Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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3.4.3.3 Institutionalisiertes Charisma und Charisma als Lebensform

Eine besondere Gefährdung der «Charisma-Institution-Balance»[550] sieht Ralph Kunz im geschichtlichen Prozess der «Veralltäglichung» und «Versachlichung» des Charismas. Mit Weber unterscheidet er zwischen zwei Institutionalisierungsvorgängen. Der erste richte sich nicht prinzipiell gegen das Charisma, sondern wolle es bewahren, indem er die spontanen Beziehungen in Dauerbeziehungen überführt und so den Übergang von der charismatischen Bewegung zur charismatischen Gemeinde anzeigt. Der zweite Institutionalisierungsprozess verändere die Gestalt des Charismas. Das Charisma werde zum Amtscharisma, das grundsätzlich von jedem erworben werden kann. Dieser Prozess der Versachlichung und Veralltäglichung entzaubere das Charisma, es verliere seinen ursprünglichen Glanz und seine revolutionäre Macht. Für die Frage nach dem Gemeindeaufbau ist für Kunz entscheidend, dass in der Situation des versachlichten Charismas die Chance für erneute charismatische Einbrüche steigt. Die kirchlichen Erneuerungsbewegungen, und darunter zählt Kunz auch die Gemeindeaufbaubewegung, seien in soziologischer Perspektive charismatische Revitalisierungsversuche auf der «Suche nach dem ursprünglichen Charisma des Christlichen»[551].

Die doppelte Institutionalisierung des Charismas ist nach Kunz nicht der einzig möglich Sicherungsversuch, daneben stehe ein Konzept, im Anschluss an Winfried Gebhardt «Charisma als Lebensform» genannt werden könne. «‹Charisma-als-Lebensform›-Gemeinschaften»[552] wollen das reine Charisma bewahren, ohne es durch Institutionalisierung zu entschärfen und zu entradikalisieren. Dazu müssen Strategien entwickelt werden, die die «Realisierung der charismatischen Ideale im alltäglichen Vollzug»[553] garantieren. Das «Charisma als Lebensform» werde zur «materialen Kultur», die das ganze Leben aus dem Ideal des charismatischen Ursprungs gestalten will. Als Beispiel führt Kunz das christliche Mönchtum an, das durch Meditation, Gebet und Askese «die Totalität der charismatischen Idee alltäglich zu verwirklichen»[554] sucht.

Der Totalitätsanspruch der «Lebensform» lasse beide Sicherungsversuche in Konflikt treten: Das Amtscharisma werde zum Feind des in der charismatischen Gemeinschaft bewahrten reinen Charismas, welches sich umgekehrt gegen die Institution kehre und sich bei missglückter Integration von ihr trenne. Kunz’ Interesse richtet sich nun auf die Frage, wie die charismatische Sonderexistenz so in die Institution integriert werden kann, dass ihr Vitalisierungspotential erhalten bleibt, sich aber nicht zerstörerisch auswirkt.

3.4.3.4 Gemeindeaufbau als charismatische Revitalisierungsbewegung im Dienst der Institution

Ralph Kunz begegnet daher dem Selbstverständnis des «missionarischen Gemeindeaufbaus» kritisch. Er trete als eine Erneuerungsbewegung an, die die ganze charismatisch veralltäglichte und versachlichte Kirche in die Ursprünglichkeit des reinen Charismas zurückführen wolle.[555] Nicht der Intention der charismatischen Revitalisierung sei dabei zu widersprechen, sondern deren Totalitätsanspruch und dem mit ihm verbundenen Elitebewusstein.[556] Das in der Notwendigkeit der Institutionalisierung begründete zwangsläufige Scheitern dieses Anspruchs führe nämlich konsequent zur Separation elitärer Konventikel, in denen das «Charisma als Lebensform» material gelebt werden kann. Andererseits brauche die Kirche die charismatischen Revitalisierungsbewegungen, denn durch den Institutionalisierungsprozess habe sie sich irreversibel zu einer «formalen Organisation» entwickelt, die unabhängig von der Motivation ihrer Mitglieder bestehe. Der gesellschaftliche und binnenkirchliche Pluralismus verhindere die normative Vorgabe einer materialen Kultur, zum Beispiel einer bestimmten Form der Frömmigkeitspraxis. Das «Grundparadox der kirchlichen Organisation»[557] bestehe aber darin, dass sie keine normativen Ansprüche an ihre Anhänger stelle und doch einer Wahrheit verpflichtet sei, die sie nicht selbst verwalten, sondern der man sich nur im konziliaren Dialog nähern könne. Daher müsse die Kirche die normative und soziale Integration der Mitglieder an «Bewegungen» delegieren. Die materiale Füllung der formalen Struktur, das heißt die Kommunikation des Evangeliums als Erinnerung an ihr ursprüngliches Charisma, könne nur mit Hilfe integrierter Bewegungen geleistet werden.


