setzte den Rucksack ab. «Na, ich denke, du läufst ein paar Schritte. Meinst du, das Mädchen ist noch am Leben?»

Die Antwort auf diese Frage schien Harry nicht zu interessieren. Er biss in die Leine und rollte sich über die Bürgersteigkante bis auf die Straße.

«Wir sollten das Motorrad holen und zu Klaus bringen. Je eher es dort ist, desto schneller ist es repariert. Danach versuchen wir, deine Retterin ausfindig zu machen.»

Es stellte sich nach wenigen Versuchen heraus, dass Harry nicht nur keinerlei Erfahrungen damit hatte, an der Leine zu gehen, sondern auch nicht auf eines der gängigen Hundekommandos hörte.

«Mein lieber Freund! Da ist noch einiges an Arbeit bei dir zu leisten!», lachte Katzmann und machte sich daran, Hund und Leine zu entwirren.

Als ihn eine schnarrende Stimme von hinten ansprach, fuhr er erschrocken hoch.

«Sie will dich sehen!», wiederholte die Frau zischend wie eine gereizte Schlange.

«Wer?», fragte Katzmann begriffsstutzig.

«Katja!»

Neugierig musterte der Reporter die sonderbare Frau. Das blasse Gesicht war zwischen Schals und Tüchern weitgehend verschwunden, nur zwei Augen, die so dunkel wie Kohlestücke waren, brannten sich in seine.

«Wie haben Sie mich gefunden?»

«Wir kennen uns aus», lautete die kryptische Erwiderung, und er beschloss, nicht weiter zu fragen.

«Warum ist Katja nicht selbst gekommen?»

«Sie ist krank.»

Katzmann erschrak. «Das tut mir leid. Ist es schlimm?», erkundigte er sich besorgt.

«Sie will dich sehen!»

Ohne weiteres Zögern folgte er der Unbekannten. Harry muckste nicht ein einziges Mal. Vielleicht war er auch im Rucksack einfach eingeschlafen.

Der Wagen, der von Ferne wie eine grob gezimmerte Holzkiste mit Dach aussah, stand auf einer Lichtung, von wenigen Büschen gegen den eisigen Wind geschützt. Aus einem Ofenrohr quoll zäher dunkler Rauch.

«Der Hund bleibt draußen!», forderte die Fremde.

«Das geht nicht. Es ist Katjas Hund, und außerdem ist es viel zu kalt hier draußen für so ein kleines Tier», protestierte Katzmann.

Die Frau zuckte mit den Schultern, doch der Blick, der ihn nun traf, war voller Zorn. Offensichtlich widersetzte man sich sonst nicht ihren Anweisungen. Unendlich lang schienen sich ihre Augen in sein Gesicht zu bohren, dann sagte sie schroff: «Nur kurz!» Sie war keine Freundin vieler Worte.

Mit der behandschuhten Faust klopfte sie einen Rhythmus gegen die Tür. Sofort öffnete sie sich einen Spaltbreit.

«Geh rein!»

Katzmann gehorchte. Das Innere des Wagens war größer, als der Anblick von außen vermuten ließ.

Feuchte, stickige Luft schlug dem jungen Mann entgegen, die winzigen Fenster waren beschlagen, und trotz des angeheizten Ofens war es nicht richtig warm.

Eine Frau drückte ihm fest beide Hände zur Begrüßung.

«Mein Name ist Nonoka Adonay. Meine Schwägerin Sizma hat Sie hierher begleitet. Katja hat mir erzählt, was Sie getan haben. Wir können Ihnen gar nicht genug danken! Ohne Ihren Mut wäre meine Tochter nun nicht mehr am Leben.»

Der Besucher spürte, wie eine Hitzewelle unangenehm über sein Gesicht schwappte. «Aber das hätte jeder andere auch getan!»

«Nein, sicher nicht.»

«Wo ist Katja denn? Ich habe ihr den Hund mitgebracht.»

Die Mutter zeigte auf ein großes Bett am Ende des Wagens.

«Sie ist krank.»

Betroffen erkannte Katzmann zwischen all den bunten Decken den schmalen Körper des Mädchens. Regungslos.

Er setzte den Rucksack ab und ging in die Hocke. «Katja!» Langsam, so als lägen Zentnergewichte darauf, öffnete sie die Lider und sah ihn mit verschleiertem Blick an. «Konrad!», flüsterte das Mädchen. «Gut, dass du gekommen bist!»

