Verfassungsprozessrecht

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IV. Das Bundesverfassungsgericht – Herr des Verfahrens?



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Das BVerfG hat sich wiederholt, seit Beginn seiner Rechtsprechung, als „Herr seiner Verfahren“ bezeichnet (vgl BVerfGE 13, 54, 94; 36, 342, 357; 60, 175, 213). Es leitet diesen Herrschaftsanspruch insbesondere aus der für sich reklamierten Stellung als Verfassungsorgan ab.



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Die Behauptung eigener Verfahrensautonomie des BVerfG wird prima facie durch

Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG

 dementiert. Denn danach sind dem BVerfG – anders als den übrigen Verfassungsorganen – Verfassung und Verfahren durch den Bundesgesetzgeber vorgegeben. Es besitzt also gerade nicht die Befugnis, sein Verfahren selbst zu regeln. Die erstrittene Geschäftsordnungsautonomie betrifft lediglich den internen Geschäftsgang, nicht aber die Stellung des BVerfG gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Die Redeweise vom BVerfG als „Herr seiner Verfahren“ wird denn auch im Schrifttum als „gründlich missglückt“ charakterisiert, verbunden mit der Aufforderung, sie tunlichst beiseite zu lassen. Verfahrensherrschaft kann danach in der Tat nicht rechtliche Ungebundenheit bedeuten; die Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über die Verfassung und das Verfahren des BVerfG stehen nicht zur Disposition des Gerichts. Das BVerfG nennt sich denn nun auch – präziser – Herr des Verfahrens „im Rahmen rechtlicher Bindungen“ (BVerfGE 60, 175, 213).



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Was aber kann Verfahrensherrschaft unter dieser Voraussetzung bedeuten? Das BVerfG deutet die angebliche

Lückenhaftigkeit der Prozessordnung

 als implizite Ermächtigung, diese durch eigene Regelungen autonom zu schließen: „Das BVerfGG enthält keine erschöpfende Verfahrensregelung, sondern beschränkt sich auf wenige, unbedingt erforderliche, den Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepasste Bestimmungen. Im Übrigen ist es dem Gericht überlassen, die Rechtsgrundlagen für eine zweckentsprechende Gestaltung seines Verfahrens im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht zu finden“ (BVerfGE 1, 109, 110 f; siehe auch BVerfGE 2, 79, 84). Diese angebliche Befugnis des BVerfG zur Schließung wirklicher oder vermeintlicher Lücken in der gesetzlichen Regelung des Verfassungsprozessrechts stößt, auch wenn sie sich auf die Entstehungsgeschichte des BVerfGG berufen kann, auf durchgreifende Bedenken. Sie lässt außer Acht, dass nicht ein vom BVerfG in Selbstermächtigung frei geschöpftes Verfahren, sondern nur die gesetzlich bestimmte Verfahrensordnung dem Prozedieren und Entscheiden des BVerfG die – wie für alle Staatsgewalt, so auch für dieses Rechtsprechungsorgan erforderliche – demokratische Legitimation zu vermitteln vermag.

Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG

 enthält daher nicht nur eine Regelungsermächtigung, sondern auch eine Regelungsverpflichtung, der der Gesetzgeber (vollumfänglich) nachkommen muss.



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Trotzdem ist es nicht falsch, wenn das BVerfG als „Herr des verfassungsgerichtlichen Verfahrens“ bezeichnet wird, also als derjenige, der den Ablauf des Verfahrens nach seinem eigenen Willen bestimmt. Diese Herrschaft vollzieht sich indes nicht schlicht und einfach durch – rechtswidrige – Missachtung des vorrangigen Verfahrensgesetzesrechts, sondern – subtiler und verfahrensrechtlich unangreifbar – durch dessen „eigenmächtige“ Interpretation. So hat beispielsweise das BVerfG mit der Entwicklung der so genannten Doppelhypothese (siehe dazu

