Verfassungsprozessrecht

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§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland

Inhaltsverzeichnis

I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht

II. Das Bundesverfassungsgericht – ein Verfassungsorgan?

III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?

IV. Das Bundesverfassungsgericht – Herr des Verfahrens?

V. Das Bundesverfassungsgericht – Herr der Vollstreckung?

VI. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber

VII. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts

§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht

I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht

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Das Bundesverfassungsgericht übt rechtsprechende Gewalt aus (Art. 92 HS 2 GG), die Richtern anvertraut ist (Art. 92 HS 1 GG). Das BVerfGG qualifiziert daher das Bundesverfassungsgericht als einen allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständigen und unabhängigen Gerichtshof des Bundes (§ 1 Abs. 1 BVerfGG). Die Stellung des BVerfG als Gericht bedeutet, dass aus Richtern zusammengesetzte Spruchkörper, die nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind (Art. 97 Abs. 1 GG), in ihre Zuständigkeit fallende Streitigkeiten anhand rechtlicher Maßstäbe entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht übt wie jedes andere Gericht Rechtskontrolle aus, indem es in den ihm zur Zuständigkeit zugewiesenen Streitigkeiten das Verhalten sämtlicher anderer Staatsorgane sowie der Verwaltungsbehörden und Fachgerichte am Maßstab des Grundgesetzes – und teilweise bei Akten der Landesstaatsgewalt auch am Maßstab sonstigen Bundesrechts, das Vorrang genießt (Art. 31 GG) – entscheidet. Diese gerichtsförmige Rechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterscheidet sich nicht prinzipiell von der anderer Gerichte. Die interpretative Sinnentfaltung des Grundgesetzes stellt zwar angesichts dessen regelmäßiger Wortkargheit und der relativen Unbestimmtheit der verwandten Rechtsbegriffe wohl eine noch anspruchsvollere Aufgabe als die der Gesetzesauslegung und -anwendung dar. Dies macht den Vorgang – anders als Carl Schmitt gemeint hat – aber noch nicht notwendig zu politischer Dezision, auch wenn die Prüfungsgegenstände selbst nicht selten politischer, ja hochpolitischer Natur sind und die Einleitung und Durchführung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, erst recht aber seine rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen, auch politischer Natur sind. Die Aufgabe des BVerfG bleibt dessen ungeachtet die eines Gerichts.

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Die Beschränkung der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht auf eine Kontrolle der Grundrechtskonformität von Akten öffentlicher Gewalt macht das Bundesverfassungsgericht im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) gegenüber der zwecks Erschöpfung des Rechtswegs vom Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst anzurufenden Fachgerichtsbarkeit genau zu jenem, eine auf die mögliche Verletzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte beschränkte Rechtmäßigkeitskontrolle durchführenden „Superrevisionsgericht“, welches das Bundesverfassungsgericht nach eigenem Bekunden nicht sein will (BVerfGE 7, 198, 207). Indem das BVerfG die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein zur Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und seiner eigenen Nachprüfung entzogen erklärt hat (BVerfGE 18, 85, 92), weist es lediglich die Rolle eines „Superberufungsgerichts“ von sich. Entgegen seinem erklärten Selbstverständnis unterzieht es allerdings doch immer wieder einmal Streitgegenstände einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung und geriert sich damit wie ein Berufungsgericht.

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Es entspricht dem Gerichtscharakter des BVerfG, dass es nur auf Antrag entscheidet (vgl zum Antragsgrundsatz § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) und grundsätzlich nur über den Gegenstand, den der Antrag vorgibt (vgl BVerfGE 2, 347, 367 f; 73, 1, 28 – Organstreit; 93, 121, 151 f – SV Böckenförde; zur Möglichkeit nachträglicher Beschränkung siehe BVerfGE 126, 1, 17 f)[1]. Auch für das BVerfG gilt also grundsätzlich: wo kein Kläger, da kein Richter. Die Antragsabhängigkeit des Tätigwerdens des BVerfG erfährt zwei bedeutende Einschränkungen: Zum einen hält es sich ohne nähere Begründung für befugt, auch von Amts wegen eine vorläufige Regelung eines streitbefangenen Rechtsverhältnisses durch Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG zu erlassen (BVerfGE 1, 74, 75; 1, 281, 282 f; 42, 103, 119 f; 46, 337, 338; 112, 284, 293; 140, 211, 224)[2]. Zum anderen ist das BVerfG im – dem Individualrechtsschutz dienenden – Verfassungsbeschwerdeverfahren und im kontradiktorischen Organstreitverfahren dazu übergegangen, nach Antragsrücknahme bei Bestehen eines von ihm selbst festzustellenden „objektiven“ Klärungsbedürfnisses noch in der Sache zu entscheiden (BVerfGE 1, 396, 414 f; 24, 299, 300; 98, 218, 242 f; 106, 210, 213)[3]. Damit ist die Dispositionsmaxime aufgehoben und das Antragserfordernis in seiner Bedeutung auf eine Anstoßfunktion reduziert. Mit der Verfahrenseinleitung durch Antragstellung geht die Herrschaft über das Verfahren (vgl Rn 21 ff) auf das BVerfG über.

