Operation Terra 2.0

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Die vergleichsweise wohlhabenden Bauersleute waren nur zu dritt und konnten somit auf eine lange Festtafel verzichten. Sie feierten separat in der angrenzenden Küche. Die meisten ihrer erwachsenen Kinder waren schon lange aus dem Haus und hatten eigene Großfamilien gegründet, die der alte Jeremias beim besten Willen nicht alle unter einem Dach hätte vereinen können. Seit der Ankunft des letztgeborenen Enkelkindes hätte es sich um sage und schreibe 63 Personen gehandelt!

So blieb er an diesem besonderen Abend notgedrungen mit seiner Ehefrau und dem jüngsten Sohn alleine, um keines seiner weiteren Kinder mit einer Einladung zu bevorzugen. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen, keinesfalls Eifersucht unter seinen Nachkommen wecken. Die Rivalität würde ohnehin noch groß genug werden, sobald sie sich dereinst um ihr Erbe zanken mussten. Er würde schließlich nicht ewig auf Erden weilen, und auf den Besitz des Bauernhofs schielten bereits jetzt so einige von ihnen.

Jeremias und seine Frau schätzten sich glücklich, stattdessen den bekanntesten aller Prediger samt Anhang als illustre Gäste bei sich zu haben. Sie waren vollkommen überzeugt davon, dass jener gottgesandte Nazarener das Haus durch seine bloße Anwesenheit segnen würde, so dass in Zukunft nie wieder ein Unglück über die darin lebende Familie kommen könne.

Jesus nahm traditionell inmitten der fröhlich plappernden Zwölferschar aus Jüngern Platz, damit wirklich jeder der Anwesenden seinen Ausführungen problemlos lauschen konnte. Er würde ihnen Unangenehmes zu eröffnen haben, doch das ließ sich leider nicht mehr vermeiden. Vielleicht bot sich hier und heute sogar die allerletzte Chance, seine Jünger schonend auf das kommende Unheil vorzubereiten.

Wie üblich saß Maria Magdalena auf Tuchfühlung an Jesus‘ rechter Seite; die meisten seiner Anhänger hatten sich an diesen Anblick gewöhnt und störten sich nicht mehr an der merkwürdigen Tatsache, dass die einzige Frau unter ihnen gleichberechtigt behandelt und überdies innig geliebt wurde.

Einzig die Herren Simon Petrus und Judas beobachteten zu Beginn dieses Abends voller Ingrimm, wie vertraut das Paar die Köpfe zusammensteckte; sie hielten es weiterhin für unangebracht, dass ihr Meister als himmlischer Messias nicht einmal über irdische Verführungen dieser Art erhaben war. Wäre es nach ihnen gegangen, so hätte er dem Weibsvolk komplett entsagen sollen.

Doch was heute noch nicht war, konnte ja später noch werden … Jesus hatte vor einigen Monaten verheißungsvoll zu Simon Petrus gesagt, dass er wie ein starker Fels sei, auf dem eines Tages seine neue Kirche erbaut werde. Bestimmt war er dazu ausersehen, Jesus‘ Nachfolge anzutreten!

Nun, falls diese Prophezeiung tatsächlich eintreffen würde, nahm sich der vierschrötige Apostel beim Anblick des unverhohlen turtelnden Paares vor, dann würde er künftigen Priestern die Ehe und damit jeglichen körperlichen Verkehr mit anderen Menschen strikt verbieten.

Wer sein Leben dem Einen Gott widmete, der hatte sich anderweitig gefälligst zurückzuhalten. Man konnte im Leben schließlich nicht gleichzeitig zwei Herren dienen!

Wäre Jesus‘ führender Jünger ehrlich zu sich selbst gewesen, dann hätte er sich beschämt eingestehen müssen, dass diese negativen, abfälligen und überaus neiderfüllten Gedanken in Wahrheit einem ganz profanen menschlichen Bedürfnis entsprangen.

Simon Petrus kämpfte nämlich verzweifelt mit einer fast unerträglichen Sehnsucht nach seiner Familie. Nach seiner eigenen Frau, die er schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ob und wann er sie wieder einmal für kurze Zeit besuchen könnte, stand in den Sternen.