Rn 1054 ff

) einen autonomen, von den sonstigen Prozessordnungen abweichenden Entscheidungsmaßstab für seine Entscheidung über beantragte einstweilige Anordnungen nach

§ 32 BVerfGG

 festgelegt. Darüber hinaus hat es die gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgenaussprüche bei Normverwerfungen „ausdifferenziert“ und damit modifiziert. Mit Hilfe dieser Selbststeuerung des verbindlichen Entscheidungsinhaltes übt es interpretative Herrschaft im Verfahren aus. Gleiches gilt für die Extension der Entscheidungswirkungen nach

§ 31 Abs. 1 BVerfGG

, indem hier die Bindungswirkung über den Entscheidungstenor hinaus auf die tragenden, verfassungsrechtlichen Gründe erstreckt wird, und für die Vollstreckungsanordnungen nach

§ 35 BVerfGG

 (dazu

Rn 28 ff

).



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Das BVerfG vermag auch durch strenge(re) oder „großzügige(re)“ Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der einzelnen Verfahrensarten den Zugang zu ihm selbst zu verschließen bzw weit zu öffnen. Beispiele dafür sind einerseits die beständige Steigerung der Zulässigkeitsanforderungen an Richtervorlagen gemäß

Art. 100 Abs. 1 GG

 in Verbindung mit

§ 80 Abs. 2 BVerfGG

 einerseits, die Zulassung von auf

Art. 38 Abs. 1 GG

 im Sinne eines subjektiven Rechts auf Bewahrung der Demokratie auch im fortgesetzten Prozess europäischer Integration gestützten Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht und die in diesem Zusammenhang vorgenommenen Verfassungsänderungen (BVerfGE 89, 155), den Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267) und zuletzt gegen den OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank (BVerfGE 134, 366; 142, 123, 173–175 mwN) andererseits.



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Die Frage, ob das BVerfG bei alledem stets die Grenzen möglicher Auslegung der einschlägigen Verfahrensvorschriften hinreichend beachtet hat oder – darüber hinausgehend – in unzulässiger Weise Rechtsfortbildung betrieben hat (äußerst kritisch insoweit zum OMT-Vorlagebeschluss die Sondervoten

Lübbe-Wolff

 und

Gerhardt

, BVerfGE 134, 366, 419 ff, 430 ff, vgl auch

Rn 70 f

), die allein Sache des Gesetzgebers ist, erscheint müßig. Denn sowohl die Interpretation wie auch eine etwaige Rechtsfortbildung ist verfahrensrechtlich nicht angreifbar, allenfalls, wenn der Gesetzgeber die dafür notwendige „Widerstandskraft“ aufbringen sollte, gesetzlich mit Wirkung pro futuro revidierbar.



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In diesem Sinne einer Interpretationsherrschaft kommt dem BVerfG in der Tat aufgrund seiner Kompetenz zur verbindlichen Letztentscheidung der reklamierte Anspruch auf Herrschaft über und durch das Verfahren zu; die prozessrechtliche Gebundenheit geht also mit interpretativer Autonomie einher.



§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland

 › V. Das Bundesverfassungsgericht – Herr der Vollstreckung?






V. Das Bundesverfassungsgericht – Herr der Vollstreckung?



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Gemäß

§ 35 BVerfGG

 kann das BVerfG in seiner Entscheidung nicht nur bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Das BVerfG erblickt in dieser Vorschrift eine unbeschränkte Generalermächtigung zum Erlass von Vollstreckungsanordnungen; der Gesetzgeber habe ihm mit

§ 35 BVerfGG

 insoweit „die volle Freiheit belassen“, das Gebotene in der jeweils sachgerechtesten, zweckmäßigsten, einfachsten und wirksamsten Weise zu erreichen (BVerfGE 6, 300, 304). Das BVerfG hat diese Kompetenz dazu benutzt, insbesondere in Normenkontrollverfahren nach der Nichtigerklärung eines Gesetzes durch von Amts wegen erlassene Vollstreckungsanordnungen dem Gesetzgeber detaillierte Vorgaben zu machen, die den Charakter einer richterlichen Anweisung für eine zukünftige verfassungskonforme Neuordnung annehmen. „Auf diese Weise erhält die Vollstreckungsregelung, als bloße Übergangsbestimmung deklariert, in ihrer Eigenart wie ihrer Wirkung den Charakter einer gesetzesvertretenden Notverordnung“.