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Die Tatsache, dass das BVerfG nicht von sich aus initiativ werden, sondern nur nachträglich kontrollieren kann, bedeutet jedoch nicht notwendig, dass es nur reagieren, nicht auch gestalterisch agieren könnte. So verhält es sich beispielsweise, wenn es im verfassungsgerichtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch Erlass einer einstweiligen Anordnung eine bis zur Hauptsacheentscheidung verbindliche Interimsregelung trifft, die rechtsgestaltende Wirkung entfaltet. Auch mit seinen Hauptsacheentscheidungen hat das BVerfG einen nicht lediglich negatorisch definierten Anteil an der Ausübung der übrigen Staatsgewalten. Zwar kann es im Organstreitverfahren und im Bund-Länder-Streitverfahren nur die Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme feststellen, im Verfassungsbeschwerde- und Normenkontrollverfahren jedoch auch Maßnahmen der Exekutive, Judikative und selbst Gesetzgebungsakte aufheben. Es hat darüber hinaus sich selbst, unter Berufung auf § 35 BVerfGG, die Befugnis zugeschrieben, in Ausübung seiner reklamierten Letztverantwortung für die Durchsetzung der Verfassung den Gesetzgeber unter Setzung einer Frist, nach deren fruchtlosen Verstreichen eine von ihm selbst dekretierte Regelung maßgeblich sein soll, zur Behebung des Verfassungsverstoßes ultimativ anzuweisen (s. dazu Rn 28 ff).

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Das Fehlen einer eigenen Initiativbefugnis hat den Aktionsradius des BVerfG im Übrigen bisher nicht wirklich entscheidend eingeengt. Es hat sich fast immer noch ein Staatsorgan, ein Teil desselben oder aber jedenfalls ein Bürger gefunden, der das BVerfG mit dem Ziel der Klärung der verfassungsrechtlichen Rechtslage angerufen hat. So sind praktisch alle hochpolitischen Streitfragen, die die Republik bewegt haben, in mehr oder minder großem Umfang zur Nachprüfung durch das BVerfG gestellt worden. Durch kontinuierliche Rechtsprechung kann das BVerfG auch mehr als bloß punktuell intervenieren, vielmehr ganze Rechtsgebiete (zB das Familien-, Steuer- und Sozialrecht) nach seinem maßgeblichen verfassungsrechtlichen Willen (um-)gestalten.

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Die jüngere Praxis des BVerfG (vgl E 104, 305, 306 f), den Streitparteien Vorschläge für eine außergerichtliche Streitbeilegung („einvernehmliche Verständigung“) zu unterbreiten, die den Antragsteller veranlassen sollen, den gestellten Antrag zurückzunehmen bzw die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, dass die Beteiligten verfahrensbeendende Erklärungen (übereinstimmende Erledigungserklärungen) abgeben, sieht sich – ungeachtet der Tatsache, dass eine Antragsrücknahme in allen Verfahren möglich ist (zu Einschränkungen beim abstrakten Normenkontrollverfahren s. § 6) – erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt[4]. Verfassungsrecht ist zwingendes Recht; die durch das GG gebundene Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) darf von den ihr auferlegten verfassungsrechtlichen Bindungen nicht dispensiert werden. Daher eignet sich die Verfassung nicht für einen Deal. Das selbst der Verfassung unterworfene BVerfG darf zu einer solchen verfassungsrechtlichen Entbindung nicht beitragen, auch nicht dadurch, dass es durch mehr oder weniger sanften Druck einen Antragsteller dazu bewegt, sich mit weniger zufrieden zu geben als verfassungsrechtlich geschuldet ist und daher vom BVerfG bei einer Entscheidung in der Sache zugesprochen werden müsste. Daher käme ein „Vergleichsvorschlag“ des BVerfG, bei dessen Annahme der Überprüfungsantrag zurückgenommen wird, überhaupt nur dann in Betracht, wenn und soweit der Antrag unbegründet ist, also der „verklagten“ Staatsgewalt der gerügte Verfassungsverstoß tatsächlich nicht zur Last fällt. Dann aber darf sich das BVerfG nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen, weil es dem Antragsteller durch die dem Antragsgegner praktisch aufgenötigte außergerichtliche Einigung mehr gibt als dieser verfassungsrechtlich beanspruchen kann. Das BVerfG spielt sich mit solchem Verhalten als Moderator des politischen Prozesses auf, eine Rolle, die ihm nicht zukommt. Seine verfassungsgemäße Aufgabe als „Hüter der Verfassung“ (BVerfGE 1, 184, 195, 197; 1, 396, 408; 6, 300, 304; 40, 88, 93) beschränkt sich auf die Kontrolle der Einhaltung der Verfassung; diese Kontrolle muss es allerdings, wenn es in zulässiger Weise angerufen wird, auch wahrnehmen; ihr darf es sich nicht in falsch verstandenem judicial self-restraint (siehe dazu Rn 46) entziehen.

