Operation Terra 2.0

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Aber dennoch – selbst falls ich diesen angeblich so erleuchteten Rabbi nicht hinrichten ließe, um dein mitleidiges Herz zu erfreuen … ich bin mir vollkommen sicher, dass der Sanhedrin Mittel und Wege finden würde, dass Jesus letzten Endes trotzdem zu Tode käme. Die Pharisäer schätzen es nicht, wenn man ihren Plänen in die Quere kommt!«, sinnierte der Statthalter pessimistisch und ließ sich schon wieder Wein nachschenken.

»Dann musst du eben zu einer schlauen List greifen, um deine anderslautende Entscheidung zu rechtfertigen!«, ereiferte sich Claudia erregt. »Du bist intelligent und gewieft, da sollte dir bestimmt aus dem Stegreif etwas Passendes einfallen. Aber eines musst du mir vorab unbedingt versprechen … !«

»Was denn? Komm endlich auf den Punkt!«

»Dass du ihm zumindest einen fairen Prozess machst, falls alle Stricke reißen sollten. Gib ihm ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung, lasse ihn sein Handeln erklären und sich dafür rechtfertigen! Ich bin sicher, dass er dir ein paar schlagende Argumente liefern wird, die es dir anschließend gestatten dürften, ihn guten Gewissens ohne jede Strafe von dannen ziehen zu lassen«, bettelte die Römerin mit einem Augenaufschlag.

»Im Falle eines eindeutigen Freispruchs könnte der Sanhedrin es nicht wagen, Jesus in Eigenregie hinzurichten, auch nicht unter einem hanebüchenen Vorwand. Der Nazarener hat doch tatsächlich nichts Schlimmes verbrochen! Was kann er denn eigentlich dafür, dass ihn die unbedarften Leute für Gottes Sohn oder einen König der Juden halten?«

Pontius Pilatus seufzte resigniert, gab sich versöhnlich. »Na schön! Du glaubst offenbar, dass seine Eloquenz ihm das Leben retten könnte. Gut, probieren wir das eben aus! Aber ich muss dir so oder so eine klitzekleine Gegenleistung abverlangen. Von nichts kommt nichts, verstehst du?«

»Alles, was du willst! Was darf ich denn für dich tun?«, fragte Claudia und konnte verräterische Tränen der Erleichterung nur mit großer Mühe zurückhalten.

Der Mann erhob sich mit einem vielsagenden Glitzern in den Augen und steuerte leicht schwankend auf sein charmantes Eheweib zu. Der verführerische Anblick ihres Körpers und der exzellente Wein hatten ihre Wirkung getan.

»Mir ist nach einem ausgedehnten Gladiatorenkampf zumute! Was ist, willst du mir ins Schlafgemach folgen?«, fragte er lüstern und fuhr mit der Hand über ihr prachtvolles Gesäß. Ein bisschen plump, aber unmissverständlich.

Hätte Pontius Pilatus in diesem Augenblick gewusst, dass seine Frau sich im vergangenen Monat heimlich von Jesus auf den christlichen Glauben hatte taufen lassen, hätte er wegen ihres dringlichen Wunsches wahrscheinlich ganz anders reagiert. Manchmal war es unbestreitbar klüger, die Wahrheit für sich zu behalten.

*

Gabriel galt von jeher als äußerst selbstbeherrschter, kühl kalkulierender Mensch, dem seine Gefühle nur selten äußerlich anzumerken waren. Seit er auf Terra in ein gesetztes Alter gekommen war, schien er im Grunde überhaupt nicht mehr aus der Ruhe zu geraten.

Doch an jenem Donnerstag im April platzte jenem charakterstarken Mediziner der Kragen gründlicher, als Balthasar dies jemals für möglich gehalten hätte. Der muskulöse Hüne erinnerte nun stark an einen wütenden Racheengel, der im Begriff stand, Amok zu laufen.

»Genug, das reicht! Ich habe mir nun über eine geschlagene Stunde lang deine kaltschnäuzigen Ausflüchte darüber angehört, weshalb wir keinesfalls in das Geschehen eingreifen sollten. Mehr davon kann und will ich nicht ertragen!

Du hast als Missionsleiter eine Fürsorgepflicht für sämtliche Teilnehmer, auch wenn du das anscheinend nicht mehr wahrhaben willst! Solaras erfüllt den wahnwitzigen Plan, welchen wir am grünen Tisch für ihn ausersehen haben, bis hin zur totalen Selbstaufgabe. Kalmes wiederum hat es mit viel Mühe geschafft, ihn bis dahin zu bringen und sorgt sich nun zu Recht um sein nacktes Leben. Und da sollen wir einfach tatenlos zusehen, ohne den beiden zu Hilfe zu kommen?!

Balthasar, es handelte sich heute schon um den zweiten Hilferuf! Wir müssen darauf reagieren, unsere hochgeschätzten Kollegen sofort am Ölberg abholen … oder zumindest irgendeine Show mithilfe unserer fortgeschrittenen Technik veranstalten, die den undankbaren Leuten in Jerusalem einen dermaßen gewaltigen Respekt einflößt, dass sie es nicht mehr wagen würden, Hand an Jesus zu legen!