Nahezu in jeder Nacht suchte ihn die quälende Vision heim, wie seine Gefährtin in Kapernaum einsam und traurig zu Bett gehen und sämtliche Schwierigkeiten des Lebens alleine oder mithilfe anderer Familienmitglieder meistern musste. Er vermisste Sarah mittlerweile so sehr, dass es gehörig schmerzte.

Gut, es war seine eigene Entscheidung gewesen, sich Jesus anzuschließen. Aber wenn der Fischersmann Simon Petrus wegen seiner religiösen Gefolgschaft schon nicht bei seinem Eheweib sein konnte, dann gönnte er ein solches Vergnügen eben auch keinem anderen Menschen, der sich aus freiem Willen dem Glauben verschrieb.

*

Als Jesus den Jünger Thomas bat, die Kerzen anzuzünden, kehrte allmählich Ruhe an der Festtafel ein. Aller Augenpaare hefteten sich nun gespannt auf den Meister, der aufgestanden war, um zur Feier des Tages höchstpersönlich den Rotwein auszuschenken.

Sobald endlich jeder einen gut gefüllten Kelch vor sich stehen hatte, erhob der Messias seinen eigenen, um den bestens gelaunten Jüngern freundlich zuzuprosten.

Als gläubige Juden erwarteten sie, dass Jesus nun der Tradition gemäß aus der Haggada vorlesen müsste. Am Sederabend wurde normalerweise jedes Jahr die alte Geschichte, wie Gott sein Volk einst unter ärgsten Entbehrungen aus Ägypten errettet und ins gelobte Land geführt hatte, von neuem erzählt. Man pflegte anschließend einen Segen über den koscheren Speisen auszusprechen und dann scherzend und schwatzend mit dem üppigen Festmahl zu beginnen.

Doch Jesus tat zu ihrem Erstaunen nichts dergleichen. Er hielt lediglich eine kleine Dankesrede, dann brach er das Brot.

»Nehmt es und esst nach Herzenslust, denn das Brot symbolisiert meinen Leib. Ihr könnt dasselbe später zu meinem Andenken tun, da ich in Kürze nicht mehr unter euch weile! Denn dies ist unser letztes gemeinsames Abendmahl.«

Ein Raunen ging durch die Gesellschaft. Wie hatte Jesus das gemeint? Wollte er mit diesen vagen Andeutungen etwa ankündigen, dass er sie bald zu verlassen gedachte?

Niemand fand Gelegenheit, genauer hierüber nachzudenken. Denn nun griff Jesus mit weit aufgerissenen Augen nach dem Kelch, erhob ihn feierlich und bat seine zwölf Getreuen und Maria Magdalena, es ihm gleichzutun.

»Seht, dieser vorzügliche Wein ist wie mein Blut. Damit besiegle ich meinen festen Bund mit euch und zahlreichen anderen Menschen, denn ich werde es für euch vergießen. Wann immer ihr in Zukunft Wein trinkt, verkündet ihr zugleich eures Herrn Tod. Tut auch das zu meinem Andenken, bis ich eines Tages am Ende der Zeit wiederkehre!«

Nun waren die Apostel endgültig verunsichert. Simon Petrus schluckte, fasste sich ein Herz und fragte zaudernd:

»Herr, wie meinst du das? Willst du uns im Stich lassen oder befürchtest du gar dein baldiges Ableben?«

Jesus seufzte tief und verkündete mit todernster Miene: »Einer ist unter euch Aposteln, der mich noch im Verlauf dieser Nacht verraten wird!«

Rufe der Empörung wurden laut. Jeder beeilte sich zu versichern, dass er so etwas Niederträchtiges ganz bestimmt nicht im Schilde führe! Die Einen schmeichelten dem Nazarener, andere kamen ihm mit galligen Vorwürfen. Wie konnte er nur allen Ernstes annehmen, dass ausgerechnet jemand von ihnen zu solch einer hinterhältigen Gräueltat imstande sei!

