Lebendige Seelsorge 3/2018

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Einige pastoraltheologische Probleme des Kirchenrechts

Pastoral ist nachvatikanisch als kreative Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz in Wort und Tat, im individuellen wie gesellschaftlichen Wertbereich definiert. Sie präsentiert und realisiert, in menschlicher Schwäche, die Liebe Gottes zu den Menschen. Ihre zentralen Tugenden sind daher Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit und Mut. Das Kirchenrecht realisiert, ebenfalls in menschlicher Schwäche, innerkirchliche Gerechtigkeit – so sein Anspruch. Gerechtigkeit und Liebe fallen aber bekanntlich nur bei Gott zusammen, unter irdischen Bedingungen stehen sie oft in Spannung. Diese Spannung definiert auch das Verhältnis der nachkonziliaren Pastoraltheologie zum Kirchenrecht. Rainer Bucher

Die potentiell produktive Spannung von Kirchenrecht und Pastoral wird über das Produktive hinausgetrieben, wenn das nachvatikanische Kirchenrecht zwar zeitlich, aber nicht wirklich konzeptionell nachvatikanisch ist und der CIC 1983 zudem hinter den gut begründeten normativen Rechtstandards demokratischer Verfassungsstaaten zurückbleibt. Beides ist leider der Fall. Aus dieser Konstellation ergeben sich einige Probleme der Pastoraltheologie mit Theorie und Praxis des geltenden Kirchenrechts.

LEGITIMITÄTSPROBLEME: DIE MENSCHENRECHTSPROBLEMATIK

Dass die katholische Kirche trotz ihres jüngeren theoretischen wie praktischen Einsatzes für die Menschenrechte ad extra ein Menschenrechtsproblem ad intra hat, ist unübersehbar und dokumentiert sich nicht nur daran, dass sie die einschlägigen Menschenrechtskonventionen als rechtliche Selbstverpflichtungen nicht unterzeichnet hat.

Da ist zum einen die essentialistische Fassung der Geschlechterdifferenz(en), welche Frauen die gleiche Würde, nicht aber die gleichen Rechte zuschreibt. Dieses „asymmetrische Modell der komplementären Polarität der Geschlechter“ (Christa Schnabel) galt zwar auch lange außerhalb der Kirche, „natürliche Gleichheit aller Menschen und natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ bildeten so etwas wie den „paradoxe(n) Kanon des 19. Jahrhunderts“, der „bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich bleibt“ (Pasero, 275). Wenn sich aber, wie es gegenwärtig geschieht, nicht nur ideologische Geschlechterstereotypen bis hin zur Auflösung der dualen Geschlechterpolarität verflüssigen, sondern auch die konkrete Geschlechterrollenpraxis dies gesellschaftsweit tut, dann manövriert sich jede Institution, welche diese ursprünglich aufklärerische Paradoxie weiterhin vertritt, sowohl ins Aus der Biografien wie der normativen Plausibilitäten.

Rainer Bucher

Dr. theol. habil., seit 2000 Universitätsprofessor und Vorstand des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Universität Graz.

Menschenrechtlich nicht unproblematisch ist auch die klerikal-ständische innerkirchliche Herrschaftsordnung. Sie verwehrt dem allergrößten Teil des Volkes Gottes den Zugang zu den allermeisten kirchlichen Entscheidungsund Repräsentanzpositionen ohne konkrete sachliche oder personenbezogene Begründung und billigt ihnen Entscheidungspartizipation und Repräsentanz nur in Form eines gewissen Zulassungspaternalismus zu.

Zudem kennt die katholische Verfassungsordnung keine Gewaltenteilung und keine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit (siehe etwa Loretan; Baumeister u. a.). Sabine Demel markiert diesen „mangelnde(n) Rechtschutz“ als den „Grundfehler im geltenden kirchlichen Gesetzbuch“ (Demel, 153). Das „kirchliche Recht“ wird zwar „phänomenologisch und strukturell analog zum Recht im Staat verstanden“, freilich, so Norbert Lüdecke, „nicht dem des modernen demokratischen Rechtsstaates, sondern dem des neuzeitlichen absolutistischen Obrigkeitsstaates mit dem nur moralisch gebundenen Monarchen an seiner Spitze, der das Gemeinwohl verwirklicht.“ Es gilt eben: „Das kanonische Recht ist konstitutiv staatsanalog-vordemokratisches Recht“ (Lüdecke/Bier, 26).