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Das BVerfG und die ihm folgende Literatur interpretieren „die Vorschrift des

§ 35 BVerfGG

 als die Ermächtigung , den in seiner Entscheidung aufgedeckten verfassungswidrigen Zustand auf die schnellstmögliche und wirksamste Weise in einen verfassungsmäßigen zu überführen“. In Wahrnehmung seiner so verstandenen Entscheidungsverantwortung hat das BVerfG – vergleichbar den Verfahren der Kommunalaufsicht – ein abgestuftes Interventionsinstrumentarium entwickelt. Dieses beginnt mit der „Beanstandung“, also der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme oder Norm, führt sodann über die Anweisung zur Behebung des Verstoßes (als Akt der „Selbstreinigung“), also über den (fristgebundenen) Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, bis hin zur „Ersatzvornahme“, dh zu einer Art von Selbsteintrittsrecht des BVerfG, das bei „Versagen“ des Gesetzgebers selbst als „Not- oder Ersatzgesetzgeber“ fungiert (vgl BVerfGE 39, 1, 2 f, 68; 88, 203, 209 ff, 336 ff; 102, 197, 198, 223; 103, 111, 113, 141 f; 109, 256, 274; 127, 123, 163–165).



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Diese Interpretation der Vollstreckungskompetenz nach

§ 35 BVerfGG

, die unter Vollstreckung hier den „Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom BVerfG gefundenen Rechts notwendig sind“ (BVerfGE 68, 132, 140 mwN) begreift, eine Auslegung, bei der „das Gericht recht eigentlich zum Herrn der Vollstreckung“ wird (BVerfGE 6, 300, 304), während der Gesetzgeber in die Rolle eines nachgeordneten Vollzugsorgans gedrängt wird, ist nicht unbestritten geblieben und erscheint entstehungsgeschichtlich zweifelhaft. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass Normverwerfungen, also die Nichtigerklärung von Gesetzen, sich im Regelfall von selbst vollstrecken, weil dann wieder die frühere, durch das verfassungswidrige Gesetz nur scheinbar abgelöste Gesetzeslage gilt. Der Vollstreckung fähig und bedürftig sind im eigentlichen Sinne nur Leistungs-, nicht aber Feststellungs- und Gestaltungsurteile.

 



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Doch es gilt auch hier: Das BVerfG hat sich, im Wege der Interpretation des

§ 35 BVerfGG

, eine

umfassende Vollstreckungsbefugnis

 attestiert. Dem könnte der Gesetzgeber allenfalls durch eine einschränkende Gesetzesänderung wirksam entgegentreten. Mit einer solchen Regelung ist jedoch nicht zu rechnen, weil der Gesetzgeber sich hier dem politisch nicht durchzuhaltenden Vorwurf einer Entmachtung des BVerfG ausgesetzt sähe. An diesem Beispiel lässt sich erneut erkennen, dass die Interpretationsgewalt das eigentliche Herrschaftsinstrument des BVerfG, die Grundlage seiner Rechtsmacht ist. Mit den dreifachen Kompetenzen zur Nichtigerklärung von Gesetzen (

§§ 78

,

79

 iVm

§ 31 Abs. 2 BVerfGG

), zum Erlass einstweiliger Anordnungen gemäß

§ 32 BVerfGG

 und zur Anordnung von Vollstreckungsregelungen gemäß

§ 35 BVerfGG

 vermag das BVerfG den Gesetzgeber zu dominieren; es kann – jedenfalls als ultima ratio – selbst dekretieren, was als verfassungskonforme Regelung zu gelten hat. Zwar kommt Entscheidungen nach

§ 35 BVerfGG

 selbst keine formelle Gesetzeskraft zu, aber dem Gesetzgeber bleibt, wenn er nicht eine Staats- und Verfassungskrise auslösen will, praktisch nichts anderes übrig, als sich den Anordnungen des BVerfG zu beugen.



