Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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2.2.4 Rudolph Sohm und Max Weber: Charisma als anti-institutionelles Prinzip und außergewöhnliche personale Qualität

Der Charismabegriff erfuhr ein eigentümliches Schicksal. Nachdem er viele Jahrhunderte von der Theologie kaum beachtet und erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich wieder in seiner Bedeutung erkannt wurde, kam es bereits am Ende jenes Jahrhunderts zu einer soziologischen Rezeption durch Max Weber, die ihm über die Grenzen der Wissenschaften hinaus eine weite Bekanntheit bescherte. Mit dieser Entwicklung ging ein Bedeutungswandel einher: Die überkommene Bindung an das Amt schlug ins Gegenteil um, der Aspekt des Wunderhaften und die Tendenz zu einem habituellen Verständnis wurden wiederaufgenommen und modifiziert fortgeschrieben: «Charisma» gilt als eine außergewöhnliche Qualität des Individuums und als prinzipiell anti-institutionelle bzw. anti-amtliche Größe. Diese Akzentuierung ist von Rudolph Sohm beeinflusst, dessen Thesen einer rein charismatischen Organisation der Urchristenheit weite Verbreitung erfuhren, heftige Diskussionen auslösten und dadurch der Charismenlehre erhöhte Beachtung verschafften. Die besondere Prägung des Charismabegriffs durch Sohm und Weber beeinflusst bis heute den allgemeinen Sprachgebrauch und konnte nicht ohne Einfluss auf das theologische Denken bleiben. Eine kurze Skizze des Sohm’schen und Weber’schen Charismakonzeptes ist daher im Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung notwendig, um bis in die Gegenwart nachweisbare Verengungen und einseitige Akzentuierungen im theologischen Charismenverständnis zu verstehen und ihnen kritisch begegnen zu können.

2.2.4.1 Rudolph Sohms Charismabegriff, seine Rezeption und Umprägung durch Max Weber

Max Weber führte mit «Charisma» einen Begriff in die Soziologie ein, der zuvor nur in der innertheologischen Diskussion gebräuchlich war: «Der Begriff ‹Charisma› (‹Gnadengabe›) ist altchristlicher Terminologie entnommen […]. Er ist also nichts Neues.»[198] Als Quelle gibt Weber u.a. die theologischen Arbeiten des Rechtshistorikers Rudolph Sohm an.[199] Es sei sein Verdienst, «für einen geschichtlich wichtigen Spezialfall […] die soziologische Eigenart dieser Kategorie von Gewaltstruktur gedanklich konsequent […] herausgearbeitet zu haben»[200]. Tatsächlich nimmt die paulinische Charismenlehre eine zentrale argumentative Funktion in Sohms historischer Rekonstruktion der urchristlichen Organisation und ihrer späteren Deformation ein. Die Geschichte der Kirche stellt sich ihm als die Geschichte ihres Abfalls vom eigentlichen Wesen dar.[201] Durch rechtlich-amtliche Reglementierungen sei die essentielle pneumatisch-charismatische Dimension zunehmend überdeckt und verdrängt worden.

«Die aus dem göttlichen Wort geschöpfte, in Wahrheit apostolische Lehre von der Verfassung der Ekklesia ist die, daß die Organisation der Christenheit nicht rechtliche, sondern charismatische Organisation ist […]. Die Christenheit ist organisiert durch die Verteilung der Gnadengaben (Charismen), welche die einzelnen Christen zu verschiedener Thätigkeit in der Christenheit zugleich befähigt und beruft.»[202]