Daraus ergibt sich eine grundlegende kognitive Dissonanz im Bewusstsein der Gläubigen: Als Bürger eines demokratischen Rechtstaates unterliegen sie grundlegend anderen Rechtsbestimmungen denn als Mitglieder der Kirche, und jene ersteren, menschenrechtsorientierten und die Gewaltenteilung sichernden, werden wohl mit einigem Recht eher als Konkretionen christlicher Grundoptionen betrachtet werden können als gerade die innerkirchlichen Rechtssatzungen. Diese kognitive Dissonanz führt entweder zu grundsätzlichen Anerkennungs- und Legitimitätsproblemen des Kirchenrechts im Volk Gottes oder zur demonstrativen Ignoranz gegenüber dem Kirchenrecht.

Neben Legitimitätsproblemen ist das Kirchenrecht in vielen Feldern dysfunktional geworden.

DYSFUNKTIONALITÄTSPROBLEME: DIE RELEVANZPROBLEMATIK

Neben solchen Legitimitätsproblemen ist unübersehbar, dass das Kirchenrecht in vielen Feldern der pastoralen Wirklichkeit schlicht dysfunktional geworden ist. Der Beispiele sind Legion: vom Problem der Zulassung evangelischer Christ/innen zur Kommunion über die rechtliche Behandlung des Kirchenaustritts (ausführlicher: Bucher 2013a) bis zum rechtlichen Status wiederverheirateter Geschiedener. Niemand wird ernsthaft bestreiten können, dass es sich dabei primär um kirchen- und theologiepolitische Auseinandersetzungen zwischen kirchlichen Amtsträgern handelt, deren praktische Relevanz relativ gering ist, sieht man vom Spielraum gnädiger oder ungnädiger Konkretion vor Ort ab. Die Praktiken (und übrigens auch Sinnzuschreibungen) der Betroffenen selbst entziehen sich schon seit längerem innerkirchlichen rechtlichen oder theologischen Normativitäten.

Das Konzil von Trient hatte in Reaktion auf die protestantische Herausforderung die Prinzipien Sichtbarkeit, Professionalisierung des Priesters und die Kirche als „societas perfecta“ entwickelt: Die Sichtbarkeit richtete sich gegen das protestantische Theorem von der „unsichtbaren Kirche“, die Professionalisierung und Sakralisierung des Priesters antwortete auf das allgemeine Priestertum des Protestantismus und die Lehre von der souveränen und letztlich niemandem außer sich selbst verantwortlichen Kirche als „societas perfecta“ auf das protestantische Landeskirchentum.

Wirklich flächendeckend und konsequent wurde dieses Konzept erst mit der „Pianischen Epoche“ ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts realisiert. Zentrale Steuerungsinstrumente dieser kirchlichen Lebensform waren theoretisch die (Neu-)Scholastik, kommunikativ die Katechismen und institutionell das Kirchenrecht.

Alle drei Steuerungsinstrumente haben dabei eines gemeinsam: Sie kopieren säkulare, typisch moderne sozialtechnologische Strategien wie Kohärenz, Konsistenz und zentralperspektivische Überschaubarkeit in den kirchlichen Raum. So wie die neuscholastische Theologie naturwissenschaftsanaloge Klarheit und Bestimmtheit anstrebte, so sollte das Kirchenrecht nach Ende des tendenziell eher unüberschaubaren Feudalismus und in Zeiten beginnender religiöser Freiheit innerkirchlich Klarheit und Bestimmtheit vor allem durch die genaue Regelung von Über- und Unterordnungsbeziehungen herstellen. Es galt in beiden weniger „Was ist?“ als „Was gilt?“. Das funktionierte so lange, als sich der kirchliche institutionelle Raum kognitiv wie rechtlich Anerkennung und Gefolgschaft bei den eigenen Kirchenmitgliedern sichern konnte.

Doch damit ist es bekanntlich vorbei. An die Stelle normativer Integration tritt auch im katholischen Feld situative, temporäre, erlebnis- und intensitätsorientierte Partizipation. Wie immer es auch dazu kam, es trifft die katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte, ihrer institutionellen, juridisch verankerten Lebensform, an die sie zudem auch ihre kognitiven, rituellen und moralischen Traditionen außerordentlich eng gekoppelt hatte.