Wieder war es Simon Petrus, der dem lautstarken Geplapper Einhalt gebot und Jesus mit fester Stimme geradeheraus fragte:

»Von wem glaubst du denn überhaupt so felsenfest, dass er dich verraten wird? Ich könnte mir beim besten Willen keinen Verräter in dieser Runde vorstellen!«

Jesus nahm ein Stück Brot, tauchte es tief in den Weinkelch ein. Mit dieser Geste bemühte er erneut die Symbolik, dass es hier im übertragenen Sinne um seinen Leib und sein Blut gehe.

»Es ist einer, der mit mir am heutigen Abend scheinheilig aus derselben Schüssel isst. Und zwar derjenige, welchem ich jetzt einen blutgetränkten Bissen meines Leibes überreichen werde. Dieses kleine Stück ungesäuerten Brotes hier, das ich zuvor eingetunkt habe, wird ihn entlarven. Ich bitte diesen Mann jedoch nicht um Gnade, sondern appelliere hiermit an ihn:

Was du tun willst, das tu bald!«

Mit diesen Worten überreichte er das Brot in einer demütigen Geste seinem Jünger Judas Iskariot, welcher es erschrocken in Empfang nahm und wortlos nach draußen in die Nacht entschwand. Ein deutlicheres Eingeständnis seiner Absicht hätte der potentielle Verräter gar nicht abliefern können.

»Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht!«, rief Jesus zufrieden aus und setzte sich in aller Seelenruhe nieder, um weiter zu essen.

Den Jüngern war der Appetit jedoch zur Gänze vergangen. Wie konnte der Meister jetzt einfach sein Märtyrerschicksal akzeptieren und zur Tagesordnung übergehen, wenn er aufgrund Judas‘ gemeiner Heimtücke mit seiner baldigen Ermordung rechnen musste? Er wirkte sogar, als sei gerade eben eine schwere Last von ihm abgefallen!

»Was ist mit euch los? Ist es die unvollkommene Natur des Menschen, die euch so zu schaffen macht? Ich habe stets darüber gepredigt und darauf hingewiesen, dass wir uns im Namen des Herrn selbst verleugnen und notfalls unser Leben für ihn hingeben müssen. Für mich scheint dieser Tag gekommen zu sein. Mein Schicksal muss sich nun erfüllen!

Kommt, lasst euch von dem Zwischenfall nicht länger stören, esst und trinkt mit mir zum allerletzten Mal! Es war leider notwendig, euch mit der unangenehmen Realität zu konfrontieren, damit sie euch nicht unvorbereitet ereilen kann.

Aber bedenkt bitte, noch bin ich lebendig wie ein Fisch im Wasser und wir sitzen hier gemeinsam zu Tisch. Genießen wir den Augenblick, solange es noch geht! Danach möchte ich euch alle mit einer Fußwaschung segnen, zum Ölberg zurückkehren und mich im einsamen Gebet auf den schweren Weg ans Kreuz vorbereiten.«

Doch die Jünger saßen nur regungslos da, als wäre ein Blitz in sie gefahren. Manch einer vergoss bittere Tränen um dieses unschuldige Lamm, das offenbar wirklich für die Sünden der Welt geopfert werden sollte. Jeder von ihnen forschte verstört in der eigenen Seele nach einem eventuellen Schuldanteil.

 

Hätten sie den Verräter erkennen, ihn bloßstellen und rechtzeitig etwas gegen ihn unternehmen müssen? Wie hatte der Teufel überhaupt in einen streng gläubigen Mann fahren und von seinem Wesen vollständig Besitz ergreifen können? Würden sie, die übrigen Jünger, etwa ebenfalls von einem Moment zum anderen in eine ähnlich missliche Lage geraten?

Nach wenigen Minuten beendete auch der Messias sein Mahl und hielt eine ausführliche Abschiedsrede. Er schmückte sie mit theologischen Philosophien und einer deutlichen Warnung vor dem Endgericht aus. Erneut wies Jesus zum Trost darauf hin, dass er nicht für immer von ihnen gehen, sondern eines Tages wiederkehren werde.