Gemeindeaufbau ist nach Kunz somit zwar eine Bewegung «gegen die Routinisierung und Veralltäglichung des Charismas», aber nicht «Agitation gegen die Institution».[558] Gemeindeaufbau wolle ihr vielmehr «dienen», indem er sie zur Selbstreflexion anstifte und die Erinnerung an das ursprüngliche Charisma wachhalte.[559] Gemeindeaufbau stehe im Spannungsfeld zwischen den beiden Extremen der «Veralltäglichung des Charismas» auf der einen und «Charisma als Lebensform» auf der anderen Seite. Zwischen diesen Extremen müsse die Kirche als formale Organisation ein breites Spektrum unterschiedlicher materialer Koinonia-Realisierungen offen halten und in Konziliarität miteinander verbinden. Die gelegentliche Teilnahme in der Kasualgemeinde ist eine ebenso theologisch legitime Partizipation wie die kommunitäre Lebensgemeinschaft.

«Es gibt keine normativen Kriterien, die darüber entscheiden könnten, in welcher Gemeinschaftsform sich Koinonia ereignet und in welcher nicht. Dementsprechend kann Gemeindeaufbau auch auf kommunitäre Lebensgemeinschaften abzielen. Gemeindeaufbau soll Koinonia aber auch in der Gottesdienst- oder Kasualgemeinde erhoffen.»[560]

Durch dieses Spannungsfeld ist der Gemeindeaufbau nach Kunz eine ambivalente Bewegung. Er sei einerseits um der materialen Kultur willen notwendig, andererseits aber auch gefährlich. Denn das Spannungsfeld von veralltäglichtem Charisma und charismatischer Lebensform werde dort zum Konfliktfeld, wo der jeweilige Gegenpol ausgeschieden wird. Dies geschehe auf der einen Seite dann, wenn eine bestimmte Koinoniagestalt die ganze Organisation «mit ihrer materialen Kultur überziehen will»[561] und die charismatische Lebensform für die ganze Kirche fordert. Konflikte entstehen auf der anderen Seite aber auch dann, wenn die formale Organisation jede Koinonia-Realisation meint unterbinden zu müssen, die Kritik an Veralltäglichung und Versachlichung der Kirche übt. Damit immunisiert sie sich gegen das Revitalisierungspotential des reinen Charismas. In beiden Fällen würde die dialektische Spannung aufgelöst und damit die Koinonia-Realisation zur totalitären Gemeinschaft (Troeltsch: «Sekte») bzw. die Kirche zur veralltäglichten Anstalt und zum «leere[n] Gehäuse der formalen Organisation».[562]

3.4.4 Koinoniagestaltung als Geisteinheit in Geistvielfalt

Die Konflitkkonstellationen stellen den Gemeindeaufbau vor die Aufgabe, Koinonia zu gestalten und gleichzeitig aporetische Vereinseitigungen zu vermeiden. Die oikodomischen Handlungsmaximen erarbeitet Kunz als Reflexion des materialen Aspektes der Gemeindeaufbautheorie. Angesichts des gegenwärtigen Frömmigkeitspluralismus könne keine bestimmte Koinoniagestaltung zur Norm erhoben werden, ohne in die Aporien des Gemeinschaftsmythos zu geraten.[563] Dieser Gefahr seien die missionarischen Gemeindeaufbaukonzepte erlegen. Sie optieren für einen bestimmten Frömmigkeitstypus – nämlich den pietistischen – und wollen durch ihn die Gemeinde einheitlich gestalten.[564] Demgegenüber fragt Kunz nicht nach einer bestimmten Gestalt, sondern nach dem einheitlichen Gestalt-Prinzip «Spiritualität»[565], das den Frömmigkeitspluralismus nicht reduziert, sondern auf seinen tragenden Grund verweist. Dieses Gestaltprinzip sei die bereits unter prinzipiellem Aspekt dargestellte «heilende Partizipation am Leib Christi». Als opus hominum könne sie im modernen Differenzierungsprozess nur in Vielfalt Gestalt gewinnen, als opus Dei sei sie aber zugleich immer auf den sich im Geist vergegenwärtigenden Christus bezogen und habe in ihm den einenden Grund.[566] Denn der Geist schaffe Einheit, ohne die Vielfalt zu unterdrücken. Koinonia als «Geistgemeinschaft des Leibes Christi»[567] sei daher so zu realisieren, dass die «Pluralität der Gestalten» und die «Einheit ihres Grundes» gleichzeitig bewahrt werden.[568] Das Ziel des Gemeindeaufbaus sei daher nicht totalitäre Vereinheitlichung, sondern «Geisteinheit in der Geistvielheit»[569]. Der Weg zu diesem Ziel wird von Kunz mit dem Stichwort «Konziliarität» markiert. So endet die «Theorie des Gemeindeaufbaus» mit dem Votum:

