Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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2 Die Marginalisierung der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz

Die Charismenlehre wurde im Laufe der Theologiegeschichte nur selten zum Thema eingehender Reflexionen. In den großen theologischen Systemen kam ihr meist nur eine marginale Bedeutung zu. Ihre Behandlung wurde vielmals erst durch Erneuerungsbewegungen angestoßen und gefördert, die innerhalb oder außerhalb der institutionell verfassten Kirche für eine Realisierung des allgemeinen Priestertums und die Freisetzung der charismatischen Vielfalt eintraten.[42] Die Charismenlehre blieb aber weitgehend ein Randthema der akademischen Theologie. Erst im 19. und 20. Jahrhundert kam es allmählich zu einer Wieder- bzw. Neuentdeckung der Charismenlehre und ihrer theologischen Relevanz.[43]

Die Gründe für die Marginalisierung sind vielschichtig. Sie hängen einerseits mit der pastoralen Orientierung der traditionellen Theologie zusammen, sind andererseits aber auch durch eine einseitige Rezeption der Charismenlehre bedingt, die sich bereits seit der Alten Kirche abzuzeichnen beginnt. Die Charismen werden zunehmend als wunderhafte pneumatische Erscheinungen der ersten Christenheit verstanden. Ihre theologische Bedeutung beschränkt sich damit auf die historische Betrachtung der Anfangszeit der Kirche. Charisma wird zu einem musealen Begriff, der im Schaukasten der Geschichte betrachtet werden kann, aber seine grundlegende Relevanz für das kirchliche Leben und die theologische Reflexion verloren hat. Begleitet und begünstigt wird diese Entwicklung durch die allmähliche Übertragung zentraler Gemeindefunktionen auf das kirchliche Amt. Was die paulinische Charismenlehre der ganzen Gemeinde zuspricht, konzentriert und beschränkt sich letztlich auf den in seiner unverlierbaren geistlichen Würde von der Gemeinde unterschiedenen Amtsträger. Das jedem Glaubenden verheißene Charisma wird zum Privileg des kirchlichen Amtes.

Im Folgenden werden die Entwicklung der mirakulösen und pastoralen Usurpation der Charismenlehre und die Wiederentdeckung ihrer theologischen Relevanz skizziert. Angestrebt ist dabei keine erschöpfende kirchen- oder theologiegeschichtliche Studie,[44] sondern ein exemplarischer Überblick in praktisch-theologischem Interesse.[45] Eine Untersuchung zur praktisch-theologischen Rezeption und Relevanz der Charismenlehre muss theologiegeschichtliche Erblasten klären und vergessene Einsichten vergegenwärtigen, wenn überkommene Verengungen aufgedeckt und weiterführende Impulse aufgenommen werden sollen.

2.1 Die mirakulöse und pastorale Usurpation der Charismenlehre und die Marginalisierung ihrer theologischen Relevanz
2.1.1 Von Clemens bis Origenes: Die Frage nach der Aktualität der Charismen

Die grundlegende theologische Bedeutung, die dem Charisma in der paulinischen Ekklesiologie zukommt, findet in der nachneutestamentlichen Zeit zunächst wenig Widerhall. Bei den Apostolischen Vätern erscheint der Begriff χάρισμα zwar mehrmals im formalen Anklang an paulinische Formulierungen, doch nur in 1Clem 37,5–38,2 wird das theologische Konzept, das der Apostel mit dem Begriff verbunden hat, inhaltlich aufgenommen und für die eigene Argumentation fruchtbar gemacht.[46] Angesichts der Spannungen zwischen Jung und Alt ermahnt Clemens die korinthische Gemeinde, wie Glieder in einem Leib zusammenzuwirken, und fordert: «Jeder soll sich seinem Nächsten unterordnen, wie es in seiner Gnadengabe bestimmt ist.»[47] Die paulinische Einsicht in den göttlichen Ursprung, die Universalität und den Gemeindebezug des Charismas klingt im Kontext an: Jeder wird von Gott mit einem Charisma begabt und ist als einzelnes Glied für die Gesamtheit des Leibes von Bedeutung (vgl. auch 1Clem 46,7). Die nach alttestamentlichem Vorbild gestaltete Unterscheidung von Priester und «Laie» (λαϊκὸς ἄνθρωπος),[48] die jedem einen festen «Platz» (τόπος) in der «Ordnung» (τάγμα) der Gemeinde zuweist (1Clem 40,5 vgl. u.a. 40,1; 41,1; 42,2) und der der erste Clemensbrief seine Beurteilung als frühkatholische Schrift verdankt,[49] ist noch nicht mit einer Beschränkung des Charismas auf den Amtsträger verknüpft. Sie tendiert aber bereits zu einer Abschwächung der Souveränität des Geistes bei der Verteilung der Charismen. Als einmal ausgeteilte und habituell verfügbare Größe führt das Charisma einerseits zu einer rechtlich fixierten Privilegierung einzelner Personen, andererseits zur Einschränkung des Dienstes des «Laien» auf das Nichtkultische (1Clem 41,1–4). Eine Eingrenzung der Charismen auf wunderhafte Phänomene ist im ersten Clemensbrief dagegen nicht zu finden. Im Unterschied zu Paulus wird das Charismatische sogar ins Ethische und Soziale ausgeweitet. Nach 1Clem 38,2 haben nicht nur der Weise (vgl. 1Kor 12,8) und der Enthaltsame (vgl. 1Kor 7,7) ein besonderes Charisma empfangen, sondern auch der Demütige, der Starke, der Schwache, der Reiche und der Arme.[50]