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Zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise wird häufig angeführt, dass das BVerfG dem Gesetzgeber „Steine statt Brot“ gäbe, wenn es im Zusammenhang mit einer Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes nicht zugleich dem Gesetzgeber signalisierte, wie eine verfassungskonforme Regelung aussehen könnte; ansonsten wäre der nächste Verfassungsprozess vorprogrammiert (s. dazu BVerfGE 108, 282, 314, 336 f – SV

Jentsch, Di Fabio, Mellinghoff

). Doch eine solche, über die Gesetzesverwerfung hinausgehende, die dem Gesetzgeber obliegende Entscheidung vorprägende und zumindest teilweise vorwegnehmende Wegweisung durch das BVerfG lässt sich auch nicht mit gerichtlicher Fürsorge rechtfertigen: „Der Gesetzgeber ist selbst und aus sich heraus für die Verfassungsmäßigkeit seiner gesetzgeberischen Entscheidungen verantwortlich“ (BVerfGE 93, 121, 152 – SV

E.-W. Böckenförde)

.



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Geht die Ausübung der Befugnisse nach

§ 35 BVerfGG

 durch das BVerfG mitunter auch so weit, dass es den Gesetzgeber unter Umständen sogar, falls er nicht binnen einer gesetzten Frist „pariert“, zur Umsetzung seiner verfassungsrechtlichen Anweisungen für entbehrlich erachtet, indem es selbst vorschreibt, wie die Rechtslage sein soll, wenn der Gesetzgeber die ihm gesetzte Frist für eine Neuregelung verstreichen lässt (siehe nur BVerfGE 99, 300, 304), so darf andererseits nicht übersehen werden, dass dem BVerfG eine Vollstreckungsgewalt im eigentlichen Sinne, dh eine Befehls- und Zwangsgewalt fehlt. Es ist und bleibt letztendlich stets hinsichtlich der Befolgung seiner Entscheidungen und deren Umsetzung auf die

Akzeptanz der anderen Staatsorgane

 angewiesen. Diese sind zwar, soweit die Rechtskraft und die darüber hinausgehende Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG reichen, von Rechts wegen zum Gehorsam verpflichtet. Sie haben es aber jedenfalls faktisch in der Hand, sich den Entscheidungen des BVerfG und ihren Folgewirkungen zu entziehen. Das BVerfG muss deshalb im ureigenen Interesse – zur Wahrung seiner unangefochtenen Autorität – darauf achten, dass es die übrigen Staatsgewalten nicht „überfordert“, indem es den relativ unbestimmten Verfassungsrechtssätzen allzu detaillierte Vorgaben entnimmt, die deren eigene Gestaltungsfreiheit übermäßig beschneidet. Bisher haben sich die übrigen Staatsorgane, zumeist sogar klaglos, in ihr Schicksal gefügt und sind dem BVerfG in steter „Verfassungsorgantreue“ gefolgt.



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Das BVerfG verfügt nicht über

zwangsweise Durchsetzungsmechanismen

 gegenüber einer Politik, die sich weigert, die Konsequenzen aus der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu ziehen.