«Eine konziliare Gemeindeaufbaupraxis wird […] auf den Dialog unter den Gruppen hinwirken und sie an dieses Leben erinnern, das im Glauben tragend erfahren wird. Es gibt für die Frage nach einer zukunftsfähigen Sozialgestalt des Glaubens deswegen keine zeitlosen Baupläne, nach denen ein für allemal Gemeinde (re)konstruiert werden könnte, aber es gibt die hoffnungsvolle Suche nach jenem tragenden Grund, auf dem und durch den die Gemeinschaft der Glaubenden zur Glaubensgemeinschaft verwandelt wird».[570]

3.4.5 Zusammenfassung und kritische Würdigung

1. Die «Theorie des Gemeindeaufbaus» von Ralph Kunz ist der erste und bislang einzige Versuch, den Weber’schen Charismabegriff konstruktiv in die oikodomische Grundlagenreflexion einzubringen.[571] Im Rekurs auf die moderne Weberinterpretation widerspricht er der einseitig anti-institutionellen Auslegung seines Ansatzes, der Teile der protestantischen Ekklesiologie in ihrer kritisch-ablehnenden Haltung gegenüber allem Institutionellen bestärkt hat. In Verbindung mit Troeltschs Typologisierung christlicher Gemeinschaftsformen kommt er zu einer kritisch-komplementären Vermittlung von Institution und Charisma, von Gemeindeaufbau und Kirche, die einen strikten Antagonismus ebenso hinter sich lässt wie eine apriorische Identifikation. Gemeindeaufbau ist nach Kunz als charismatische Revitalisierungsbewegung für die Lebendigerhaltung der Kirche notwendig. Die ängstliche Ablehnung jeder Koinonia-Realisierung lasse die Kirche zum leeren Gehäuse ohne Lebendigkeit erstarren, in der Charisma nur noch in der veralltäglichten und versachlichten Gestalt zu finden sei. Umgekehrt werde Gemeindeaufbau erst durch die konziliare Verbindung mit dem institutionellen Rahmen der Kirche vor der Gefahr bewahrt, eine charismatische Gemeinschaftsideologie totalitär als Norm zu proklamieren. Charisma und Institution seien daher nicht prinzipielle Gegensätze, sondern immer wieder neu zu vermittelnde Momente aller menschlichen Gemeinschaft. Erst die Vereinseitigung eines Moments führe zu aporetischen Konfliktkonstellationen. Der soziologische Charismabegriff verhilft Kunz zu einer «verschärften Wahrnehmung für die Krisenanfälligkeit der Erneuerung menschlicher und religiöser Vergemeinschaftung»[572].

 