Ein anderes Bild beginnt sich bei den Apologeten des zweiten Jahrhunderts abzuzeichnen. Justin und Irenäus sind von der bleibende Aktualität der Charismen «bis auf den heutigen Tag»[51] und ihrer konstitutiven Bedeutung für das tägliche segensreiche Wirken der Kirche überzeugt. Die Charismen werden von Christus an jeden Glaubenden, «den er für würdig erachtet»[52], durch den Geist ausgeteilt – und zwar an Männer und Frauen.[53] Wahrer Jünger bzw. wahre Jüngerin Christi zu werden und mit Gaben des Geistes beschenkt zu werden, ist für Justin untrennbar miteinander verbunden.[54] In ähnlicher Weise schreibt Irenäus:

«Deshalb tun in dessen Namen auch seine wahren Jünger, die von ihm die Gnade empfangen haben, Wunder, zum Segen der übrigen Menschen, je nachdem jeder das Gnadengeschenk (δωρεά) von ihm bekam. Die einen treiben nämlich wirklich und wahrhaftig Dämonen aus […]; andere wissen die Zukunft voraus und haben Gesichte und Weissagungen; noch andere heilen durch Handauflegung die Kranken und machen sie wieder gesund. Auch Tote sind schon erweckt worden […] und haben noch eine beträchtliche Zahl von Jahren unter uns gelebt. Was weiter? Es läßt sich die Zahl der Gnadengaben (χαρίσματα) nicht angeben, mit denen die Kirche, die sie von Gott empfing, überall auf der Welt im Namen Jesu Christi […] Tag für Tag zum Segen der Völker wirkt, ohne jemand zu täuschen oder Geld dafür zu nehmen.»[55]

Irenäus lehnt sich in den zitierten Versen zum Teil an den biblischen Sprachstil an.[56] Die beispielhafte Aufzählung einzelner Charismen orientiert sich an den wunderhaften Gaben aus 1Kor 12,8–10 und Mk 16,17f. Erwähnt werden Exorzismen, prophetische Weissagungen, Krankenheilungen und Totenauferweckungen,[57] während weniger spektakuläre Charismen wie z.B. seelsorgliche Ermahnung (Röm 12,6) oder fürsorgliche Hilfeleistung (1Kor 12,28) ungenannt bleiben. Diese Eingrenzung ist zwar aus der polemischen Abgrenzung gegenüber den aufsehenerregenden und auf eigenen Profit ausgerichteten magischen Praktiken der Gnostiker verständlich,[58] zeigt aber eine grundsätzliche Tendenz, die Charismen «aus dem nüchternen Gebiet der Gemeindeerbauung in das Gebiet der σημεῖα und τέρατα, des Prodigiösen, hinüberzuziehen»[59]. Der wunderhafte Aspekt, den Paulus im Konflikt mit dem korinthischen Enthusiasmus zwar nicht aus dem Charisma ausgeschlossen, aber als nicht konstitutiv erachtet hat, tritt nun ins Zentrum des Begriffs.