 

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Angesichts der dem BVerfG gestellten Aufgabe gerichtsförmiger Rechtskontrolle potenziell sämtlichen dem Staat zurechenbaren Handelns und Unterlassens am Maßstab der Verfassung treffen das GG und das BVerfGG Vorkehrungen dafür, dass die Richter des BVerfG eine Unabhängigkeit gewährleistende Distanz gegenüber den von ihnen kontrollierten Gewalten besitzen und wahren. So dürfen nach der Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG die Mitglieder des BVerfG weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören (vgl auch § 3 Abs. 3 S. 1 und 2 BVerfGG). Mit der richterlichen Tätigkeit am BVerfG ist auch eine andere berufliche Tätigkeit als die eines Lehrers des Rechts an einer deutschen Hochschule unvereinbar (§ 3 Abs. 4 S. 1 BVerfGG). Ein zum Richter des BVerfG gewählter Beamter oder Richter scheidet grundsätzlich mit der Ernennung aus seinem bisherigen Amt aus (§ 101 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Neben diesen abstrakten Sicherungsvorkehrungen greifen gegebenenfalls noch der konkrete Ausschluss vom Richteramt nach § 18 BVerfGG und die Richterablehnung wegen Befangenheit (§ 19 BVerfGG) ein[5].

§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › II. Das Bundesverfassungsgericht – ein Verfassungsorgan?

II. Das Bundesverfassungsgericht – ein Verfassungsorgan?

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Das BVerfG hat sich über seine unbestrittene Gerichtsqualität hinaus in der berühmten „Status-Denkschrift“ vom 27. Juni 1952[6] selbst den Status eines Verfassungsorgans attestiert[7]. Davon geht implizit auch das BVerfGG aus, wenn es ihm in § 1 Abs. 1 Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber „allen übrigen Verfassungsorganen“ zuschreibt[8]. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber hat die vom BVerfG erstrittene Stellung des BVerfG anerkannt, wie aus der amtlichen Begründung zur Einführung des Art. 115g GG hervorgeht, der jedwede Beeinträchtigung der „verfassungsmäßige[n] Stellung“ des BVerfG im Verteidigungsfall untersagt[9]. Die Status-Denkschrift hat mit der Rolle des BVerfG als „oberstem Hüter der Verfassung“ argumentiert. Das BVerfG sei insoweit „nach Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes und des Gesetzes über das BVerfG zugleich ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan, in eine ganz andere Ebene als alle anderen Gerichte gerückt“. Ausdruck des besonderen organisatorischen Status des BVerfG sind seine – seit 1986 ausdrücklich anerkannte (vgl § 1 Abs. 3 BVerfGG) – Geschäftsordnungsautonomie, seine Ressortfreiheit, die herausgehobene protokollarische Stellung seines Präsidenten sowie schließlich sein Recht auf Beteiligung bei der Aufstellung des Entwurfs des Bundeshaushaltsplans durch Voranschläge des Präsidenten (vgl § 28 Abs. 3 BHO) und auf autonome Bewirtschaftung der bewilligten und in einem eigenen Einzelplan ausgewiesenen Haushaltsmittel.