Am Ende versicherte er mit tränennassen Augen gegenüber Gott, seinem Herrn:

»Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in Deinem Namen, den Du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt!«

Jesus schenkte sich ein letztes Mal den Weinkelch randvoll, bis kein Tropfen mehr hineingegangen wäre. Für ihn würde es nach Lage der Dinge ohnehin kein lebenswertes Morgen mehr geben. Was musste es ihn also kümmern, ob er einen Kater davontrug? An seine geliebten Jünger gerichtet, fuhr er in geradezu poetischer Wortwahl fort:

»Wahrlich, ich sage euch: Ich werde fortan nicht trinken vom Gewächs des Weinstocks bis zu dem Tag, an dem ich neu trinke im Reich Gottes.«

Maria Magdalena fühlte sich indessen einer Ohnmacht nahe. Sie hatte doch die ganze Zeit über gewusst, dass mit diesem verdammten Judas etwas faul gewesen war! Aber sie würde tapfer um Jesus‘ Leben kämpfen, damit sie hernach mit Solaras auf Tiberia endlich eine gemeinsame Zukunft haben könnte. Koste es, was es wolle!

Wenn doch bloß endlich die angeforderte Verstärkung eingetroffen wäre … bei diesem Gedanken angekommen, fiel Jesus‘ treuer Gefährtin siedend heiß ein, dass die tiberianische Crew ja eigentlich gar nicht wissen konnte, wo sie sich derzeit aufhielten! Wie hatte sie vorhin nur vergessen können, den Standortwechsel durchzugeben?

Eilig entschuldigte sich die Jüngerin mit einem unaufschiebbaren menschlichen Bedürfnis, stellte sich draußen hinter einen Baum und setzte ihre Mitteilung an Balthasar über den Augor ab. Die Sache begann allmählich, ihr gewaltig über den Kopf zu wachsen!

Tiberia, KIN-Zeit 13.5.6.13.12, kurz vor Mitternacht

Schweigend saßen sich der zukünftige Regent Tiberias und die erhabene Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte und Schrift im einzigen Waggon jenes Magnetzugs, der sie zum Raumbahnhof transportieren sollte, gegenüber. Beide hingen mit einem flauen Magengefühl ihren Gedanken nach, welche sich ausnahmslos um die unmittelbar bevorstehende Rückkehr der Zeitreisenden drehten.

Noch stand nicht einmal mit hinreichender Sicherheit fest, ob sich überhaupt ein Raumgleiter auf den weiten Weg durch den Zeittunnel gemacht hatte … beziehungsweise in Kürze erst machen sollte!

Ganz egal, zu welcher Zeit das Raumfahrzeug dort starten mochte – der Endpunkt in den räumlichen Koordinaten wäre der zirka 2.700 Lichtjahre entfernte Planet Tiberia. Und zwar heute, am KIN 13.5.6.13.12, pünktlich um Mitternacht. Etwas anderes würde schon das künstlich generierte Wurmloch, dessen Eintrittsfenster über einem wüstenähnlichen Gebiet in Galiläa lag, überhaupt nicht zulassen.

Doch würde das Team der Crew 1 denn tatsächlich zurückkommen? Crew 2 wusste nach ihrer Rückkehr von beunruhigenden Tendenzen zu berichten; die Verhöre der einzelnen Mitglieder dauerten derzeit noch an. Sämtliche bis dato bereits gesammelten Aussagen ließen besorgniserregende Rückschlüsse darauf zu, dass auf dem fernen Planeten Terra beileibe nicht alles nach dem ausgeklügelten Plan zu Operation Terra 2.0 verlaufen sein konnte.

Sowohl Kiloon als auch Alanna hätten mit bitteren Konsequenzen zu rechnen, falls man die Mission bei der Abschlussbesprechung als gescheitert einstufen müsste.

Natürlich, in den Geschichtsarchiven hatte sich durch das Eingreifen der tiberianischen Protagonisten Solaras und Kalmes bereits jetzt so einiges verändert, Kleinigkeiten zumeist … aber würde das am Ende ausreichen, um einer ganzen Planetenbevölkerung neue Hoffnung für die Zukunft zu geben?

Ein genauer Überblick, inwieweit Ereignisse auf Terra, die bis einschließlich des heutigen Vormittags in der Vergangenheit stattgefunden hatten, durch die neu implizierte Lehre Jesus‘ von Nazareth in die richtigen Bahnen umgelenkt worden waren, ließ sich auf die Schnelle sowieso nicht realisieren.