Die Auseinandersetzung mit dem Montanismus hatte einen nicht geringen Einfluss auf das sich wandelnde Verständnis der neutestamentlichen Geistesgaben. Der Anspruch der Bewegung, «die charismatische Fülle der Apostelzeit weiterzuführen»[60], und die großkirchliche Ablehnung der ekstatischen Prophetie führten zu einer Festigung der sich allmählich abzeichnenden Identifikation von Charisma und außerordentlichem Wunder.[61] Bereits das Insistieren auf der bleibenden Bedeutung der neutestamentlichen Charismen konnte unter den Verdacht des Häretischen gelangen. Der «Rauhreif», der nach einer eingängigen Formulierung Urs von Balthasars mit Montanus auf die christliche Charismatik gefallen war, ist «nie wieder ganz behoben» worden.[62] Da zugleich versäumt wurde, den Charismen «den ihnen zukommenden Platz in der Kirche und ihrer Theologie anzuweisen»[63], konnte seit der Mitte des dritten Jahrhunderts die Frage nach der Fortdauer der neutestamentlichen Charismen nicht mehr durch einen Hinweis auf ihre gegenwärtige Fülle, sondern musste zurückhaltender und vorsichtiger beantwortet werden. Attestierte Ignatius am Anfang des zweiten Jahrhunderts der Kirche noch, dass sie überaus reich mit Charismen beschenkt sei,[64] so findet sich bei Origenes zum ersten Mal eine Klage über ihren Rückgang.

«Wundere dich aber nicht, wenn jetzt keiner mehr gefunden wird, der in Gottes Augen wahrhaftig weise ist. Denn die meisten der besonderen Charismen sind vergangen, so dass sie entweder gar nicht (mehr) oder nur (noch) selten gefunden werden.»[65]

Die Charismenfülle der urchristlichen Zeit ist zwar vergangen und mit ihr die außerordentlichen Wunder, von denen in der Gegenwart nur noch «Spuren» zu finden sind.[66] Dennoch ist χάρισμα bei Origenes nicht «zu einem archaischen Begriff»[67] geworden, denn die sich im zweiten Jahrhundert andeutende Entwicklung zu einem mirakulösen Verständnis wird bei Origenes nicht fortgesetzt. So bezeichnet er einerseits die Taufe als «Anfang und Quelle der göttlichen Charismen»[68]. Andererseits folgert er – gemäß seiner Hochschätzung der Wissenschaft und Erkenntnis – aus der Reihenfolge des «Kataloges der von Gott gegebenen Charismen» (nach 1Kor 12,8–10), dass die Wunderkräfte und Heilungen den keineswegs vergangenen vernunft- bzw. worthaften Charismen (λογικὰ χαρίσματα) unterzuordnen sind.[69]

2.1.2 Die Apostolischen Konstitutionen: Ein Demutsappell an die charismatisch begabten Amtsinhaber

Die Apostolischen Konstitutionen, eine apostolische Verfasserschaft beanspruchende heterogene Sammlung und Überarbeitung verschiedener kirchenrechtlicher und liturgischer Ordnungen aus dem 4. Jahrhundert,[70] enthalten zu Beginn des achten Buches den ersten und einzigen erhaltenen Text aus altkirchlicher Zeit, der die Charismen zum Thema praktisch-theologischer Überlegungen macht. Dabei scheint es, als wäre die sich im zweiten Jahrhundert andeutende Einengung der Charismen auf das Mirakulöse zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Denn unter den von Gott «durch den Heiligen Geist verliehenen Charismen» (τὰ […] διὰ τοῦ πνεύματος διδομένα χαρίσματα) werden zunächst nur die «Zeichen» (σημεῖα) aus Mk 16,17f (Exorzismen, Krankenheilungen und Glossolalie) genannt, die den Aposteln und ihren Schülern zur Überzeugung der Ungläubigen verliehen wurden.[71] Da aber nicht jeder Glaubende einer Gnadengabe gewürdigt ist,[72] führt die ganze Erörterung zu einer Ermahnung an diejenigen, die Charismen empfangen haben (οἱ λαβόντες χαρίσματα), sich nicht über die zu erheben, die sie nicht empfangen haben (οἱ μή λαβόντες).[73] Die Kraft zum Wundertun komme nämlich nicht aus ihnen selbst, sondern ausschließlich von Gott.[74]

 