«Nun bist du doch krank geworden. Darf ich mal meine Hand auf deine Stirn legen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, tastete er nach ihren Ohren, legte seine Finger auf ihre Stirn. Heiß! «Ich habe dir Harry mitgebracht. Er könnte bei dir kuscheln, und dann geht es dir schnell wieder gut!»

Entgeistert richtete das Mädchen den Oberkörper auf und krallte seine Finger fest in Konrads Mantel. Die Augen waren weit aufgerissen und sahen ihn flehentlich an. «Nein!», rief sie voller Verzweiflung. «Mein Vater hat Tiere im Wagen verboten! Er hat gedroht, den Hund erfrieren zu lassen, unnütze Fresser könnten wir uns nicht leisten. Bitte, bitte, Konrad! Kann er nicht erst mal bei dir bleiben? Wenigstens bis ich gesund bin? Bitte!»

Erschrocken sah er sie an. «Sicher. Wir sind ja schon so was wie Freunde geworden. Er bleibt bei mir, und du kommst ihn besuchen, wenn es dir bessergeht», versprach er eilig.

Die Finger lösten sich, und Katja fiel mit geschlossenen Augen zurück zwischen die Decken.

«Mach dir keine Sorgen!», murmelte der junge Mann und streichelte ihr über die schweißnassen Haare. Nach wenigen Minuten schlief sie wieder.

«Wir müssen bald weiterfahren, aber bei dieser Kälte ist es schwierig. Wissen Sie, wir sind nicht gern gesehen. In Zeiten wie diesen erst recht nicht. Niemand hat genug, darum möchte keiner was abgegeben. Das verstehen wir, doch von irgendetwas müssen wir auch leben. Alles ist schwierig», erklärte die Mutter.

Katzmann nickte wortlos. «Sind Sie hier ganz allein?»

«Nein, nein. Es sind insgesamt zwei Wagen. Aber der andere ist eher ein Lazarett. Unsere Männer haben die Grippe, eine meiner Schwestern auch. Und jetzt ist auch noch Katja krank.»

«Vielleicht ist es nicht die Grippe», meinte Katzmann tröstend.

«Vielleicht», antwortete die Frau mutlos. «Versuchen Sie, meinen Mann zu verstehen. Er ist kein böser Mensch. Aber er muss die Familie versorgen - der Hund kann nicht bleiben. Katja muss lernen, das zu begreifen.»

Katzmann griff nach dem Rucksack und verabschiedete sich. Draußen stand die Fremde, offensichtlich hatte sie auf ihn gewartet. «Komm!»

«Nein, danke. Ich finde allein zurück!», knurrte er sie missmutig an, schulterte den Rucksack und stapfte los.

Fritz Ganter erwartete ihn bereits in seinem Bureau. «Ich nehme dich jetzt mit zur Mutter. Natürlich ist sie verzweifelt, das kannst du dir sicher vorstellen. Trude ist ihr einziges Kind.»

«Und wo ist der Vater?»

«Er ist im Moment im Hospital. Das hat mir die Nachbarin erzählt.»

«Warum?»

«Um eine finanzielle Unterstützung zu bekommen, will er sich als Kriegsversehrter einstufen lassen, weil er sich seine Verletzungen bei einer Testexplosion zu Kriegszwecken zugezogen hat. Dabei wird er nun auch psychiatrisch begutachtet. Er ist also praktisch nur zu Beobachtung dort.»

«Dann nichts wie los. Wir müssen unterwegs nur noch schnell was für Harry einkaufen!» Konrad sprühte nur so vor Tatendrang.

«Harry?»

«Na, du weißt schon, der Hund. Und auf dem Weg zu Frau Winterstein kannst du mir ein paar Geheimnisse über das Zusammenleben von Mensch und Hund verraten. Harry und ich haben da noch ein paar Probleme.»

 

«Spinner!», grinste Ganter und boxte freundschaftlich gegen Katzmanns Oberarm.

Die renommierte Kanzlei Goldmann und Partner, wo Frau Winterstein als Schreibkraft arbeitete, lag direkt gegenüber der Frauenkirche am Neumarkt.

«Noble Adresse», murmelte der Reporter und klopfte an der untersten Stufe notdürftig den Schmutz von seinen Schuhen. «Hätte ich gewusst, dass wir uns in diesen Kreisen bewegen, wäre ich noch mal schnell nach Hause gegangen, um die Schuhe zu wechseln.»