Auf die sich daraus ergebenden Grenze des Justitiablen macht das Sondervotum

Lübbe-Wolff

 (BVerfGE 134, 366, 419, 421) nachdrücklich aufmerksam: „Bei der Bestimmung der Reichweite richterlicher Kompetenzen muss die Reichweite richterlicher Durchsetzungsmacht berücksichtigt werden. Das ist nicht nur eine Klugheitsregel zur Vermeidung von Autoritätsverlusten, die der Funktionsfähigkeit eines Gerichts gefährlich werden können, sondern auch ein Gebot des Rechts. Denn die Machtmittel, mit denen Verfassung und Gesetz ein Gericht oder die Gerichte im Allgemeinen ausgestattet oder nicht ausgestattet haben, lassen Schlüsse auf die dem Gericht oder der Justiz im Allgemeinen zugedachten Kompetenzen zu.“



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Das BVerfG ist insoweit auf die

Folgebereitschaft der Politik

 angewiesen. Es ist so gesehen, aber auch nur so gesehen, die „schwächste der Gewalten“, die „mit dem Recht des letzten Wortes die höchste Funktion im Verfassungsstaat . Darin liegt ein Paradoxon der Gewaltenteilung“. Dem BVerfG ist es jedoch nach dem erfolgreich durchgestandenen Status-Streit sowie nach den ersten großen Streitentscheidungen (vgl etwa das Erste Rundfunkurteil betreffend die von Bundeskanzler

Adenauer

 beabsichtigte Gründung einer Deutschland-Fernsehen GmbH, BVerfGE 12, 205), in denen es die darin hinsichtlich seiner eigenen Stellung enthaltene politischen Machtprobe bestanden hat, gelungen, sich so viel Autorität zu verschaffen, dass seinen Entscheidungen stets der notwendige Respekt entgegengebracht, ihnen ein Maß an Akzeptanz zuteil wird, das eine „Befehlsverweigerung“ praktisch ausschließt.





Möglicherweise führt aber seine europaverfassungsrechtliche Rechtsprechung das BVerfG hier an Grenzen, „die Grenzen des ohne Verstoß gegen Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip durch ein Gericht Entscheidbaren“; davor hat insbesondere die Richterin

Lübbe-Wolff

 (Sondervotum, BVerfGE 134, 366, 419, 420, das Gericht gewarnt.



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Dabei profitiert das BVerfG auch von dem Gegeneinander der Regierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit einerseits, der Opposition (in Bund und Ländern) andererseits; so ärgerlich eine juristische Niederlage in Karlsruhe ist, eine politische Trotzreaktion dagegen ist nicht nur juristisch zwecklos, sondern auch politisch schädlich; sie würde vom politischen Gegenspieler als „Anschlag auf die Verfassung“ gebrandmarkt und damit politisch erfolgreich abgewehrt. Unter diesen politischen Rahmenbedingungen aber genügt das Wissen um die Rechtsverbindlichkeit der Entscheidungen des BVerfG, um einzusehen, dass politischer Widerstand sinnlos wäre. Die Entscheidungen zu respektieren und soweit erforderlich umzusetzen, erscheint daher als Gebot politischer Klugheit.



§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland

 › VI. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber






VI. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber



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Bei dem Spannungsverhältnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber geht es um die Gegenläufigkeit von politischer Rechtsetzungsmacht einerseits und der verfassungsgerichtlichen Befugnis andererseits, in Normenkontrollverfahren Gesetze des Parlaments außer Kraft zu setzen, sofern und soweit diese dem GG widersprechen. Ein solches