Das Kirchenrecht verliert damit gegenwärtig seine von ihm selbst vorausgesetzte Basis, insofern es weder einen selbstverständlichen Plausibilitäts- noch Sanktionsraum mehr besitzt. Es hat faktische Wirksamkeit überhaupt nur noch dort, wo ihm sekundär Wirksamkeit zugespielt wird: im Hauptamtlichensektor mittels Arbeitsverträgen oder priesterlichen Gehorsamsversprechen, in der Breite der Kirche, wenn man von ihr etwas will, Sakramente etwa. Ansonsten ist das Kirchenrecht ein eher zahnloser Tiger.

FUNKTIONSPROBLEME: DIE NACHTRIDENTINISCHE KONSTELLATION

All diese Probleme sind den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Kirchenrechtswissenschaft natürlich nicht entgangen. Sie reagieren nur sehr unterschiedlich darauf. Wobei sich wieder einmal die alte Weisheit bewährt: Je bestimmter und exakter eine Wissenschaft zu sein behauptet (die Pastoraltheologie tut das erst gar nicht), desto pluraler sind die Ergebnisse.

Im Kern geht es um die Problematik, wie die Kirchenrechtswissenschaft das II. Vatikanum und seinen Bruch mit der tridentinischen Sozialform von Kirche verarbeitet. Nur so nämlich könnte es eine neue Basis finden. Dabei kompliziert sich die Lage insofern nicht unerheblich, als schon der CIC selbst zum II. Vatikanum ein offenkundig höchst ambivalentes Verhältnis einnimmt. Er verkörpert die bis Papst Franziskus übliche gespaltene Rezeption des II. Vatikanums (ausführlicher: Bucher 2013b) selbst recht schön und hat sie dadurch natürlich aufs Höchste gefördert. Wenn die einschlägigen kirchenrechtlichen Schulen dann diese Ambivalenz unterschiedlich auflösen, ist das nur wissenschaftsüblich. Die „korrekten Kanonisten“ lösen diese Ambivalenz etwa, indem sie diese bis zur Behauptung treiben, das geltende Kirchenrecht schaffe „mit dem Material des II. Vatikanischen Konzils eine kirchliche Ordnungsgestalt, welche die Ekklesiologie des Ersten unbehelligt lässt und zusätzlich abstützt“ (Lüdecke, 237), während etwa Sabine Demel umgekehrt tapfer die Interpretation und Fortentwicklung des Kirchenrechts auf der Basis des II. Vatikanums fordert, und die Mehrheit der kirchenrechtlichen Kollegen und Kolleginnen sich dann irgendwo dazwischen situiert. Leichter macht es das dem pastoraltheologischen Gesprächspartner, der natürlich mit Demels Position sympathisiert, nicht.

 

Es braucht eine Lebens- und Sozialform, die nicht primär juridisch, sondern situativ, aufgabenbezogen und an der Praxis des Glaubens orientiert ist.

Es bleibt jedenfalls das Problem, dass die Präsenz des Evangeliums in postmodernen Zeiten eine Lebens- und Sozialform braucht, die nicht primär in juridischen Kategorien, sondern situativ, aufgabenbezogen und primär an den praktischen Konsequenzen des Glaubens orientiert ist. Papst Franziskus scheint das konsequent zu realisieren: Franziskus regiert die Kirche offenkundig nicht auf der Basis der nachtridentinischen Ekklesiologie, also des Prinzips von Über- und Unterordnung, sondern auf der Basis der Inhalte des Glaubens als praktischer Wahrheiten. Er realisiert damit konsequent das konziliare Projekt auch ad intra.

Dass etwa die möglichen kirchenrechtlichen Konsequenzen von Amoris laetitia in die Fußnoten gewandert sind, signalisiert die längst fällige Umkehr der Relevanzhierarchie von Pastoral und Recht in der Bestimmung des konkreten Handelns der Kirche. Wenn dagegen deutsche Bischöfe beim Papst wieder einmal anfragen, „Was gilt?“ – drehen sie dieses Verhältnis wieder ins alte Muster zurück.