«Deine Mutter würde jetzt sagen …»

«Schon gut, Fritz. Gnade!»

Die Teppiche waren weich und so tief, dass Katzmann fast bis zum Knöchel darin versank. An den Decken zogen sich Friese aus Stuck entlang, und große Kristalllüster leuchteten die Räume aus.

«Sehr, sehr edel hier», flüsterte er Ganter zu.

«Du bist hier auch nicht in irgendeiner Kanzlei!», zischte der leise zurück. «Hier trifft sich die Crème de la Crème.»

Katzmann überlegte sofort, ob einige der Kunden von Goldmann und Partner wohl zu den Perversen gehörten, von denen Linda vor wenigen Stunden gesprochen hatte.

Frau Winterstein warf Katzmann einen misstrauischen Blick zu. «Ein so junger Mann! Auch noch von der Zeitung. Und der soll nun meine Tochter finden?»

«Aber ja! Wenn jemand das Kind aufspüren kann, dann er», behauptete Fritz Ganter nachdrücklich. «In manchen Kreisen ist man der Polizei gegenüber nicht besonders freigiebig mit Informationen. Herr Katzmann wird da eher Erfolg haben.»

Bei der Formulierung «in manchen Kreisen» waren die Augenbrauen von Frau Winterstein hochgeschnellt, sie äußerte aber keinen Kommentar. Katzmann vermutete, sie wolle so genau gar nicht wissen, was Ganter damit gemeint haben könnte.

«Ich arbeite für die Leipziger Volkszeitung. Vielleicht gelingt es mir, einen Suchaufruf in der Zeitung zu platzieren. Irgendjemand in Dresden muss Ihre Tochter gesehen haben - kleine Mädchen verschwinden nicht plötzlich, ohne dass jemand etwas bemerkt», erklärte Katzmann ruhig und zückte Notizblock und Bleistift. «Erzählen Sie mir doch noch einmal ganz genau, was an jenem Morgen passiert ist.»

Eine Stunde später saßen Katzmann und Ganter schon bei einer Tasse Kaffee im weit über Dresden hinaus bekannten Kreutzkamm am Altmarkt, der besten Konditorei der Stadt, wie Ganter gern schwärmte, und formulierten einen Aufruf, den der Reporter an die Zeitung kabeln wollte. Harry erholte sich derweil von den Anstrengungen des Tages und schlief quer über den Füßen seines Menschen.

«Ich habe sogar beim Zirkus nachgefragt», erzählte Ganter.

«Ich dachte, viele Mädchen träumen von einer Karriere unter der Zirkuskuppel, und manch eines wird wohl auch dort sein Glück versuchen. Weißt du, es gibt da ein Alter, da sind sie empfänglich für so was. Aber Fehlanzeige. Im Winter, hat man mir versichert, kämen kaum Interessenten vorbei, um sich der Truppe anzuschließen. Im Sommer sei das was anderes. Beim Zirkus glaubt man, es liege daran, dass im Sommer von Ort zu Ort gezogen wird und viele der jungen Artisten gern weg von zu Hause möchten. Im Winter bleibt der Zirkus an einem Ort, das ist nicht attraktiv. Man hat mir dort Verträge gezeigt. Wenn ein Kind anheuern will, müssen in jedem Fall die Eltern den Vertrag mitunterschreiben. Alles andere führe ja doch nur zu Scherereien mit der Polizei.»

«Klingt, als hätten sie dort schon mal schlechte Erfahrungen gemacht.»

«Ja, das vermute ich auch. Bei der Roma-Familie vor der Stadt war ich auch. Sie haben die deutsche Staatsangehörigkeit, dürfen also erst mal bleiben. Die können auch gar nicht weiterfahren, sind voll und ganz mit der Grippe beschäftigt. Dort ist die Kleine auch nicht.» Ganter schnitt eine Grimasse.

«Apropos Grippe: Wie geht’s denn deiner Schwester?»

«Nicht so gut. Mein Schwager sitzt jede freie Minute an Gelis Bett. Das Fieber will einfach nicht zurückgehen.»

«Das tut mir leid. Und die Kinder?»

Fritz’ Miene verdüsterte sich noch mehr. «Jürgen und Liese geht es gut. Aber da ist die Sache mit dem Baby. Weißt du, Geli war schwanger, als bei ihr die Grippe ausbrach. Die Ärzte konnten das Kind nicht retten. Noch ist ihr Fieber so hoch, dass sie von der Fehlgeburt wohl nichts bemerkt hat. Aber wenn sie wieder klar wird … O Konrad, ich mag gar nicht daran denken!»