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Ob das BVerfG aufgrund dieses Status auf einer Ebene mit den anderen, von ihm kontrollierten Verfassungsorganen oder im Hinblick auf seine Kontrollbefugnis gar über diesen Staatsorganen steht[10], ist eine Frage der Definition. Entscheidend ist, dass die Redeweise vom BVerfG als Verfassungsorgan nichts anderes bedeuten kann als den Versuch, die dem BVerfG zugewiesenen Kompetenzen auf einen als Abbreviatur fungierenden Begriff zu bringen[11]. Dagegen dürfen aus dem so, also induktiv gewonnenen Begriff weitere Rechtsfolgen, insbesondere zusätzliche Kompetenzen des BVerfG nicht deduziert werden. Eine solche Ableitung wäre nichts anderes als unzulässige und irreführende Begriffsjurisprudenz.

§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?

III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?

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Mit dem BVerfG ist ein organisatorisch selbstständiges Gericht errichtet worden, welches die Verfassung letztentscheidend mit Verbindlichkeitsanspruch interpretiert. Das BVerfG nimmt diese Kompetenz wie selbstverständlich in Anspruch (BVerfGE 108, 282, 295): „Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden […, hat es] selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden.“ Allerdings tritt diese zentrale Funktion des BVerfG nicht unmittelbar in Erscheinung; denn das BVerfG entscheidet in erster Linie die ihm zur Entscheidung zugewiesenen, konkreten Verfassungsstreitigkeiten; es stellt die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des geprüften Rechtsakts mit der Verfassung fest und zieht daraus gegebenenfalls noch weitere Konsequenzen, insbesondere erklärt es mit dem GG unvereinbar befundene Gesetze und sonstige Rechtsnormen für nichtig (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) und hebt verfassungswidrige Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen auf (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die maßgebliche Interpretation des Grundgesetzes bildet für diesen, sich im Tenor der Entscheidung widerspiegelnden Entscheidungsinhalt lediglich die präjudizielle Vorfrage.

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Das BVerfG betreibt also keine prinzipale Verfassungsauslegung, erklärt nicht abstrakt, was Inhalt der Verfassung ist. Das gilt auch für das Organstreitverfahren ungeachtet der missverständlichen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG. Die Streitigkeit zwischen obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten über den Umfang der Rechte und Pflichten, die ihnen das GG einräumt, bildet nicht lediglich den „Anlass“ für die Auslegung des Grundgesetzes, sondern den eigentlichen Prüfungsgegenstand; dementsprechend ordnet § 67 BVerfGG im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt an, dass das BVerfG in seiner Entscheidung feststellt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt (Satz 1). Das BVerfG kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt (§ 67 S. 3 BVerfGG). Aber auch diese Rechtsfrage, über die das BVerfG hier mitentscheidet, ist mit der Interpretation des Grundgesetzes, die das BVerfG zur Beantwortung dieser Frage vornimmt, nicht identisch (s. dazu Rn 418 ff). Nichts anderes gilt für die Rechtsfragen, über die das BVerfG in den Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 und 100 Abs. 3 GG „ausschließlich“ entscheidet (vgl §§ 81, 85 Abs. 3 BVerfGG). Von der formellen und materiellen Rechtskraft, die den nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen des BVerfG wie allen letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen zukommt, wird die Auslegung des Grundgesetzes, die das BVerfG vornimmt, als vorgreifliche Frage daher nicht erfasst.

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Die Verbindlichkeit der inzidenten Verfassungsauslegung durch das BVerfG folgt denn auch nicht aus der Verfassung selbst; nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, nicht aber an die Auslegung dieser Ordnung durch das BVerfG (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 93 Abs. 1 GG. Zwar weist diese Vorschrift dem BVerfG bestimmte Entscheidungszuständigkeiten zu, und wenn das BVerfG „entscheiden“ soll, dann impliziert die Anerkennung dieser Entscheidungsgewalt auch deren Verbindlichkeitsanspruch. Dieser erfasst jedoch nur die Entscheidung als solche, dh den in Rechtskraft erwachsenden Tenor der Entscheidung, nicht aber dafür vorgreifliche Verfassungsauslegungen.