Die These vom rein charismatischen Ursprung der Kirche löste eine kontroverse theologische Debatte aus. Adolf von Harnack trat Sohm mit der historischen Rekonstruktion einer doppelten bzw. dreifachen Gemeindeorganisation entgegen, die außer den charismatischen Diensten (Lehrer, Propheten) noch patriarchalische (Älteste) bzw. administrative Ämter (Bischöfe, Diakone) umfasste.[[203] In ihrer Breitenwirkung verschaffte die Debatte dem «Charisma» eine bisher unbekannte Aufmerksamkeit über den binnentheologischen Raum hinaus. Max Weber rezipierte den Begriff und prägte ihn in eine soziologische Grundkategorie um. Dabei führte er einerseits einseitige Gewichtungen weiter, die die Charismenlehre bereits bei in der Rezeption durch Rudolph Sohm erfuhr. Andererseits gingen durch den Transfer in eine ihrem Anspruch nach «wertfreie» Wissenschaft theologisch konstitutive Gehalte verloren. Die Bedeutungsveränderungen, ohne deren (Auf-)Klärung in der Gegenwart nicht theologisch verantwortlich von Charisma geredet werden kann, lassen sich im Vergleich von Sohms Charismenverständnis und seiner Rezeption durch Weber aufzeigen:

1. Charisma als universelle soziologische Kategorie – die methodische Ausklammerung der vertikalen Dimension: Weber sieht in der von Sohm skizzierten historischen Entwicklung einen «geschichtlich wichtigen Spezialfall»[204] eines gesellschaftlichen Prozesses von allgemeingültiger Bedeutung: die Verrechtlichung und Traditionalisierung von charismatischer Herrschaft.[205] Der «prinzipiell gleiche Sachverhalt kehrt, obwohl auf religiösem Gebiet oft am reinsten ausgeprägt, sehr universell wieder»[206]. Entsprechend löst Weber das «Charisma» aus seinem spezifisch theologischen und historischen Kontext und schreibt ihm synchrone und diachrone Universalität («Transepochalität»[207]) zu. Es sei auf jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe präsent, wenn auch meist in einer je besonderen Gestalt.[208] Der Charismabegriff eignet sich daher zur idealtypischen Beschreibung einer spezifischen gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehung: der «charismatischen Herrschaft».[209] Während die «legale Herrschaft» ihre Legitimitätsgeltung auf dem «Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen», die «traditionale Herrschaft» auf dem «Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen» gründet, beruht die «charismatische Herrschaft» auf der «außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen»[210]. Sie legitimiert sich nicht durch objektive Traditionen oder Institutionen, sondern allein durch den aktuellen subjektiven Einfluss seiner besonderen persönlichen Ausstrahlungskraft – eben durch das «Charisma».

In der Weber’schen Rezeption des theologischen Charismabegriffs spiegeln sich zwei methodische Prämissen der «verstehenden Soziologie» wider: das Konzept des Idealtypus und das Postulat der Wertneutralität.[211] Ein Begriff wird seiner spezifischen geschichtlichen Bedeutungsgehalte entleert, auf idealtypische Merkmale reduziert und in der Abstraktion für das Verständnis unterschiedlichster gesellschaftlicher Prozesse relevant.[212] Die Soziologie hat sich als verstehende Wissenschaft dabei jedes Werturteils zu enthalten und sich mit der «Feststellung empirischer Tatsachen»[213] zu begnügen. Als «wertfreie Soziologie»[214] fragt sie nicht nach der «objektiven» Beurteilung der charismatischen Qualität.

«Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‹objektiv› richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‹Anhängern›, bewertet wird, kommt es an […]. Das Charisma eines ‹Berserkers› […] eines ‹Schamanen› […], oder etwa des […] Mormonenstifters […] werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung ‹größten› Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichrangig behandelt.»[215]