richterliches Prüfungs- und Verwerfungsrecht

 am Maßstab der Verfassung verändert die Gewaltenbalance zum Nachteil der gesetzgebenden Körperschaften; ihre Rolle im Prozess der Verfassungskonkretisierung reduziert sich auf die eines „gestaltende Erstinterpret“ und Erstanwenders der Verfassung (vgl BVerfGE 101, 158, 236). Zwar folgt schon aus dem Vorrang der Verfassung gewissermaßen spiegelbildlich der Nachrang des Gesetzes; aber erst das Letztentscheidungsrecht des BVerfG auch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit vom Parlament erlassener Gesetze führt dazu, dass das Parlament nur noch das Recht des ersten interpretativen Zugriffs auf die Verfassung hat, in der „Vorhand“ ist, aber sich der maßgeblichen Letztinterpretation der Verfassung durch das kontrollierende BVerfG ausgesetzt und unterworfen sieht. Nicht nur der Gesetzgeber, der sich in unzulässiger Weise seiner verfassungsrechtlichen Bindungen entledigen will, sondern auch der redliche, die offenen und daher häufig mehrdeutigen Verfassungsbestimmungen lege artis auslegende Gesetzgeber sieht seine Verfassungsinterpretation durch das letzte Wort, das dem BVerfG gehört, überspielt („overruling“). Dieses Ergebnis tritt häufig ein, weil das BVerfG die verfassungsinterpretierende und -konkretisierende Staatspraxis anderer Staatsorgane bei der Auslegung der diese verpflichtenden Verfassungsbestimmungen nur äußerst selten berücksichtigt oder gar als für die Auslegungsfrage präjudiziell beachtet (vgl ausnahmsweise BVerfGE 62, 1, 1 f (LS 4), 38 f zu

Art. 68 GG

 – Bundestagsauflösung 1983).



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Das BVerfG garantiert den

Vorrang der Verfassung

 (

Art. 1 Abs. 3

,

20 Abs. 3 GG

) auch vor dem Willen der demokratischen Mehrheit. Diese verfassungsgerichtliche Kontrolle schränkt die demokratisch legitimierte Entscheidungsmacht des Gesetzgebers effektiv ein. Auch und gerade gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber kommt dem BVerfG das entscheidende letzte Wort in Verfassungsfragen zu. Dabei ist das BVerfG zwar an die Verfassung als seinen Prüfungsmaßstab gebunden, aber die Auslegung dieses Maßstabes liegt in seiner eigenen Hand. Nichts anderes meint der berühmte Ausspruch des amerikanischen Chief Justice

Charles E. Hughes

 aus dem Jahre 1907: „We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is“.



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Der politische

Handlungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

 kann durch engmaschige verfassungsgerichtliche Vorgaben in Konkretisierung der vagen verfassungsrechtlichen Vorgaben empfindlich beschnitten werden. Gegen die verbindliche Verfassungsinterpretation des BVerfG kann sich die demokratische Mehrheit jedoch nicht durch Rechtsverwahrung wehren. Ihr kann nur der verfassungsändernde Gesetzgeber mit qualifizierter Mehrheit (

Art. 79 Abs. 2 GG

) wirksam entgegentreten. In dieser Konstellation droht die demokratische Mehrheit entmachtet zu werden. Daher erhebt sich die Frage, wie der verfassungsrechtlich gebundene demokratische Souverän wieder in sein Recht gesetzt und wie verhindert werden kann, dass die demokratische Willensbildung des Volkes ihre entscheidende Bedeutung verliert. Gesetzgeberische Gestaltung darf nicht zum bloßen Verfassungsvollzug nach Maßgabe diesbezüglicher Anweisungen durch das BVerfG degradiert werden. Im Kern geht es also um die Frage nach den Grenzen der Grenzen der Demokratie.



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Es besteht die Gefahr einer schleichenden, durch extensive Verfassungsinterpretation bewirkten „Veränderung des vom Grundgesetz festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht“, die Gefahr eines Einbruchs des BVerfG in den originären Kompetenzbereich des Gesetzgebers (vgl BVerfGE 93, 121, 151 f – SV

Böckenförde

; siehe auch BVerfGE 135, 1, 29, 32 – SV

Masing

: „Zu entscheiden, was Recht sein soll, ist im demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, der hierfür gewählt wird und sich in einem politischen Prozess vor der Öffentlichkeit verantworten muss.“

 



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Wie kann die Gefahr gebannt werden? Wo liegt die

Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit

? Umfang und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit werden durch den dem BVerfG durch das Grundgesetz und auf dessen Grundlage erteilten Kontrollauftrag bestimmt. Seine Funktionsgrenze wird durch seine auf die Verfassung als Prüfungsmaßstab begrenzte Kompetenz gezogen: „Denn richterliche Entscheidungen sind als Entscheidungen durch Amtsträger, die der Bürger durch die Ausübung seines Wahlrechts weder unmittelbar noch mittelbar zur Verantwortung ziehen kann, vor dem Demokratie- und dem Gewaltenteilungsprinzip nur als Entscheidungen nach rechtlichen Regeln gerechtfertigt“ (Sondervotum

Lübbe-

Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421).