Daneben erscheint aber eine andere Argumentation, die ein erweitertes Charismenverständnis zeigt:[75] Es wird ausdrücklich klargestellt, dass die Unterscheidung zwischen Charismatikern und Nicht-Charismatikern eben nur für die wunderhaften Charismen gilt.[76] Geistlicher Hochmut sei weiterhin ausgeschlossen, weil es in einem allgemeinen Sinn keinen zum Glauben gekommenen Menschen gebe, der nicht eine «geistliche Gabe» (χάρισμα πνευματικόν) empfangen habe.[77] Die folgende Ausführung zeigt allerdings, dass der Verfasser hierbei nicht mehr die Vielfalt charismatischer Dienste vor Augen hat, die Paulus jedem Glaubenden in je individueller Verschiedenheit zugesprochen hatte. Das jedem Menschen verliehene Charisma ist vielmehr identisch mit dem Glauben ans christologische Dogma und mit der Abkehr von Judentum, Heidentum bzw. Häresie. Das jedem auf seine Weise verliehene Charisma beruft, ermächtigt und begabt nicht mehr zur Ausübung einer bestimmten Funktion in der Gemeinde, sondern wird hier im allgemeinen Sinn auf den privaten Heilsglauben und an anderer Stelle auf Tugenden eingeschränkt.[78] Von daher ist es fast zwangsläufig, dass die Ermahnung an die Charismatiker, sich nicht über die anderen zu überheben, «unter der Hand»[79] zu einer Ermahnung der «Priester» (ἱερεῖς) wird, sich aufgrund der ihnen verliehenen Gnadengabe nicht über die «Laien» (λαϊκοί) zu erheben.[80] Sie sind im eigentlichen Sinn «diejenigen, die eines Charismas oder einer Ehrenstellung gewürdigt werden».[81] Die Charismen außerhalb des Amtes unterliegen zwar nicht – wie Moritz Lauterburg meint[82] – einer konsequenten «Nichtanerkennung», haben allerdings für die Gemeindepraxis keine wesentliche Bedeutung mehr. Es wundert daher kaum, dass die folgenden Kapitel über die kirchliche Weihe der Bischöfe mit dem Satz eingeleitet werden, dass man nun zu dem «wichtigsten Punkt der kirchlichen Organisation» komme.[83] Somit findet sich in den Konstitutionen neben dem mirakulösen Missverständnis der Charismen als wunderhafte Phänomene auch die Konzentration auf das Amt, wenn auch beides noch nicht in sachlicher und terminologischer Strenge durchgeführt wird.

Insgesamt bleibt diese erste praktisch-theologische Abhandlung über die Charismen auffallend blass. Sie übernimmt aus der paulinischen Charismenlehre letztlich kaum mehr als die Warnung vor geistlichem Hochmut, während die grundsätzliche theologische und praktische Relevanz des Charismabegriffs für das Zusammenwirken der gesamten Gemeinde oder für ein vertieftes Verständnis des geistlichen Amtes weitgehend unbeachtet bleibt.

2.1.3 Johannes Chrysostomus: Die Fokussierung des Charismas auf den begabten Lehrer

Ein Blick auf Johannes Chrysostomus zeigt, dass die Entwicklung des Charismenverständnisses nicht linear verläuft, sondern komplex bleibt. In der Frage nach der bleibenden Aktualität der Charismen bleibt Chrysostomus, wie es zunächst scheint, hinter Origenes und den Apostolischen Konstitutionen zurück. Die Charismen, die er an mehreren Stellen seines umfangreiches Werkes mit den Zeichen und Wundern der Urchristenheit identifiziert und als «Befähigung zu wunderhaften Auftreten und Wirken»[84] versteht, sind nicht mehr wie bei Origenes nur spurenhaft vorhanden, sondern «längst vergangen»[85]. Sie waren nur die zeitlich begrenzte Ergänzung und Bekräftigung der apostolischen Missionspredigt, die aufgrund der fehlenden Bildung der Apostel und der Verblendung der Hörer durch den heidnischen Götzendienst notwendig wurde – eine Erklärung, die in ähnlicher Weise schon im achten Buch der Apostolischen Konstitutionen begegnet und im Laufe der Theologiegeschichte immer wieder aufgegriffen werden wird.[86] Nun herrsche «Unkenntnis und Mangel an den Dingen, die sich zwar damals ereigneten, aber jetzt nicht mehr geschehen»[87]. Das Aufhören dieser Charismen ist für Chrysostomus aber nicht wie etwa bei Origenes Gegenstand des Bedauerns oder der Klage. Denn das Ziel, das die Charismen verfolgt haben, könne auch ohne sie erreicht werden.[88] Die Charismen sind entbehrlich geworden.