Die Anwendung beider methodischer Prinzipien auf das Phänomen des Charismas führt zu einer entscheidenden Variation seines Sinngehalts. Für Sohm war der explizit geistliche Charakter des Charismas konstitutiv: «Das Charisma ist von Gott.»[216] Als Wirkung des Heiligen Geistes ist es eine geschenkte Befähigung und Berufung zum Dienst an der Kirche. Dieser explizite Rekurs auf das Wirken des Geistes geht als geschichtlich bedingtes religiöses Werturteil in der soziologischen Rezeption einerseits durch die idealtypische Abstraktion und andererseits durch das Postulat der Wertneutralität verloren. Der Gottes-Bezug des Charismas, seine vertikale Dimension, ist von der Soziologie als «voraussetzungsloser Wissenschaft» «methodisch ein- bzw. auszuklammern».[217] Empirisch verifizierbar ist daher nur die horizontale Dimension: das subjektives Werturteil der charismatisch Beherrschten, denen das Charisma als das «Außeralltägliche»[218], «noch nie Dagewesene, absolut Einzigartige» und «deshalb» als das «Göttliche» erscheint.[219]

2. Charisma als personale Kategorie: Durch die Prämisse der Wertneutralität und die aus ihr methodisch notwendig folgende Ausklammerung des Gottes-Bezuges, wird das Charisma in Webers Typologie von einer verliehenen Gabe zu einer Qualität der Persönlichkeit.

«‹Charisma› soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‹Führer› gewertet wird.»[220]

Die personale Strukturierung des Charismas spiegelt sich in neuen Begrifflichkeiten, die in Sohms Verständnis keinen Raum hatten, z.B. «persönliches Charisma», «charismatische Qualifikation», «charismatische Qualität».[221] Das Charisma wird zu einer habituell verfügbaren Größe, entweder angeboren oder «durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft»[222].

3. Charisma als Herrschaftsbegriff: Weber interpretiert den theologischen Charismabegriff als Herrschaftsbegriff. Sohms Arbeit versteht er als gedanklich konsequente Herausarbeitung der «soziologischen Eigenart dieser Kategorie von Gewaltstruktur»[223] für die «christliche Hierokratie»[224]. Tatsächlich reflektiert Sohm in seinen Darlegungen immer wieder auf das Problem der Autorität des Charismas: Das Charisma begründe «Überordnung und Unterordnung»[225] und fordere Gehorsam. Der Gehorsam sei aber nicht rechtlich gesichert. Er habe vielmehr die nur «freie Anerkennung des Charismas […] zur Voraussetzung»[226] und sei «aus der Überzeugung geboren…, daß wirklich Gottes Wille durch das Mittel dieses Begabten Gehorsam fordert»[227]. Gehorsam gegenüber dem Charisma sei somit «Liebespflicht nicht Rechtspflicht»[228]. In Webers Darlegungen zur Autorität des Charismas finden sich fast alle genannten Stichworte wieder.[229] Das Weber’sche und die Sohm’sche Verständnis der charismatischen Autorität kommen sich sachlich und sprachlich recht nahe, differieren aber in einem entscheidenden Punkt:[230] Nach Sohm kommt dem charismatisch Begabten nur mittelbare Autorität zu. Die Ekklesia ist streng theokratisch organisiert: Sie wird durch «das Walten des göttlichen Geistes geführt, regiert»[231], jede Form menschlicher Herrschaft ist zunächst ausgeschlossen. Das Regiment Gottes vollzieht sich konkret durch die Verteilung der Charismen und durch sein Wirken in ihnen.[232] Der charismatisch Begabte hat keine andere Autorität als die des in ihm und durch ihn wirkenden Geistes. Sein Handeln ist deshalb ein «Dienst», der persönliche Herrschaft gerade ausschließt.[233] Mit der Umprägung des Charismabegriffs von einer unverfügbaren göttlichen Gabe zur verfügbaren personalen Qualität wandelt sich bei Max Weber auch der Charakter der charismatischen Autorität. Sie ist nicht mehr verliehene, mittelbare Autorität, sondern die persönliche, unmittelbare Autorität des charismatisch Qualifizierten. Der geforderte Gehorsam gilt ihm als Person. Er gründet sich auf der «emotionalen Überzeugung»[234] der Beherrschten, die der Herrscher durch den Erfolg seines Wirkens sichern muss.