Da würden in den nächsten UINAL zwei zeitversetzt arbeitende Computersysteme einen Totalabgleich durchführen und sich dabei durch wahre Unmengen von Daten wühlen müssen. Es galt, die Geschichtsschreibung von mehr als 2.000 terrestrischen Jahren auf Veränderungen hin zu durchleuchten.

Danach wäre eine ganze Sektion von Geschichtsschreibern damit beschäftigt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, eine Kurzanalyse der bahnbrechendsten Ergebnisse zusammenzufassen und die Prognose für die folgenden hundert Jahre zu erstellen. Jene fiktive Vorschau sollte es hoffentlich ermöglichen, das Eintreten künftiger Ereignisse nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorherzusehen und entsprechend zu handeln.

Allein diese Prozeduren würden bestimmt ewig dauern, auch wenn sie in fieberhafter Eile durchgeführt wurden!

Die ehrgeizige Alanna war absolut kein geduldiger Mensch. Speziell für sie würde die Zitterpartie durch die Ungewissheit zur gefühlten Höllenqual werden! Schon jetzt im Vorfeld kaute sie ihre gepflegten Fingernägel bis zum Anschlag herunter.

»Kiloon, Liebster … ich habe ein wenig Angst bekommen! Wie du weißt, kann niemand genau abschätzen, welche Auswirkungen Eingriffe in die Raum/Zeitstruktur haben. So habe ich mir überlegt, dass dies die vielleicht allerletzten Augenblicke unserer gemeinsamen Existenz sein könnten!«

Der designierte Regent unterbrach seine eigenen Grübeleien, die nicht viel erfreulicher ausgefallen waren. Er hatte sich nämlich zum x-ten Male gefragt, weshalb er sich auf diesen Wahnsinn überhaupt eingelassen hatte. Mit aufmerksamen Augen musterte er jene schöne Frau, welche der Drehund Angelpunkt seiner Probleme war. Sie saß verkrampft in den Polstern und wirkte ungewöhnlich blass.

»Wie meinst du das, Alanna? Denkst du, man könnte dich als Vorderste absetzen und mich in der Nachfolge für den Regentschaftsposten übergehen, falls auf Terra nicht alles zur vollen Zufriedenheit abgelaufen sein sollte?

Dass wir uns dieser Gefahr aussetzen müssen, war uns doch von vorneherein bewusst gewesen! Es wäre längst nicht das erste Mal, dass Vorgesetzte für die Fehler ihrer Untergebenen ernste Konsequenzen zu spüren bekommen. Auch oder sogar gerade nach Zeitreisen.

Die Vordersten-Versammlung wird uns mit ihren kritischen Fragen ganz schön unter Druck setzen, Alanna! Jene Operation wurde schließlich als äußerst grenzwertig betrachtet und konnte nur gegen einigen Widerstand durchgesetzt werden. Speziell wir beide sind nicht ganz unschuldig daran, dass sich die Dinge so entwickelt haben. Ich muss dich vermutlich nicht erst an unsere gemeinsam begangenen Untaten erinnern, oder?«

Alanna winkte unwirsch ab. »Davon spreche ich doch gar nicht! Falls im Rahmen der Mission ein paar Kollateralschäden zu beklagen wären, könnte man Mittel und Wege finden, sich herauszureden und die Sache mithilfe der richtigen Propaganda in ein anderes Licht zu setzen.

Mir macht eher die Option Sorgen, dass Solaras zu erfolgreich gewesen und übers Ziel hinausgeschossen sein könnte!«

»Du sprichst reichlich verworren und in Rätseln!«, knurrte Kiloon missmutig. Diese vergeistigten Wissenschaftler! Selbst seine hochintelligente Geliebte pflegte mitunter die schlechte Angewohnheit, erst nach zermürbend langer Vorrede auf den Punkt zu kommen.