2. Die konstruktive Aufnahme von Webers Charismakonzept ermöglicht Kunz auf der einen Seite eine soziologische Begründung der Notwendigkeit von Gemeindeaufbau, wenn sich die Gemeindepraxis nicht auf Verwaltung des institutionalisierten Charismas beschränken soll. Koinonia-Realisierung ist unabdingbar, denn nur in ihr kann die «heilende Partizipation am Leib Christi» Gestalt annehmen. Auf der anderen Seite ist allerdings zu fragen, ob der Gemeindeaufbau nicht relativiert und «domestiziert» wird, wenn normative Elemente prinzipiell unter Totalitarismusverdacht geraten. Jede materiale Gestaltung, die sich nicht dem Diktat des Frömmigkeitspluralismus beugt und sich dadurch selbst in ihrem Anspruch einschränkt, muss dann auf dem Weg in die Aporie «Sekte» gesehen werden. Gemeindeaufbau als (im soziologischen und theologischen Sinn) charismatische Revitalisierungsbewegung wäre dann zwar formal notwendig, in seiner jeweiligen Gestalt aber nur von relativer Bedeutung. Dass angesichts der Individualisierung und Pluralisierung religiöser Lebensformen keine Koinonia-Gestalt absolute Geltung beanspruchen kann und normative Kriterien nicht autoritär-gesetzlich eingebracht werden können, ist nicht generell zu bestreiten. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht in einer bestimmten Gestalt von Koinonia-Realisation grundlegende Einsichten in das Wesen der Gemeinde und in das Wirken des Geistes gestaltbildend gewirkt haben könnten, die dem Frömmigkeitspluralismus der Volkskirche mit ihrer – von Kunz selbst eingestandenen – zum Teil diffusen Religiosität kritisch begegnen und an die charismatische Dimension von Gemeinde erinnern müssten. Zur Diskussion steht letztlich die Normativität der paulinischen Charismenlehre für die praktisch-theologische Reflexion. Kann sie so gefasst werden, dass Charisma Geschenk der Charis bleibt und nicht zur Forderung eines unevangelischen Nomos wird?

3. In diesem Zusammenhang ist weiterhin zu fragen, ob durch den prinzipiellen Verzicht auf «normative Kriterien»[573] die Situation des modernen religiösen Individualismus und der differenzierten volkskirchlichen Mitgliedschaft unter der Hand von einem Faktum zu einer Norm zu werden drohen.[574] Dann würden die «Grundsätze der christlichen Überlieferung», die mit «Einsichten gegenwärtiger Erfahrung» zu «synthetischen Urteilen» zu verbinden sind, die wiederum «die Grundlage der Verantwortung für das gemeinsame Leben der Christen bilden»,[575] noch vor ihrer Vermittlung unter das Kriterium gestellt, inwiefern sie der Situation des neuzeitlichen Christentums entsprechen. Wird aber dem Faktischen implizit oder explizit Normativität zugesprochen, dann muss zwangsläufig das kritische und erneuernde Potential der neutestamentlichen Ekklesiologie und damit auch der paulinischen Charismenlehre soweit relativiert werden, dass es weder dem religiösen Individualismus noch der distanzierten Mitgliedschaft oder der Pfarrerzentrierung widersprechen kann. Die bittere Kritik von Michael Herbst würde dann zutreffen:

«Das Anormale (im Sinne ekklesiologischer Grundentscheidungen des Neuen Testaments) wird zum wohlgelittenen Normalfall stilisiert. Das Normale hingegen muß sich der Verdächtigung der Gesetzlichkeit ausgesetzt sehen. Das normale Christen- und Gemeindeleben wird zum Luxus erklärt, auf den der Getaufte eben auch verzichten kann, ohne daß dies zu großem Kummer in der Volkskirche führen würde.»[576]

4. Aufgrund der möglichen Konvergenz von theologischem und soziologischem Charismabegriff hält Kunz die Auseinandersetzung mit beiden Konzeptionen für «lohnend». Anhand der paulinischen Unterscheidung von χαρίσματα und πνευματικά findet er eine «kritische Anschlussmöglichkeit», die das Potential des soziologischen Charismabegriffs in der Wahrnehmung der konfliktreichen Beziehung von Charisma und Institution auszuschöpfen vermag und zur Ortsbestimmung des Gemeindeaufbaus zwischen «veralltäglichtem Charisma» und «Charisma-als-Lebensform» beiträgt.