 

4. Charisma als das Anti-Institutionelle: In stereotyper Eindringlichkeit hebt bereits Rudolph Sohm die charismatische Organisation der Ekklesia von jeder formalen Institutionalisierung ab. Das geistliche Wesen der Kirche entziehe sich gänzlich rechtlich-weltlicher Organisationsformen. Die Tragik der Geschichte liege gerade darin, dass die Kirche sich zunehmend rechtlich organisierte und dadurch von ihrem wahren pneumatisch-charismatischen Wesen entfernt habe. Diesen «Sündenfall der Kirche»[235] sieht Sohm in der Entstehung des römischen Episkopats und in der Einrichtung des landesherrlichen Kirchenregiments erfolgt.[236] Max Weber setzt in analoger Weise das Charisma in Widerspruch zu allem Institutionellen und Alltäglichen: Das «genuine Charisma» ist «seinem Wesen nach […] kein stetiges ‹institutionelles› Gebilde, sondern […] gerade das Gegenteil»[237]. Aus diesem Gegensatz heraus bestimmt Weber die Eigenart des Charismas vor allem durch negative Abgrenzung: Das Charisma ist «irrational»[238], «alles umwertend»[239], «außeralltäglich», «wirtschaftsfremd»[240]; es ist das «Außerordentliche und Unerhörte, aller Regel und Tradition Fremde»[241], die «Ablehnung der Bindung an alle äußerliche Ordnung»[242], die «revolutionäre Macht der Geschichte»[243]. Dennoch versuche sich die charismatische Herrschaft durch Institutionalisierung zu sichern. Dadurch wandle sie aber ihr ursprüngliches Wesen: Das genuin persönliche Charisma wird veralltäglicht bzw. versachlicht und büßt seine revolutionäre geschichtsbildende Macht ein. Weber verbindet, wie sein theologischer Vordenker Sohm, in dialektischer Weise die idealtypische Trennung beider Größen mit der geschichtlichen Dynamik ihrer Vermengung.

2.2.4.2 Der Einfluss des Weber’schen Charismabegriffs auf den theologischen und allgemeinen Sprachgebrauch

Die Formalisierung des Charismabegriffs durch Max Weber führte zu einer Ausweitung seiner Bedeutung und machte ihn über den innertheologischen Diskurs hinaus für eine Vielzahl sozialer Phänomene im politischen und religiösen Bereich anwendbar. In der Religionswissenschaft wurde das «Charisma» in der spezifisch Weber’schen Konzeption zur beliebten Interpretationskategorie.[244] So verwendet zum Beispiel Rudolf Otto den Begriff weitgehend synonym zu dem, was er in seinem berühmten Buch «Das Heilige» den «numinosen Eindruck» nannte.[245] Charismen sind «Wirkungen von Seele und seelischen Kräften auf Seelen, die den Rahmen normaler seelischer Wirkungen […] weit überschreiten»[246]. Der für Paulus konstitutive pneumatische Ursprung wird in der religionswissenschaftlichen Perspektive zum Interpretament.[247] Joachim Wach differenziert mit Hilfe des «glücklichen Begriff[s] des Charisma» verschiedene Typen religiöser Autorität. Er unterscheidet zwischen dem «persönlichen Charisma» und dem «Charisma des Amtes».[248] Dabei verwendet er den Begriff in einer formelhaften und entleerten Weise, die den theologischen Gehalt nur noch erahnen lässt.[249]