»Na schön, für den Herrn Regenten also ganz konkret, kurz und bündig: Stelle dir doch nur einmal vor, Solaras hätte als Jesus die Weltgeschichte gleich dermaßen verändert, dass die auf Terra ansässige Menschheit in den darauf folgenden BAKTUN eben nicht andauernd damit beschäftigt gewesen wäre, sich gegenseitig auszurotten. Wenn die Vernunft über niedere Triebe obsiegt hätte, vor allem auch bei der Geburtenplanung. Was wäre wohl die logische Folge hiervon?«

Kiloon musste nicht lange überlegen. »Dann hätten sie ihre Energie auf andere Interessen als nur Krieg und Wiederaufbau oder Gelderwerb und Landbesitz verwenden können. Vermutlich wären sie in technischer Hinsicht viel weiter fortgeschritten, als es tatsächlich der Fall ist … äh, zumindest heute Morgen noch war, meine ich natürlich!

Sagen wir einfach pauschal, die Terraner wären heute ungefähr auf unserem hohen tiberianischen Standard. Aber genau das wollten wir mit der Operation Terra 2.0 doch erreichen, wenn ich mich nicht sehr irre! Wir gedachten, die beiden Welten einander anzugleichen, um hernach unser eigenes Siedlungsgebiet dorthin ausdehnen zu können.«

»Grundsätzlich schon!«, bestätigte Alanna. »Aber ihre Kultur hätte sich nicht zwingend in haargenau dieselbe Richtung weiterentwickeln müssen, nicht wahr?

Schon die minimalste Abweichung kann in einem progressiven Prozess vollkommen unterschiedliche Endergebnisse hervorrufen, das beweist jegliches wissenschaftliche Experiment. Terra weist im Vergleich zu Tiberia unbestreitbar einige klimatische, geologische und kulturelle Besonderheiten auf, nur um einige der markantesten Abweichungen zu nennen.

Unter härtesten Bedingungen kommt es früher oder später dazu, dass sich extrem widerstandsfähige und vielseitige Spezies entwickeln. Der Mensch passt sich im Evolutionsprozess allmählich den Erfordernissen an, bis er optimal mit dem zurechtkommt, was er in seiner Umgebung vorfindet!«

»Was in diesem Fall bedeuten würde, dass …?!«, fragte Kiloon seufzend, um die Antwort möglichst noch vor dem Erreichen des Zielbahnhofes im Distrikt 15 zu erhalten.

»Was in unserem Fall bedeuten könnte, dass diese Wilden uns inzwischen weit überlegen wären!«, ergänzte Alanna bereitwillig, verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah unglücklich drein.

»Na und?«, wunderte sich Kiloon, der kein ernstes Problem hinter dieser Aussage entdecken konnte.

»Dann würden wir heute eben von ihnen lernen können, und nicht umgekehrt! Was wäre eigentlich so tragisch hieran – außer vielleicht, dass es dich garantiert ziemlich wurmen würde, wenn ein terrestrischer Fachkollege einen höheren Wissensstand besäße als du?«

»Das darf doch nicht wahr sein! Du willst es nicht verstehen, oder?«, schnaubte die Vorderste beleidigt. Ihre blauen Augen schienen gefährliche Blitze zu verschießen.

»Falls die Terraner sich schneller als wir entwickelt hätten, dann wäre es ihnen auch früher gelungen, das Weltall zu erkunden. Sie wären vielleicht eines Tages hier gelandet, hätten den Planeten in Besitz genommen und uns versklavt oder vernichtet. Na, wie gefällt dir meine Schreckensvision?«, fragte Alanna sarkastisch und machte eine Kunstpause.

»Wer weiß, wie die Welt hier aussehen wird, sobald wir den Zeittunnel nach Rückkehr von Crew 1 deaktivieren! Werden wir beide dann überhaupt noch da sein?«, unkte sie mit spöttischem Gesicht weiter.

Kiloon packte sie an beiden Schultern, sah ihr fest in die Augen. Er schätzte es nicht, wenn jemand nach höchstpersönlich getroffenen Entscheidungen mit der Situation haderte und im Selbstmitleid schwelgte.

»Das hätten wir uns alles vorher genau überlegen müssen! Soviel ich weiß, wurden doch ohnehin alle Eventualitäten eruiert und abgewägt. Wir können in diesem Stadium der Mission nicht mehr zurück und müssen damit leben, falls das Undenkbare eintreten sollte!