PÄPSTLICHE PERSPEKTIVEN

Im Promulgationsdekret des CIC 1983 heißt es, es scheine „hinreichend klar, daß es keinesfalls das Ziel des Kodex ist, im Leben der Kirche den Glauben, die Gnade, die Charismen und vor allem die Liebe zu ersetzen“. Das zu lesen freut den Pastoraltheologen. „Im Gegenteil, Ziel des Kodex ist es vielmehr, der kirchlichen Gesellschaft eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma den Vorrang einräumt und zugleich ihren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert“ (Johannes Paul II., XI). Man lese es genau: Bei der Promulgation des CIC sprach der Papst vom „Vorrang der Liebe, der Gnade und des Charismas“, ja von einer Ordnung, bei der dies alles den Vorrang habe. Aus pastoraltheologischer Perspektive kann man dazu nur sagen: Das wäre es.

Das Recht hat die Schwachen zu schützen, Konflikte zu befrieden und, das ist nun speziell kirchlich, den Raum von Gnade und Barmherzigkeit offen zu halten. Das Kirchenrecht kann sich deshalb keine Menschenrechtsprobleme leisten, sich nicht auf vergangene Lebens- und Sozialformen von Kirche stützen und sich nicht an die Stelle der Pastoral setzen. „‚Rechtskirche‘ und „Liebeskirche“, um eine alte, polemische und konfessionelle Konfrontation aufzunehmen, sind tatsächlich keine Alternativen, aber sie konstituieren einen realen Kontrast. Er ist gegenwärtig weit davon entfernt, kreativ zu sein, meist ist er banal, weil irrelevant geworden, bisweilen ist er destruktiv geblieben.

Dass er schöpferisch werden könnte, daran glaubt fast niemand mehr. Dass dies nur bei einer Umkehr hin zur Priorität der Pastoral, nur bei einer wirklichen „conversión pastorale“ (Evangelii gaudium 27) vielleicht wird gelingen können, wird man dem Pastoraltheologen erlauben festzuhalten, und vielleicht auch, dass es dazu wohl ein neues kirchliches Gesetzbuch brauchen wird.

LITERATUR

Baumeister, Martin/Böhnke, Michael/Heimbach-Steins, Marianne/Wendel, Saskia (hg.), Menschenrechte in der katholischen Kirche, Paderborn 2018.

Bucher, Rainer, Die notwendige Umkehr. Die pastoraltheologische Herausforderung der Ausgetretenen, in: Bier, Georg (Hg.), Der Kirchenaustritt. Rechtliches Problem und pastorale Herausforderung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013a, 235 – 250.

Ders., Die Optionen des Konzils im Rezeptionsprozess der deutschen katholischen Kirche, in: Kirschner, Martin/Schmiedl, Joachim (Hg.), Diakonia. Der Dienst der Kirche in der Welt, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013b, 79 – 99.

Demel, Sabine, Das Recht fließe wie Wasser. Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?, Regensburg 2017.

Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges (25. Januar 1983), in: AAS 75 (1983) Pars II.

Loretan, Adrian, Die Freiheitsrechte in der katholischen Kirche. Aporien und Desiderate, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 55 (2014) 131 – 154.

Lüdecke, Norbert/Bier, Georg, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 2012.

Lüdecke, Norbert, Der Codex Iuris Canonici von 1983: „Krönung“ des II. Vatikanischen Konzils?, in: Wolf, Hubert/Arnold, Claus (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn 2000, 209 – 237.

Pasero, Ursula, Geschlechterforschung revisited. Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven, in: Wobbe, Theresa/Lindemann, Gesa (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a. M. 1994, 264–296.

Pastoral vs. Kirchenrecht – benötigen wir wirklich eine Neuauflage des Tragödienklassikers?