Scheint Chrysostomus zunächst ganz auf der Linie des sich allmählich einengenden Charismenverständnisses zu stehen, so zeigt sich doch immer wieder, dass der «eigentliche Bibelmann des 4. Jahrhunderts»[89] durch seine intensive Paulusexegese zumindest teilweise «zu einer stillschweigenden Revision seines Urteils»[90] geführt wurde. Denn neben den wunderhaften kennt Chrysostomus durchaus noch «andere Charismen»[91] und greift dabei paulinische Aussagen auf. So erschließt er aus Röm 8,26f das «Charisma des Gebetes», von dem heute noch die «Erinnerung» im liturgischen Fürbittgebet des Diakons für das ganze Volk erhalten sei.[92] Außerdem legt er immer wieder großen Wert auf die bleibende Aktualität des von ihm hochgeschätzten Charismas der Lehre.[93] Es ist nicht auf die kirchlichen Amtsträger beschränkt, sondern findet sich in abgeschwächter Form bei jedem Gemeindeglied.[94]

«Sage nicht, warum habe ich nicht das Lehrcharisma erhalten? Oder: wenn ich es besäße, so würde ich Unzählige erbauen. Du weißt nicht, wenn du es besäßest, ob es dir nicht zum Gericht sein würde, ob nicht Mißgunst oder Trägheit dich dahin bringen würden, das Talent zu vergraben […] Übrigens bist du auch jetzt nicht ganz ohne dies Charisma […]. Wenn du auch nicht in der Kirche einen großen Vortrag zu halten vermagst, so kannst du doch in deinem persönlichen Lebensbereich heilsame Mahnungen erteilen.»[95] «Darum ermahne ich euch: vernachlässigt nicht jeder dies Charisma. Jeder hat ja entweder ein Weib oder einen Freund, einen Diener oder einen Nachbarn. Diesen vermahne er, den ermuntere er […]. Und zum besseren Verständnis wisse: Der, der die fünf Talente empfing, ist der Lehrer, und der das eine empfing, der Schüler (der Laienchrist). Wenn nun der Schüler spräche: Ich bin Schüler und laufe keine Gefahr, und vergrübe (sein Talent, nämlich) das Redevermögen, das er von Gott erhielt, weil es ihn gewöhnlich und zu nichts nütze dünkte, und ermunterte weder, noch redete er frei heraus […], sondern vergrübe es in der Erde - denn Erde und Asche ist in Wahrheit ein Herz, das Gottes Charisma verbirgt -, sei es aus Faulheit und Böswilligkeit, so hülfe ihm die Ausrede nichts: Ich habe nur ein Talent empfangen.»[96]

Die Annäherung des Chrysostomus an die von Paulus betonte Universalität charismatischer Befähigung ist bemerkenswert.[97] Sie stellt eine kritische Stimme dar in einer Zeit, in der viele Dienste und Funktionen «im institutionellen Amt der Gemeindeleitung monopolisiert»[98] waren, zu denen Paulus alle Glaubenden durch das ihnen je individuell zukommende Charisma ermächtigt und berufen sah.[99] Dennoch kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kirchliche Klerus der eigentliche Charismenträger ist, während sich bei den Laienchristen nur schwache Abschattierungen der Geistesgaben finden und ihr Dienst auf den privaten Bereich beschränkt bleibt. Die erstmals bei Chrysostomus erscheinende bewusste Verbindung des Gleichnisses von den Talenten mit den paulinischen Charisma-Aussagen verfestigt zudem die schon bei 1Clem beobachtete Tendenz zu einem habituellen Charismenverständnis. Charisma wird zu einer einmal zugeteilten und verfügbaren Begabung. Die Souveränität des Geistes beschränkt sich auf einen initialen Akt, der nicht nur das Maß charismatischer Begabung, sondern auch den jedem zukommenden Platz in der Gemeinde bleibend festzulegen scheint.