«Ich verstehe. Das Kind war so etwas wie ein Versprechen auf die Zukunft. Es sollte mit ihm alles besser werden.»

«Nicht nur das. Es sollte auch die Eheleute einander wieder näherbringen. Mein Schwager ist seit seiner Rückkehr von der Front irgendwie verändert.»

«Verändert?»

«Nun, zum Beispiel lacht er überhaupt nicht mehr. Er träumt und schreit im Schlaf. Irgendwie ist er uns allen fremd geworden. Früher war er ein durch und durch fröhlicher Kerl, seine Familie bedeutete ihm alles auf der Welt. Er war so stolz auf seine Kinder. Sie haben getobt und Spaß gehabt. Nun ist von alldem nichts mehr zu spüren. Er ist ernst, lacht nie, selbst das Lächeln ist verloren. Er sitzt stundenlang neben mir, ohne ein Wort zu sagen, dann steht er auf und geht zur Arbeit.»

«Geli wollte ihn mit dem Baby ins Leben zurückholen», mutmaßte Katzmann.

«So etwas in der Art, ja.» Ganter seufzte schwer und gab der Kellnerin im Kreutzkamm ein Zeichen. «Ich muss los, Konrad. Was wirst du nun unternehmen?»

«Erst mal das Kabel wegschicken. Vielleicht ist die Kleine mit jemandem getürmt. Wenn der nun von der Verzweiflung der Eltern liest, bekommt er möglicherweise ein schlechtes Gewissen und bringt das Mädchen zurück. Und ansonsten werde ich mich mal umhören», sagte er vage. «Und im Renner muss ich unbedingt nach einem Geburtstagsgeschenk für meine Mutter stöbern. Es ist den Angehörigen gegenüber nicht besonders rücksichtsvoll, so kurz vor Weihnachten noch Geburtstag zu haben!», schloss er feixend.

«Im Renner ist die Auswahl auch schmal geworden. Die Lage ist schlecht, selbst für ein so berühmtes und alteingesessenes Kaufhaus. Vielleicht hast du bei einer Putzmacherin mehr Glück. Du gibst mir Bescheid, wenn du was rausgefunden hast?» Fritz erhob sich schwerfällig und zahlte. «Ich melde mich auch bei dir, wenn sich bei mir was tut», versprach er noch und verschwand.

Katzmann überarbeitete die viel zu biederen Formulierungsvorschläge von Fritz. So würde sich wohl kaum jemand für das Verschwinden des Mädchens interessieren. Die Leser wollten deutlich mehr Herz und ein bisschen mehr über den Schmerz der Familie erfahren. Ein Hinweis, dass es sich vielleicht um ein Verbrechen handelte, konnte auch nützlich sein. Immerhin war es nicht ausgeschlossen, dass das Kind getötet worden war.

Katzmann zog die Photographie aus der Tasche und studierte sie intensiv. Lange blonde Haare, die von zwei Schleifchen gehalten wurden, die Augen «geheimnisvoll wie tiefe Seen», hatte Frau Winterstein geschwärmt. Auf dem Bild wirkten sie nur dunkel, und selbst das machte einen unpassend artigen Eindruck. In Trudes Gesicht war noch keine Spur jugendlicher Aufmüpfigkeit zu erkennen, und die Lippen schienen nicht zu wissen, wie man lügt.

Konrad dachte an Lotte, seine Schwester. In deren Gesicht war schon im Alter von zehn Jahren zu sehen, dass sie eine eigene Auffassung hatte, die sich nicht unbedingt mit der ihrer Mutter deckte - bockig nannten das die Eltern.

«Hat dir jemand ein unwiderstehliches Angebot gemacht?», murmelte er dem Gesicht zu. Aber was war für ein Mädchen in diesem Alter so spannend, dass es all die Ermahnungen der Mutter vergaß und nicht zur Schule ging? «Vielleicht bist du auch mit jemandem mitgegangen, weil du einsam warst? Weißt du, ich glaube, du bist nicht mehr am Leben. Und Kommissar Ganter denkt das auch, er will es nur nicht zugeben.»

Plötzlich schlug ihm eine Hand kräftig auf den Rücken.

«Na, Konrad! Mir sind Selbstgespräche auch am liebsten - da hat man wenigsten einen, der interessiert zuhört, was?», lachte eine raue Stimme laut.

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