Im Vergleich zum soziologischen wird der theologische Charismabegriff aber nur in sehr begrenztem Umfang und stets bezogen auf sein Verhältnis zum soziologischen Derivat interpretiert. Dabei kommt zwar seine strukturelle Außenseite, kaum aber seine pneumatologische Innenseite zur Geltung. Charismata im paulinischen Sinne sind für Kunz «Lebensäusserungen des geistbegabten Menschen», durch die eine «Situation existentieller Betroffenheit» entsteht, in der die «Routine des Alltags zerbricht […] und das Existentielle zum Durchbruch kommt».[577] Es muss gefragt werden, ob diese existentiale Interpretation der Intention der paulinischen Charismenlehre gerecht wird und ihre Relevanz für eine theologische Theorie des Gemeindeaufbaus ausreichend würdigen kann. Auffallend ist jedenfalls, dass im prinzipiellen und materialen Begründungszusammenhang der Koinonia-Realisierung der theologische Charismabegriff keine zentrale Funktion innehat, obwohl sich gerade aus dem von Kunz vertretenen Verständnis der «Koinonia» weiterführende Anschlussmöglichkeiten ergeben hätten. Einerseits entspricht die partizipative und demokratische Struktur der Koinonia dem von Paulus skizzierten Bild der charismatischen Gemeinde. Andererseits hätte durch einen theologischen Rekurs auf die paulinische Charismenlehre die Koinonia-Realisierung als «heilende Partizipation am Leib Christi» nicht nur christologisch-inkarnatorisch als «Beteiligung des Menschen an der Seinsmächtigkeit des lebendigen Christus»[578], sondern zugleich pneumatologisch als Indienstnahme durch das charismatische Wirken des Heiligen Geistes begründet werden können. Christen können sich – wie Kunz in Aufnahme einer Formulierung Bonhoeffers sagt – gegenseitig als «Bringer der Heilsbotschaft»[579] begegnen, weil sie vom Geist durch das Charisma in je individueller Verschiedenheit dazu befähigt und berufen werden.

5. Weiterhin ist zu fragen, ob über den Charismabegriff nicht auch eine Vermittlung von opus Dei und opus hominum oder zumindest eine pneumatologische Präzision der von Kunz als «fundamentale Verlegenheit» bezeichneten Spannung «zwischen Handeln und Glauben» möglich gewesen wäre.[580] Einen Anknüpfungspunkt bietet Kunz selbst, indem er menschliches und göttliches Handeln in den Zusammenhang von Geisteinheit und Geistvielheit stellt:

«Sofern Koinonia-Realisierung prinzipiell als ein opus dei begriffen wird, ist sie die Bewegung des Geistes Christi, von dem gilt, dass er Einheit ist (1Kor 12; Eph 4). Wird die Realisierung der Koinonia als ein opus hominum verstanden, muss die Vielfalt der Bewegungen Thema werden. Für die Theorie des Gemeindeaufbaus ist diese Würdigung der Pluralität der Gestalten unter Wahrung der Einheit ihres Grundes die zentrale Entscheidung, die die Grundlage bildet für die Reflexion der Gemeinschaftsbildung.»[581]

Hier könnte weiter gefragt werden, ob von 1Kor 12–14 her nicht nur die Einheit, sondern auch die Vielheit auf ein opus Dei zurückzuführen ist. Sie wäre dann nicht nur Folge der conditio humana, sondern als Ausdruck des charismatischen Geistwirkens zu qualifizieren. Die Vielfalt, an der jeder konziliaren Gemeindetheorie besonders gelegen ist, würde dadurch einerseits auf das Christusbekenntnis als dem Kriterium, Ziel und einenden Punkt der Geistmanifestationen beziehbar (1Kor 12,2), andererseits auf den gemeinsamen Gottesdienst als dem originären Ort, an dem sich der Geist in der Vielfalt der Charismen konkretisiert, Oikodome und Koinonia wirkt (vgl. 1Kor 14,23.26).[582]

3.5 Fritz und Christian A. Schwarz: Gemeindeaufbau als Charismatik

Die Konzeptionen und Programme, die sich einem missionarisch-evangelistischen Gemeindeaufbau-Ansatz zuordnen lassen, sind von Anfang an durch eine Rezeption der paulinischen Charismenlehre gekennzeichnet. Der Entdeckung, Förderung und dem Einsatz der Charismen möglichst vieler engagierter Gemeindeglieder kommt eine zentrale Bedeutung zu.[583]

Bereits die 22 «Thesen zur missionierenden Kirche», die die lutherische Generalsynode 1958 in Berlin-Spandau verabschiedete und die als «Spandauer Thesen» bekannt wurden,[584] propagierten als Leitbild «die missionarisch ausgerichtete, in allen ihren Gliedern tätige, überschaubare und gegliederte Gemeinde»[585]. Die Thesen nahmen Impulse der Haushalterschaftsbewegung auf, die möglichst viele Gemeindeglieder nach 1Petr 4,10 zum verantwortlichen Einsatz ihrer von Gott gegebenen Gaben (z.B. Zeit, Kraft, Geld und Begabung) ermutigen wollte.[586] Die 14. These betont nachdrücklich die Notwendigkeit, die charismatischen Begabungen der Gemeindeglieder «zu entdecken und in den Dienst zu stellen»[587].