2.1.4 Thomas von Aquin: Die Charismen als «gratiae gratis datae» zur Bevollmächtigung des kirchlichen Amtsträgers

Das entbehrlich gewordene Charisma wird in den folgenden Jahrhunderten zu einem «Randphänomen» theologischer Reflexion,[100] das außerhalb oder am Rande der großkirchlichen Theologie, im Mönchtum und in der mittelalterlichen Mystik, neue begriffliche Formen findet.[101] Erst bei Thomas von Aquin stößt das Thema wieder auf ein Interesse, das für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich war. An zwei Stellen innerhalb der «Summa Theologica» beruft sich Thomas explizit auf 1Kor 12,4–11 und die dort genannten Gaben,[102] verwendet für sie aber nicht den latinisierten Begriff charisma,[103] sondern das aus der augustinischen Tradition kommende Syntagma gratia gratis data («freigewährte Gnade»).[104] Im Unterschied zur «rechtfertigenden Gnade» (gratia gratum faciens) bewirkt die «freigewährte Gnade» nicht die eigene Rechtfertigung, sondern die des anderen. Sie ist die Gnade, «wodurch ein Mensch mit dem anderen mitwirkt, damit er zu Gott zurückgeführt werde […]. Ein solches Geschenk heißt ‹freigewährte Gnade›, weil diese dem Menschen über die Fähigkeit der Natur hinaus und über das Verdienst der Person hinaus gewährt wird.»[105]

Der Ausrichtung auf die Rechtfertigung des anderen Menschen entspricht die Konzentration auf die Lehre des Evangeliums als der einen gratia gratis data, aus der alle in 1Kor 12,8–10 genannten weiteren Formen der Gnade deduziert und je einem der drei Aspekte der Lehre (Erkenntnis, Bekräftigung, Vortrag) zugeordnet werden können:[106]

1. Erkenntnis: «Glaube» (als Zustimmung zur Glaubenswahrheit der Kirche), «Rede der Weisheit» (als Kenntnis der göttlichen Dinge) und «Rede der Wissenschaft» (als Kenntnis der menschlichen Dinge) wirken im Menschen «die Fülle der Erkenntnis der göttlichen Dinge, damit er aus dieser Fülle andere unterrichten kann».

2. Bekräftigung: Die «Gnade der Heilungen», das «Wirken von Wundern», die «Prophetengabe» (als Voraussage der Zukunft) und die «Unterscheidung der Geister» (als Offenbarung des im Herzen Verborgenen) sind gegeben, «daß er das Gesagte bekräftigen oder beweisen kann».

3. Vortrag: Die «Sprachengaben» (als Kenntnis der Sprache der Hörer) und die «Auslegung der Rede» (als Übersetzung der Tradition) helfen, «daß er das, was er empfängt, den Hörern sinnvoll vortragen kann».

Die Systematisierung[107] zeigt die Überordnung der Lehre als dem Charisma schlechthin, dem alle anderen Gnadengaben funktional unter- oder zugeordnet werden. «Während bei Paulus die Charismen vorwiegend auf die einzelnen Gemeindeglieder verteilt erscheinen, deren jedes seine Gliedfunktion erhält, sind sie bei Thomas allesamt Funktionen eines einzigen Auftrages.»[108] Diese Einschränkung der charismatischen Vielfalt führt aber unweigerlich zur Eingrenzung des Kreises charismatisch Begabter auf diejenigen, denen die gratia der Lehre zukommt: die alttestamentlichen Propheten, Christus als Quelle und Fülle aller Gnaden, die Apostel als Nachfolger Christi und der «Doktor», «da er für die heutige Kirche als Hermeneut des Wortes Gottes die Stelle der Propheten einnimmt und für den Predigerbruder Thomas die zentrale geistige Funktion in der Kirche ausübt».[109] Damit werden die Charismen Gegenstand einer vornehmlich historischen Betrachtungsweise. In der Gegenwart sind sie im Wesentlichen auf die kirchlichen Amtsträger beschränkt,[110] so dass «in einer Verschränkung von Amt und Charisma […] die kirchliche Charismatik als ganze zu einer Teilhabe an der apostolischen Vollgewalt und Vollgnade»[111] wird. Dem entspricht ihr systematisch-theologischer Ort am Ende der theologischen Ethik der Summa: Nach der Behandlung der alle Menschen bzw. Christen betreffenden Sittenlehre kommt Thomas zu der «Erwägung […], was einige Menschen im besonderen betrifft»[112]. Von den Charismen der «Laien» ist bei Thomas im Gegensatz zu Johannes Chrysostomus nicht mehr die Rede. Die aktuelle Relevanz der Charismenlehre bleibt im Wesentlichen auf den kirchlichen Amtsträger als den privilegierten Inhaber des Lehrcharismas beschränkt.