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Das BVerfG wahrt also den eigenständigen Funktionsbereich der anderen Verfassungsorgane, wenn es sich – entsprechend seinem Kontrollauftrag –

darauf beschränkt nachzuprüfen

, ob sich die zu kontrollierenden Staatsgewalten, auch der Gesetzgeber, innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen gehalten haben, die das GG als verfassungsrechtliche Rahmenordnung der ihnen im Übrigen zukommenden Gestaltungsfreiheit gezogen hat. „Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das BVerfG ihrer Verletzung entgegentreten“ (BVerfGE 62, 1, 51). Die Kognitionskompetenz des BVerfG ist wie alles richterliche Entscheiden auf „determinationskräftige rechtliche Maßstäbe“ angewiesen (Sondervotum

Lübbe-

Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421). Im Ergebnis sind damit genuin politische Fragen von der verfassungsgerichtlichen Befassung ausgenommen, wie dies die vom BVerfG nicht übernommene political-question-Doktrin postuliert.



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Soweit verfassungsrechtliche Maßstäbe existent sind, kann das BVerfG sich dieser ihm aufgetragenen Kontrollfunktion aber auch nicht entziehen. Kompetenzen sind zugleich

Wahrnehmungspflichten

. Die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt genau dort, wo es an (Verfassungs-)Rechtsnormen fehlt. Es besteht also ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Funktion und Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit und dem ihr zugewiesenen Prüfungsmaßstab des materiellen Verfassungsrechts: Das BVerfG hält sich im Rahmen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktion immer dann, wenn es nicht selbst Politik betreibt, sondern die ihm zugewiesenen Kontrollaufgabe ausschließlich am Maßstab der Verfassung vornimmt, also seiner Funktion als Gericht gerecht wird.



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Aus der Maßgeblichkeit der Verfassung als Prüfungsmaßstab des BVerfG folgt, dass nicht das Gericht, sondern – gegebenenfalls – die Verfassung selbst entweder zurückhaltend oder fordernd ist. Nicht das BVerfG erkennt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu oder an, sondern das GG selbst. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist mit anderen Worten das, was nach Abzug der verfassungsrechtlichen Bindungen, die das BVerfG erkennt, an verfassungsrechtlicher Ungebundenheit übrig bleibt. Das Problem verlagert sich damit (wieder) auf die dem BVerfG aufgegebene

Auslegung des Grundgesetzes

; sie kann zurückhaltend(er) ausfallen oder extensiv(er) betrieben werden. Je nach dem verbleibt dem Gesetzgeber mehr oder weniger freier Gestaltungsspielraum, dem Gesetz mehr oder weniger Selbstand gegenüber der Verfassung.



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Dagegen führt die in der Literatur propagierte

Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnormen

 im Bereich der Verfassung in die Irre. Handlungs- und Kontrollnorm sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das, was aus der Sicht des in Pflicht genommenen Staats- und Verfassungsorgans als eine an ihn gerichtete „Handlungsnorm“ erscheint, stellt für das BVerfG die maßstäbliche Kontrollnorm dar, an der es das Handeln oder Unterlassen staatlicher Organe zu messen hat. Handlungs- und Kontrollnormen weisen daher keine inhaltlichen Unterschiede aus. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Reichweite der Bindung der zur Anwendung des Verfassungsrechts primär berufenen Verfassungsorgane einerseits und dem Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung andererseits. Das GG enthält dafür jedenfalls keinen Anhaltspunkt. Vielmehr weist es dem BVerfG in den ihm zur Entscheidung zugewiesenen Verfahren uneingeschränkt die Aufgabe zu, die Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen oder die Vereinbarkeit staatlicher Maßnahmen mit der gesamten Verfassung zu überprüfen. Die verfassungsgerichtliche Prüfung ist deshalb