Vermittelt über die religionswissenschaftliche Rezeption wird der Begriff Charisma auch in der Theologie in einer verallgemeinerten Bedeutung angewandt. War bisher nur im Rahmen der paulinischen Pneumatologie und Ekklesiologie vom Charisma die Rede, so kann nun vom persönlichen Charisma der vorstaatlichen Führergestalten oder von Jesus als dem prophetischen Wandercharismatiker gesprochen werden.[250] Soziologische und theologische Motive werden dabei nicht selten unkritisch vermengt, die Differenzen zum paulinischen Sprachgebrauch nur selten markiert. So beschreibt zum Beispiel Gerd Theißen die besondere Autorität Jesu mit dem «religionswissenschaftlichen Begriff ‹Charisma› […], der unabhängig von christologischen Titeln ist und dessen Anwendung auf Jesus kein christliches Bekenntnis voraussetzt»[251]. Das Weber’sche Postulat der Wertfreiheit wird theologisch eingeholt, die Sendungsvollmacht des vorösterlichen Jesus kann unabhängig von christologischen Prämissen interpretiert werden.[252] «Charisma» versteht Theißen dabei gänzlich im Sinne Webers als «irrationale Ausstrahlungskraft auf andere Personen»[253]. Gleichzeitig bezieht er sich aber auf den paulinischen Sprachgebrauch, nach dem sich das Charisma «in außernormalen Begabungen […], vor allem in Prophetie, Wundermacht und Lehre»[254] äußere. Das Verhältnis von theologischem und soziologischem Charismabegriff bleibt dabei ungeklärt, Theißen begnügt sich damit, den Fragehorizont aufzuwerfen.[255] Außerdem wird der theologische Charismabegriff durch Implikationen des soziologischen umgeprägt. Denn die Außernormalität ist für das paulinische Charismenverständnis keinesfalls konstitutiv, sondern ist eher ein Kennzeichen der von den Korinthern hochgeschätzten Pneumatika.

Den Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch findet «Charisma» erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der theologische Gehalt geht dabei immer mehr verloren. In Entsprechung zur Ausweitung des Begriffs durch Max Weber wird «Charisma» zum allgemeinen Ausdruck für herausragende und Aufsehen erregende Qualitäten eines Menschen. Der «Große Duden» nahm den Begriff «Charisma» mit der zwölften Auflage (1941) in sein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung auf und ordnete ihn dem Lemma Charis zu. Die Bedeutung wird dabei noch dem theologischen Sprachgebrauch entsprechend mit «Gnade, Berufung» wiedergegeben,[256] seit der 21. Auflage (1996) allerdings mit «besondere Ausstrahlungskraft».[257] In der außertheologischen Gegenwartssprache herrscht dieser Sprachgebrauch vor: «Charisma ist die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sie festzuhalten»[258], Charisma ist «die magnetische Kraft der persönlichen Ausstrahlung»[259]. So definieren zwei der Ratgeber, die in großer Zahl den Buchmarkt erobern und zum Training des je eigenen Charismas anregen möchten. Denn das persönliche Charisma gilt als der Schlüssel zum Erfolg im Privat- und Berufsleben, zum Teil sogar als die Lösung der abendländischen Gesellschaftskrise.[260] Aus der unverfügbaren geistgewirkten Gnadengabe ist eine methodisch erlernbare persönliche Qualität geworden. Die Differenzen zum genuin theologischen Charismabegriff sind offensichtlich. «Der Charismabegriff hat von seinem ersten Auftreten bei Paulus bis zu seiner heutigen Verwendung eine völlige Umkehrung erfahren.»[261]

Die theologische Beschäftigung mit dem Charismabegriff muss sich dieses Bedeutungswandels bewusst sein und beständig prüfen, ob sachfremde Konnotationen aus der allgemeinsprachlichen oder religionswissenschaftlichen Verwendung in ihr eigenes Verständnis einfließen. Wird dem Charisma zum Beispiel eine habituelle Grundstruktur unterlegt und die pneumatische Ursprungsrelation auf den initialen Akt der Verleihung reduziert, dann wird das Charisma zu einer dem Menschen verfügbaren Begabung, zu einer geistlichen Qualität und Auszeichnung. Dem widerspricht aber die dynamisch-aktuale Akzentuierung des neutestamentlichen Charismabegriffs (→ 5.3). Ähnliches gilt für die Verhältnisbestimmung von Charisma und Amt. Sie fällt bei Paulus wesentlich differenzierter aus, als der Sohm’sche und Weber’sche prinzipielle Antagonismus vermuten lassen (→ 5.6).