Nachdem es in den Jahren nach den Spandauer Thesen zunächst «still um den missionarischen Gemeindeaufbau»[588] geworden war, kam Ende der 70er Jahre eine «neue Diskussion um den Gemeindeaufbau»[589] auf, die in den 80er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Das Buch des württembergischen Prälaten und späteren Landesbischofs Theo Sorg «Wie wird die Kirche neu» (1977) steht am Anfang einer wachsenden Zahl von Entwürfen und Konzepten zum missionarischen Gemeindeaufbau. Dabei tauchen die Grundlinien von Sorgs Buch «in mehr oder minder veränderter Form in etlichen Veröffentlichungen zum missionarischen Gemeindeaufbau der folgenden Jahre immer wieder auf»[590]. Dies gilt nicht zuletzt für die «Wiederentdeckung der Gemeinde als charismatische Wirklichkeit»[591]. Sie bildet für Sorg zusammen mit dem «Ernstmachen mit der biblisch-reformatorischen Erkenntnis des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden»[592] den Ansatzpunkt des Gemeindeaufbaus. Wirklichkeit wird beides zunächst in kleinen geistlichen Zellen und von dort aus in der Gesamtgemeinde.[593]

«In diesen verbindlichen, bruderschaftlichen Hausgemeinden und Dienstgruppen wird sich heute am klarsten und überzeugendsten die neutestamentliche Wirklichkeit vom Leibe Christi und seinen Organen (1.Kor 12), die ‹charismatische Gemeinde›, darstellen und bewähren können. Diese geistliche Zellenarbeit kann zugleich das Ende des Ein-Mann-Systems in der Kirche bedeuten.»[594]

In einer ähnlichen Weise nimmt auch die «Theologie des Gemeindeaufbaus» von Fritz und Christian A. Schwarz ihren Ausgangspunkt in der «Ekklesia», die sich in ganzheitlichen Gemeinschaften geistlichen Lebens zum Hören und Beten, Feiern und Arbeiten zusammenfindet. Die paulinische Charismenlehre spielt in diesem Entwurf eine zentrale Rolle, so dass die Autoren die Gleichung aufstellen können: «Gemeindeaufbau ist Charismatik, nichts als Charismatik»[595] (→ 3.5.2). Christian A. Schwarz entwirft einen «Gabentest», der sich als wichtiges Hilfsmittel zur Entdeckung der je eigenen charismatischen Begabung und als Ausgangspunkt aller oikodomischen Strategien versteht (→ 3.5.3). Später entwickelt er den Ansatz der «Theologie des Gemeindeaufbaus» zur «gemeindekybernetischen Strategie» bzw. «Natürlichen Gemeindeentwicklung» weiter (→ 3.5.4), hält dabei aber an der Zentralstellung der Charismatik fest. «Gabenorientierte Mitarbeiterschaft» wird von ihm zu einem der acht Basisprinzipien wachsender Gemeinden erhoben.

Die oikodomische Konzeption und das Charismenverständnis von Fritz und Christian A. Schwarz können nur auf dem Hintergrund der nordamerikanischen Church-Growth-Bewegung verstanden werden (→ 3.5.1).[596] Beide Autoren, vor allem aber der jüngere, sind von ihr entscheidend beeinflusst worden, sowohl in der Zielsetzung wie auch in der Methodik des Gemeindeaufbaus. Die Darstellung setzt daher bei Donald A. McGavran, dem «Vater» des Church-Growth-Movements ein (→ 3.5.1.1). Sein pragmatisch-ethischer Ansatz wird von C. Peter Wagner übernommen, dessen Verständnis der «geistlichen Gaben» einen kaum zu überschätzenden Einfluss nicht nur auf Christian A. Schwarz, sondern bis heute auf weite Teile der Christenheit hat (→ 3.5.1.2). «NETWORK», das Gemeindeseminar der Willow Creek Community Church, das auf die Entdeckung und den Einsatz der Charismen möglichst vieler Gemeindeglieder zielt,[597] basiert im Wesentlichen auf C. Peter Wagners Arbeiten. Die Materialien sind weltweit im Einsatz, erschienen u.a. in deutscher Übersetzung («D.I.E.N.S.T.») und erfuhren bereits eine Adaption, die der landeskirchlichen Situation in Deutschland gerecht zu werden sucht («M.A.R.P.»).[598]