so intensiv wie die materielle verfassungsrechtliche Bindung

. Die einzelnen, mit Bindungswirkung ausgestatteten Verfassungsbestimmungen unterscheiden sich aber in ihrer normativen Regelungsdichte. Für jede Norm der Verfassung ist gesondert zu ermitteln, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sie Beurteilungs- und Handlungsspielräume der zuständigen staatlichen Organe schafft und anerkennt, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen. Die innerhalb dieses Rahmens zu treffenden Entscheidungen sind – verfassungsrechtlich nicht determiniert – politischer Natur und entziehen sich damit der nur am Maßstab des Grundgesetzes orientierten Rechtsprüfung durch das BVerfG.



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Nicht unproblematisch ist auch die These von der gebotenen Selbstbeschränkung des Gerichts

(judicial self-restraint)

, die das BVerfG selbst aufgegriffen hat (BVerfGE 36, 1, 14). Die „Beschränkung“, der das BVerfG unterliegt, ist die auf eine gerichtsförmige Rechtskontrolle am Maßstab der Verfassung, dh eine Beschränkung auf die ihm zugewiesenen Entscheidungskompetenzen. Der Begriff der

Selbst

beschränkung suggeriert dagegen, dass das BVerfG großzügigerweise auf die Ausübung einer Kompetenz verzichtet, die ihm eigentlich zustünde. Das aber wäre unzulässig. Anders formuliert: „Selbstbeschränkung setzt Selbstermächtigung voraus Nichtentscheidung trotz gegebener Entscheidungszuständigkeit ist für ein Gericht Kompetenzüberschreitung“. Andererseits kann angesichts der verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzordnung in der Tat nur das mit der Letztentscheidungsbefugnis und dem Recht zur verbindlichen Auslegung des Grundgesetzes ausgestattete BVerfG selbst, also der „unkontrollierte Kontrolleur“ verhindern, dass der Gesetzgeber seine Eigenständigkeit einbüßt, und zwar durch sachgerechte, das gewaltenteilige System des Grundgesetzes im Auge behaltende Auslegung. Das BVerfG darf nicht der Versuchung erliegen, die verfassungsrechtlichen Anforderungen, denen auch die demokratische Mehrheit ihren politischen Willen unterordnen muss, zu überdehnen und ein „gouvernement des juges“ zu errichten. Je mehr Sachentscheidungen nämlich durch autoritative Verfassungsinterpretation seitens des BVerfG als verfassungsrechtlich determiniert gelten, umso weniger Entfaltungsraum verbleibt für den demokratisch legitimierten politischen Prozess. Hier geht es indes letztlich um „amtsethische Erwartungen an das BVerfG“, um einen Appell an das staatspolitische Verantwortungsbewusstsein des BVerfG, nicht dagegen um eine verfahrensrechtlich bestimmbare, „einklagbare“ Funktionsgrenze (zu den Schwierigkeiten der Bestimmung des genauen „Grenzverlaufs“ siehe auch Sondervotum

Lübbe-

Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421).



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Der Vorrang gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit außerhalb des Kernbereichs des durch die Verfassung unabstimmbar Vorgegebenen beruht auf der Erwägung, dass in einem demokratischen Gemeinwesen vor allem der durch das Volk unmittelbar legitimierte parlamentarische Gesetzgeber dazu berufen ist, im öffentlichen Willensbildungsprozess unter Abwägung der verschiedenen, widerstreitenden Interessen nach dem Mehrheitsprinzip über die von der Verfassung offen gelassenen Fragen zu entscheiden (BVerfGE 33, 125, 159; 35, 79, 148, 152 f – abweichende Meinung; 85, 386, 403 f). Dies ist die Logik der parlamentarischen Demokratie, die der p