Womöglich wird unser Leben sogar exakt in dem Moment enden, in welchem der Raumgleiter hier eintrifft. Aber Alanna, wir würden dann einfach aufhören zu existieren, uns völlig schmerzlos in Nichts auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Was kümmert es dich also? Wovor hast du solche Angst?«

Die in Kobaltblau gekleidete Frau sank kraftlos in sich zusammen. »Weil mir Zeitreisen immer noch genauso unkontrollierbar und paradox erscheinen wie ganz zu Anfang unserer Forschungen. Ich werde fast wahnsinnig, wenn ich über bestimmte Fragen nachsinniere.

 

Kann beispielsweise jemand, der zu einer Zeitreise aufgebrochen ist, durch Veränderungen in der eigenen Vergangenheit quasi nie geboren worden sein? Mir verknoten sich bei jedem Analyseversuch erneut die Gehirnwindungen!«

Kiloon lehnte sich mit einem verächtlichen Lachen zurück.

»Aha, da verträgt jemand den Umstand nicht, dass wissen schaftliche Theorien sich mitunter in gnadenlose Realität zu verwandeln pflegen. Du kannst die Ungewissheit nicht ertragen, ob die Geister, die du gerufen hast, hinterher zurückschlagen und sogar ihre eigene Schöpferin tangieren werden!

Solange du alles kontrollieren und nach deinem Willen steuern darfst, ist für dich die Welt in bester Ordnung. Du hast es meisterlich verstanden, sogar mich mit allen Mitteln zu manipulieren und für deine abenteuerlichen Ideen zu gewinnen.

Doch bei diesem Projekt hast du dich deinem Ehrgeiz zuliebe übernommen, meine überkandidelte Schöne. Gut, dass du es am Schluss nun doch noch erkennst! Dein eigenes Experiment könnte sich zweifellos verselbständigen und uns allen zum tödlichen Verhängnis werden.

Tja, was soll ich dazu Erbauliches sagen? Da müssen wir und die gesamte Bevölkerung jetzt durch!«

Der stromlinienförmige Magnetzug schwebte mit kaum hörbarem Sirren im Bahnhof ein, kam sanft zum Stillstand. Alanna gähnte herzhaft und straffte ihren Rücken. Niemand durfte ihr beim Aussteigen anmerken, in welch aufgelöstem Zustand sie sich befand. Darüber hinaus war sie wütend, nein, stinksauer auf ihren hochgeborenen Begleiter. Doch auch das durfte sie keinesfalls preisgeben.

Mit leicht arrogantem Blick und erhobener Nase betrat die attraktive Wissenschaftlerin den modernen Bahnsteig aus semitransparentem Kunststoff, dessen indirekte Beleuchtung zu ihren Ehren heute in Blau gehalten war.

Kiloon hatte Alanna mit Vergnügen den Vortritt gelassen, obwohl er als Angehöriger der Dynastie im Rang weit über ihr stand. Sollte sie doch mit allem Klimbim zuvorderst im Rampenlicht glänzen und die Vorschusslorbeeren genießen, damit sie wenigstens ihre Show professionell durchziehen konnte.

*

Mit hängenden Köpfen traten Maria Magdalena und die Jünger in Jesus‘ Gefolgschaft den Rückweg zum Ölberg an. In welch krassem Kontrast doch dieser deprimierte Trauerzug zu jener fröhlichen Gruppe stand, welche erst vor wenigen Stunden hier eingetroffen war!

Kaum hatten sie das Gelände des Bauern Jeremias hinter sich gelassen, schloss Simon Petrus schnellen Schrittes zu seinem Meister auf. Jesus hatte bereits auf dem Hinweg eine nebulöse Bemerkung von sich gegeben gehabt, die er nicht einzuordnen vermochte. Wen konnte er damit gemeint haben?

»Herr … ich weiß, dass du momentan viel über sehr wichtige Dinge nachzudenken hast. Aber ich wollte dir unbedingt noch einmal versichern, dass du mit meiner uneingeschränkten Loyalität rechnen darfst, obwohl ich eng mit diesem … diesem … na, mit Judas befreundet gewesen bin.

Der Satan selbst muss in diesen schändlichen Menschen gefahren sein! Ich wusste bislang nichts von seinen fiesen Absichten, kein Sterbenswörtchen hat er mir davon gesagt. Wie soll ich dir das nur beweisen?