2.3 Die Wiedergewinnung der theologischen Relevanz der Charismenlehre in der Theologie des 20. Jahrhunderts
2.3.1 Edmund Schlink: Charismatische Erfahrungen der Bekennenden Kirche

Die Impulse, die einzelne Theologen im 19. Jahrhundert zur Neuentdeckung der Charismenlehre gaben, wurden in der Theologie nach dem zweiten Weltkrieg aufgenommen, so dass es zu einer Wiedergewinnung ihrer theologischen Relevanz kam. In der Diskussion um die kirchliche Reorganisation nach dem Zusammenbruch und vielfachen Scheitern der evangelischen Kirchen unter der nationalsozialistischen Diktatur wurde der Ruf nach theologischen Klärungen laut, die den bisherigen Horizont der konfessionellen Ekklesiologie überblicken und die neuen Erfahrungen reflektieren, die die Gemeinden der Bekennende Kirche gemacht hatten:[262] Als ihnen durch Inhaftierung oder Einberufung die Mehrheit ihrer Pfarrer genommen worden waren, kamen bisher verborgene Charismen zum Vorschein.[263] «Mündige Gemeinde» wurde Wirklichkeit.[264] Edmund Schlink beschreibt diese Erfahrungen in seinem Rechenschaftsbericht über den «Ertrag des Kirchenkampfes» (1947).

«In dieser Situation sind manche Gemeinden zugrunde gegangen. Aber in zahlreichen Gemeinden brachen Dienstleistungen hervor, die in ähnlicher Art zwar schon immer Römer 12 und 1.Kor. 12 bezeugt waren, die man aber bisher nur für die Besonderheit jener urchristlichen Gemeinden gehalten hatte. Es wurden Gaben sichtbar, die zum Teil schon vorher in der Gemeinde dagewesen sein mögen, ohne daß sie unter einem Pfarrer, der alles selbst tun zu müssen glaubt, zur Auswirkung hätten gelangen können; teils wurden diese Gaben in der Notlage der Gemeinden erst von Gott geschenkt. So mancher Kirchenvorsteher begann seinen Auftrag neu zu verstehen als Dienst des Wächters. So mancher, der immer nur Hörer des Wortes gewesen war, trat nun vor die Gemeinde, um mit dem gelesenen Wort, zum Teil aber auch mit eigener Schriftauslegung der gottesdienstlichen Versammlung zu dienen. So mancher, der nie daran gedacht hätte, solches zu tun, begleitete Trauernde zum Grabe […] Neben die schon bestehenden diakonischen Ämter traten nun Lektoren, Katecheten, sowie Männer und Frauen, die Gemeindebezirke als Armenpfleger oder auch als Seelsorger übernahmen, Jugendhelfer, die die Kinder sammelten, sowie sonstige Dienstleistungen in größter Mannigfaltigkeit. In beglückender Weise wurde vielerorts Wirklichkeit, daß jede Gabe der Gesamtheit dient und daß alle Geistesgaben sich gegenseitig ergänzen.»[265]

Die charismatischen Erfahrungen des Kirchenkampfes versteht Edmund Schlink als «Geschenk der Erneuerung», sie bedürfen seiner Einschätzung nach aber dringend einer theologischen Klärung.[266] Diese Aufgabe wurde zunächst von der neutestamentlichen Exegese in Angriff genommen. Die kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Untersuchungen verbinden die historische Rekonstruktion der paulinischen Charismenlehre stets mit einem aktuellen praktischen Interesse. Sie fragen nach dem kritisch-konstruktiven Beitrag der Charismenlehre zur (Neu-)Gestaltung der evangelischen Kirche und ihrer Gemeinden. Beachtet und rezipiert wurden neben Eduard Schweizers Arbeiten vor allem Ernst Käsemanns Vortrag aus dem Jahre 1949 über «Amt und Gemeinde im Neuen Testament» und die Bibelarbeit von Georg Eichholz über die «charismatische Gemeinde» von 1960.[267]