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Die Verbindlichkeit der vom BVerfG vorgenommenen Auslegung des Grundgesetzes ergibt sich vielmehr erst aus § 31 Abs. 1 BVerfGG, und auch daraus nur dann, wenn man an der Bindungswirkung der Entscheidung die sie tragenden Gründe (rationes decidendi), soweit sie Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, teilhaben lässt[12]. Diese Deutung des § 31 Abs. 1 BVerfGG entspricht dem Selbstverständnis des BVerfG[13], das sich für den „maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung“, für die „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen“ hält (BVerfGE 40, 88, 93 f; 112, 268, 277; 150, 204, 227). Darin dürfte – entgegen kritischen Stimmen in der Literatur[14] – wohl auch der eigentliche Sinngehalt des § 31 Abs. 1 BVerfGG liegen, über die personelle Geltungserstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen des BVerfG auf alle staatlichen Organe, auch alle Behörden und Gerichte, hinaus[15]. Handeln Letztere dieser einfachgesetzlich angeordneten Bindungswirkung zuwider, dh setzen sie sich darüber hinweg, so liegt in diesem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw gegen die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt zugleich ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG, der vom BVerfG auf Verfassungsbeschwerde hin, die auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden kann, durch Aufhebung des Verwaltungsaktes bzw der Gerichtsentscheidung sanktioniert wird (BVerfGE 115, 97, 108; BVerfGK 7, 229, 236). Dagegen kann sich der Gesetzgeber der in § 31 Abs. 1 BVerfGG für ihn liegenden Selbstbindung durch einen gegenläufigen Gesetzgebungsakt auch wieder entledigen.

 

14

Dass letztlich nur das BVerfG, genauer: der Senat, der entschieden hat, wissen kann, welches die tragenden Gründe seiner Entscheidung gewesen sind, steht auf einem anderen Blatt[16]. Nur das BVerfG selbst kann sein eigener authentischer Interpret sein. Die tragenden Entscheidungsgründen gehören daher zu den arcana imperii; ihre alleinige Kenntnis bildet das Herrschaftswissen des BVerfG, mittels dessen es seine Verfahrensherrschaft (s. dazu Rn 21 ff) ausübt.

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Im Ergebnis bedeutet § 31 Abs. 1 BVerfGG, dass die Auslegung, die das BVerfG im Rahmen seiner Entscheidungen dem GG gibt, nicht nur in dem Sinne praktisch wirksam ist, dass sich alle staatlichen Organe, wollen sie nicht Gefahr laufen, in Karlsruhe „aufzulaufen“, in ihrem Verhalten darauf einstellen werden, sofern nicht ausnahmsweise ersichtlich ist, dass sich das BVerfG, das selbst keiner Bindung an seine Rechtsprechung unterliegt (BVerfGE 4, 1, 38 f; 85, 117, 121 f), von dieser Auslegung in der ihm eigenen Souveränität wieder lösen könnte. Vielmehr ist diese Auslegung auch rechtsverbindlich, so dass von ihr nicht in zulässiger Weise abgewichen werden darf; etwas anderes gilt lediglich für den Gesetzgeber, der keinem Normwiederholungsverbot unterliegt (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f; 96, 260, 263; 135, 259, 281; aA allerdings der Zweite Senat, vgl BVerfGE 1, 14, 15 (LS 5); 69, 112, 115) und damit den Anstoß für eine – im Falle einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle mögliche – Überprüfung dieser Auslegung durch das BVerfG selbst geben kann[17].

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Die Verbindlichkeit der Verfassungsauslegung durch das BVerfG macht dieses Gericht nicht zum authentischen Interpreten der Verfassung, wodurch es Anteil an der Verfassungsgesetzgebung hätte; da ihm die Verfassung als Maßstab vorgegeben ist, kann es nicht zugleich selbst über sie verfügen. Wohl aber liegt bei ihm die Kompetenz zur autoritativen, letztverbindlichen Auslegung des Grundgesetzes, was ihm die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Interpretationsherrschaft verschafft.

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Das BVerfG besitzt kein Interpretationsmonopol hinsichtlich der Verfassung, aber in Sachen Auslegung der Verfassung das maßgebliche letzte Wort. Die anderen Verfassungsorgane sind dagegen lediglich zur Erst- oder Zweitinterpretation der ihr Handeln verfassungsrechtlich determinierenden Grundgesetzbestimmungen berufen. Der vom BVerfG (BVerfGE 106, 310 ff) abschließend entschiedene Streit um das wirksame Zustandekommen des so genannten Zuwanderungsgesetzes macht dies deutlich. Die Interpretation der hier maßgeblichen Vorschrift des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG lag zunächst in der Hand des Bundesrates, genauer: in der Hand des die Verhandlungsleitung innehabenden und die vom Bundesrat gefassten Beschlüsse feststellenden Präsidenten des Bundesrates, sodann – in Zweitinterpretation – beim Bundespräsidenten, der vor Entscheidung über die Ausfertigung des Gesetzes dessen ordnungsgemäßes Zustandekommen gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG prüfen musste. Das entscheidende letzte Wort gebührte dann dem in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG angerufenen BVerfG.