Die Replik von Judith Hahn auf Rainer Bucher

Rainer Bucher analysiert die Schwächen des geltenden Kirchenrechts. Er diagnostiziert es als zweifach kränkelnd, material und prozedural. Materialiter bleibe das Recht hinter dem Konzil zurück (oder zumindest hinter einer bestimmten Lesart des Konzils, würde Norbert Lüdecke wohl korrekt bemerken, vgl. Lüdecke 2007, 54; Ders. 2012, 64). Doch nicht nur hinter dem Konzil, sondern auch hinter den Errungenschaften moderner demokratischer Rechtsordnungen, wie Bucher an der Menschenrechteproblematik festmacht. Neben materialen Problemen des Rechts stehen prozedurale. Bucher deutet auf den absolutistischmonarchischen Zuschnitt von Kirchenleitung, die fehlende Gewaltenteilung und die mangelnd durchgängige Gestaltung des kirchlichen Rechtsschutzes. Man muss nicht viel Luhmann gelesen haben, um zuzustimmen, dass diese prozeduralen Defizite bei rechtsstaatlich und demokratisch sozialisierten Kirchengliedern Legitimitätsfragen erzeugen (vgl. Luhmann 1970, 190).

Gegen Buchers Diagnose habe ich wenig einzuwenden. Unsere Beobachtungen decken sich weitgehend. Die Frage ist nur, was tun mit dieser Erkenntnis? Und hier, so mein Eindruck, gehen unsere Ansichten auseinander. Bucher spricht über das Kirchenrecht: was es leisten müsste und warum ihm dies nicht gelingt. Und er spricht über Kanonistinnen und Kanonisten und ihre grundverschiedenen Strategien, die Spannung zwischen Geltung und Faktizität auszuhalten. Auffällig ist, wie wenig von der Pastoral und der Pastoraltheologie die Rede ist. Ich vermisse den Blick auf das eigene Fach und den eigenen Gegenstand, der sich zum Beispiel in der Frage konkretisieren müsste, ob und inwieweit gelungene Pastoral das Recht benötigt – und welches.

Buchers These, dass „die Präsenz des Evangeliums in postmodernen Zeiten eine Lebensund Sozialform braucht, die nicht primär in juridischen Kategorien, sondern situativ, aufgabenbezogen und primär an den praktischen Konsequenzen des Glaubens orientiert ist“, impliziert eine Gegensätzlichkeit, die ich nicht teile. Denn sind Sozialformen, die situativ, funktional und pragmatisch zu agieren vermögen, nicht zumeist rechtlich integriert? Als ob die Pastoraltheologie ohne juridische Kategorien auskäme, wenn sie über Strukturen spricht!

Scharfsinnige Argumente gegen die These, dass Recht ein notwendiges Instrument sozialer Integration sei, kommen zurzeit gut an (vgl. Loick). Ich selbst kann mich ihnen nicht anschließen. „Ubi societas/communitas ibi ius“ oder mit Luhmann: „Kein System kann über längere Zeit hinweg […] normative Erwartungen handhaben, ohne daß […] Recht anfällt“ (Luhmann 1984, 451). Juridische Kategorien sind omnipräsent, wir entgehen ihnen nicht. Das Juridische ist ein unhintergehbarer Aspekt des Sozialen. Für die Kirche gilt nichts anderes. Nicht die juridischen Kategorien sind hier das Problem, sondern die Verrechtlichung von Fragen, die keine rechtlichen sind, prozedurale Defizite, vormoderne Entscheidungsstrukturen und neuscholastisches Schwarz-Weiß-Denken. Die kirchliche Tragik liegt nicht im Juridischen, sondern im vormodern Juridischen. Der Kanonist Werner Böckenförde notierte zutreffend: „Kirchenrecht ist unentbehrlich, um einen geordneten Austrag von Konflikten zu ermöglichen. Wir brauchen nicht weniger kirchliche Normen, sondern andere, welche die Bezeichnung Recht verdienen“ (Böckenförde, 166).

Die kirchliche Tragik liegt nicht im Juridischen, sondern im vormodern Juridischen.

Auch Bucher relativiert seine Rechtskritik, indem er schreibt: „‚Rechtskirche‘ und ‚Liebeskirche‘ […] sind tatsächlich keine Alternativen, aber sie konstituieren einen realen Kontrast.“ D’accord. Sind sie jedoch keine Alternativen, überzeugt die Rede von der „Priorität der Pastoral“ nicht. Recht und Pastoral sind keine gleichgelagerten Kategorien, stehen in keinem Konkurrenzverhältnis. Daher kann man sie einander nicht über- oder unterordnen (wenn ich auch nicht bestreite, dass das geschieht). Pastoral ist, wie Bucher bestimmt, der primäre Auftrag von Kirche, der Liebe Gottes zu den Menschen konkreten Ausdruck zu geben. Das Recht ist Bedingung der Möglichkeit dieses Handelns als Gemeinschaft. Dass das geltende Recht diesbezüglich reformbedürftig ist, keine Frage. Die Kur kann jedoch nicht sein, die Pastoral dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.