Du kannst dich weiterhin voll auf mich verlassen, bis das wie auch immer geartete Ende kommt, von dem du zu uns gesprochen hast. Auch danach werde ich dich würdig auf Erden vertreten und deine Botschaft nach Kräften verbreiten helfen.«

Jesus blieb kurz stehen, sah ihn mit traurigen Augen an.

»Ich glaube dir sogar, dass du deinen Treueschwur zum jetzigen Zeitpunkt ernst meinst und nicht insgeheim die Absicht hegst, mich zu betrügen. Und doch bin ich mir felsenfest sicher, dass du mich noch in dieser Nacht verleugnen wirst.«

Simon Petrus stand vor lauter Empörung der Mund weit offen. »Wie kannst du an so etwas auch nur denken? Und wenn ich mit dir zusammen sterben müsste – ich würde dich niemals verleugnen können! Niemals, hörst du?!«

Zustimmendes Gemurmel zeigte an, dass sämtliche restlichen Apostel genauso dachten. Sie umringten Jesus und versicherten ihm mit Tränen in den Augen, dass sie ihm und seiner Lehre unbeirrbar die Treue halten würden, erforderlichenfalls bis in den Tod hinein.

Der todgeweihte Messias dankte seinen Getreuen hölzern für ihre Anteilnahme, wandte sich im Weitergehen jedoch wieder explizit Simon Petrus zu.

»Der Glaube ist zweifellos stark in dir, solange du in Frieden und Sicherheit lebst. Doch grau ist alle Theorie! Sobald es nämlich darum geht, diesem Glauben gemäß zu handeln, fehlt dir die nötige Kraft dazu.

Ich habe dieses Versagen schon früher beobachtet; zum Beispiel am See Genezareth, als du in den Fluten versankst, nur weil du Angst vor der eigenen Courage bekommen hattest. Wo war denn dein unverrückbarer Glaube, als du ihn am dringendsten benötigt hättest? Fast wärst du ertrunken!«

Der kräftige Fischersmann blickte betroffen zu Boden.

»Herr, es tut mir leid, dass ich dich zuweilen enttäuscht habe. Aber ich wiederhole hiermit mein absolut ehrlich gemeintes Bekenntnis: Ich werde dich niemals verleugnen, nicht in dieser Nacht und auch nicht in ferner Zukunft! Dafür werde ich jedes Opfer bringen, das vonnöten ist!«

Jesus seufzte aus tiefster Seele, drückte kurz die ihm dargebotene Hand und beschleunigte seinen Schritt. Ihm war jetzt bloß noch danach, sich jeglicher menschlichen Gesellschaft baldmöglichst zu entledigen. Er war dieser wehleidigen Gespräche, welche sich ergebnislos im Kreis drehten, längst überdrüssig geworden.

›Könnte ich nicht einfach die Beine in die Hand nehmen und weglaufen? Es wäre bestimmt viel vernünftiger, mich ein wenig auszuruhen, bevor mein irdisches Leben eine dermaßen abrupte Veränderung erfahren wird!‹, dachte er voller Fatalismus. Er verwarf diesen spontanen Einfall jedoch aus Gründen des Respekts genauso schnell, wie er ihm gekommen war.

Dennoch brannte Jesus die Zeit auf den Nägeln, denn er wollte sein Bewusstsein in aller Ruhe auf das kommende Martyrium einschwören und innige Zwiesprache mit Gott halten. Judas würde sicher nicht lange fackeln und seinen Plan umgehend in die Tat umsetzen. Wie lange konnte es noch dauern, bis die Häscher auftauchten?

Wenn erst alles vollbracht war, dann würde er, der prophezeite Bote aus dem Hause Davids, im Himmelreich Aufnahme finden. Dies war von Anfang an sein vorherbestimmtes Schicksal gewesen. Der einzige Aspekt, der ihm ziemlich zu schaffen machte, war die Ungewissheit über das Davor.

So richtete er eine allerletzte Prophezeiung an seinen noch immer reichlich gekränkt drein blickenden Jünger, der schlurfend neben ihm über die staubigen Wege trottete:

»Wir werden es bald sehen! Ich aber sage dir: Du wirst mich verleugnet haben, noch ehe der Hahn im Morgengrauen dreimal kräht!«

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