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Durch das Letztentscheidungsrecht des BVerfG wird die Erst- und Zweitinterpretation durch sonstige Verfassungsorgane jedoch nicht etwa bedeutungslos. Das gilt zum einen deshalb, weil zum Zeitpunkt der mit ihrer Interpretation zeitlich zusammenfallenden Anwendung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen noch gar nicht feststeht, ob das BVerfG in zulässiger Weise angerufen werden wird, so dass es seine Letztentscheidungsbefugnis ausüben kann. Zum anderen hat die vorgängige Erst-, auf jeden Fall aber die Zweitinterpretation des Grundgesetzes durch den zur Ausfertigung von Bundesgesetzen berufenen Bundespräsidenten im Fall der Anrufung des BVerfG unter Umständen eine entscheidende Bedeutung, nämlich dann, wenn bei der Entscheidungsfindung des BVerfG im zuständigen Senat Stimmengleichheit auftreten sollte[18]. Dann kann ein Verstoß gegen das GG, der mit dem Antrag geltend gemacht wird, nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG)[19]. Es unterliegt also in diesem Fall der Antragsteller; es obsiegt der Antragsgegner. Es kann daher letztlich entscheidend sein, welche Seite aufgrund der zunächst maßgeblichen Erst- bzw Zweitinterpretation der Verfassung in die „Angreiferrolle“ gezwungen wird und welche Seite die bequemere „Verteidigungsposition“ einnimmt. Schon deshalb dürfen Bundespräsidenten sich bei Ausübung ihres formellen und – wenn auch auf Evidenzfälle begrenzten – materiellen Prüfungsrechts nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG nicht einfach damit begnügen, „den Weg nach Karlsruhe frei zu machen“. Der Weg nach Karlsruhe steht immer offen. Fraglich ist nur, wer ihn beschreiten und damit das Risiko des Unterliegens, insbesondere einer für ihn nachteiligen Vier-zu-Vier-Entscheidung tragen muss.

19

Die Kompetenz des BVerfG, vom Parlament erlassene Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren und bei Feststellung der Unvereinbarkeit für nichtig zu erklären, begründet eine außerordentliche Rechtsmacht in der Hand des Verfassungsgerichts, die das politische Koordinatensystem entscheidend verändert: Es kommt zum Übergang des parlamentarischen Gesetzgebungs- zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat[20]. Wer dagegen vorbringt, Verfassungsgerichtsbarkeit füge doch der materiellrechtlichen Bindung an die Verfassung, dh dem Vorrang der Verfassung, der sich auch der Gesetzgeber beugen müsse (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) nichts hinzu, übersieht geflissentlich die Interpretationsfähigkeit und -bedürftigkeit der Verfassung und die durch die Befugnis zur letztverbindlichen Interpretation der Verfassung begründete Interpretationsherrschaft des BVerfG[21]. Anders formuliert – in Anlehnung an Carl Schmitts berühmtes Diktum: „Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet“[22].

20

Denkt man sich das „(Verfassungs-)Haus ohne Hüter“, also die Institution des BVerfG, wie sie das GG verfasst hat, einmal hypothetisch weg, dann unterläge zwar die Verwaltung wegen der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG einer gerichtsförmigen Kontrolle am Maßstab auch der Verfassung, und auch die anderen Fachgerichte könnten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufgrund ihrer unmittelbaren Bindung an die Grundrechte und die Verfassung im Ganzen (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) deren Unverbrüchlichkeit verbürgen. Der parlamentarische Gesetzgeber wäre aber keiner prinzipalen Kontrolle unterworfen, und Gesetze könnten, sofern sie nicht in Individualrechte eingreifen und dagegen fachgerichtlicher Individualrechtsschutz mobilisiert werden kann, nicht auf ihre objektive Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft werden. Daher liegt in der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die umfassende Zuständigkeit für eine abstrakte und konkrete, prinzipale und inzidente, unmittelbare und mittelbare Kontrolle von formellem Gesetzesrecht besitzt, eine partielle Entmachtung des Gesetzgebers. Nur der verfassungsändernde Gesetzgeber kann – als authentischer Interpret der Verfassung – der verbindlichen Interpretation des Grundgesetzes durch das BVerfG wirksam entgegentreten. Aber auch er muss gewärtigen, verfassungsgerichtlicher Kontrolle, wenn auch nur am eingeschränkten Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG, unterworfen zu werden.

§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › IV. Das Bundesverfassungsgericht – Herr des Verfahrens?