In diesem Licht deute ich Fußnote 351 in Amoris laetitia. Dass sich eine Aussage mit Rechtsrelevanz in einer Fußnote findet, signalisiert nicht, dass das Kirchenrecht unter Franziskus auf einem der Pastoral nachgeordneten Posten zu finden ist. Die im Text des Schreibens erfolgende Bezugnahme auf Gläubige, „die in ‚irregulären‘ Situationen leben“ (Amoris laetitia Nr. 305), intoniert ja gezielt das Juridische. Es geht darum, einen pastoral verantwortbaren Umgang mit Irregularität zu finden – nicht gegen, sondern mit dem Recht. Fußnote 351 untergräbt nicht das Recht, sondern dient als dessen Interpretationshilfe.

Die Pastoral ist nicht dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.

Recht ist deutungsoffen. Die Deutung des für die Frage der Kommunionzulassung einschlägigen c. 915 CIC/1983 ist seit Jahren umkämpft. In der Norm heißt es: „Zur heiligen Kommunion dürfen nicht zugelassen werden […] andere, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren.“ Es gibt Stimmen, die diese Norm auf die Situation wiederverheirateter Geschiedener für durchgängig anwendbar halten, und Stimmen, die dies verneinen (vgl. Lüdicke). Franziskus bietet eine vermittelnde Auslegung an. Seine Fußnote klärt, wie man das Recht anwenden sollte: differenziert, situativ, an praktischen Konsequenzen orientiert.

Die Fußnote greift also nicht das Recht an, sondern legt es aus. Die Norm bleibt, ihre Auslegung verändert sich. Diese Methode, einen Rechtswandel durch Interpretation zu erzeugen, ist ein Klassiker kirchenrechtlicher (wie jüdisch-rechtlicher und islamischer) Rechtsentwicklung und erkennbar einer „Hermeneutik der Kontinuität“ verpflichtet. Auch Franziskus agiert in diesem Sinne traditionell. Er entwickelt das Recht weiter, jedoch nicht durch Normveränderung, sondern auf dem Weg von Interpretation. Die Rechtsnorm kann bleiben, weil sie sich inhaltlich als anpassungsfähig erweist. Franziskus‘ Politik ist daher gerade keine Abwertung des Rechts. Ich verstehe sein Pontifikat nicht als „Umkehr der Relevanzhierarchie von Pastoral und Recht“, sondern als Versuch, pastorale Anliegen zum Auslegungsmaßstab des Rechts zu machen. Ob das ein gelungener Ansatz ist, ist andernorts zu diskutieren. Festzuhalten ist an dieser Stelle, so meine ich, dass die Frage, ob eine Reform der Kirche und ihres Rechts gelingt, sich nicht an Hierarchisierungen entscheidet, sondern daran, ob die Kirche ihre rechtlich integrierte Sozialgestalt aus der Vormoderne in die Moderne zu tragen vermag.

LITERATUR

Böckenförde, Werner, Statement aus der Sicht eines Kirchenrechtlers auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen zum Thema „Der Glaubenssinn des Gottesvolkes“, in: Lüdecke, Norbert/Bier, Georg (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. Gedenkschrift für Werner Böckenförde (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 37), Würzburg 2006, 161 – 166.

 

Loick, Daniel, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2212), Berlin 2017.

Lüdecke, Norbert, War es wirklich eine Revolution? Contra, in: Die Zeit vom 11. Okt. 2012, Nr. 42, 64.

Ders., Der Codex Iuris Canonici als authentische Rezeption des Zweiten Vatikanums. Statement aus kanonistischer Sicht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 26 (2007) „Vierzig Jahre II. Vatikanisches Konzil“, 47 – 69.

Lüdicke, Klaus, Wieso eigentlich Barmherzigkeit? Die wiederverheirateten Geschiedenen und der Sakramentenempfang, in: Herder Korrespondenz 66 (7/2012) 335 – 340.

Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984.

Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 175 – 202.

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