Was weiß ich, man müsste sich eben etwas Ausgefallenes einfallen lassen, was ihnen Angst und Schrecken bereitet und eine Intervention ihres Gottes vorspiegelt!

Dir ist in deiner doch sehr theoretischen Denkweise hoffentlich klar, dass sie auf diesem Planeten unbequeme Menschen bereits aus geringsten Anlässen köpfen, erstechen, steinigen, verbrennen oder sogar ans Kreuz zu nageln pflegen, oder?

Wir haben die Pflicht, eine solche Barbarei im Namen Tiberias zu verhindern! Zumindest aber wäre es nur fair, Kalmes wenigstens die gewünschten Informationen zukommen zu lassen, damit sie sich wehren oder beizeiten in Sicherheit bringen kann. Mission hin oder her wir sind immer noch Menschen, keine gefühllosen Roboter!

Ich melde mich freiwillig für den Einsatz und bin bereit, noch in dieser Minute zum Ölberg aufzubrechen. Kalmes hat mich schließlich explizit angefordert!«, stieß Gabriel in ungewohnter Lautstärke hervor. Dabei lief er schnellen Schrittes auf und ab, als wäre er ein im Käfig gefangener Tiger.

Balthasar verschränkte die zitternden Hände über seinem aufgedunsenen Leib, kniff die Lippen zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen und schwieg beharrlich. Er ließ sich von seinem Kameraden nicht aus der Reserve locken, denn er durfte nichts genehmigen, das seinen klar definierten Befehlen zuwider laufen würde.

Aus Gabriels eingeengtem Blickwinkel heraus trafen dessen Argumente durchaus zu, doch er musste das große Ganze im Fokus behalten, durfte sich bei seinen Entscheidungen nicht von Emotionen beherrschen lassen. Der Missionserfolg stand in der Rangfolge über allen anderen Belangen, denn hier ging es nicht um das Wohl von Einzelnen, sondern vielmehr um dasjenige einer komplexen Kultur, die auf seinem fernen Heimatplaneten um ihre Existenz kämpfte. Tiberias Überleben zählte, andere Prioritäten gab es nicht.

»Bist du nun fertig? Kann man mit dir wieder vernünftig reden, oder willst du dich weiterhin aufführen wie ein Irrer?«,

fragte Balthasar verschnupft und erhob sich mit gemessenen Bewegungen von seiner Sitzbank, die aus Bequemlichkeitsgründen mit dicken Kissen belegt war.

»Solltest du nämlich weiterschimpfen wollen, so kannst du das auch anderswo tun. Ich werde mir deine Respektlosigkeit nicht mehr lange gefallen lassen. Deswegen bestehe ich darauf, dass du mich künftig wieder mit den höflichen Bezeichnungen Ihr und Vorderster ansprichst. Wir hatten diese Floskeln in den vergangenen Jahren bloß deswegen nicht mehr verwendet, weil wir prima als Team harmonierten und ohnehin alle im selben Boot saßen.

Da ich nun meine Vormachtstellung durch dein unangemessenes Verhalten gefährdet sehe, führe ich die offizielle Anrede für Vorgesetzte ab sofort wieder ein. Dazu bin ich autorisiert, wie du weißt.

Ich warne dich vorsichtshalber aus alter Freundschaft; unternehme besser gar nichts ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Wir befinden uns in einer hochsensiblen Phase der Operation, die keinerlei Fehler verzeiht. Nimm dich und deine Befindlichkeiten zurück, ansonsten wirst du mich nämlich bald von einer völlig neuen Seite kennenlernen!«

Gabriel verließ den Schauplatz wortlos, denn er hätte andernfalls nicht mehr an sich halten können. Was ging hier Übles vor sich? War ein mieses Intrigenspiel im Gange, dessen Regeln er nicht einzuschätzen vermochte? Balthasar ließ sich trotz aller Bemühungen weiterhin nicht in die Karten sehen.

Zwei Seelen wohnten in Gabriels Brust. Diese einander ebenbürtigen Kontrahenten stritten heftig um die Kontrolle über seine Handlungen. Eine davon wollte dem soeben erhaltenen Befehl buchstabengetreu Folge leisten, denn der hochdotierte Mediziner hatte auf Tiberia in seiner Jugendzeit selbstverständlich die allgemein übliche ideologische Ausbildung erhalten.

Es war tatsächlich Fakt, man konnte es nicht wegleugnen … vorangegangene Missionen waren maßgeblich daran gescheitert, dass einzelne Teilnehmer aus der Reihe tanzten und ihren ursprünglichen Befehlen zugunsten intuitiver Planänderungen zuwiderhandelten. So stand es jedenfalls in den Abschlussberichten dokumentiert. Aber würde die von ihm beabsichtigte Intervention dem Gelingen der Operation Terra 2.0 überhaupt entgegenstehen?

Die andere Seite seiner Seele zwickte und zwackte, peinigte ihn mit schweren Schuldgefühlen. Er musste doch Kalmes und ihrer Gruppierung zu Hilfe eilen! Wäre er vollkommen ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich gleichwohl die wahren Beweggründe für seine unkontrollierten Ausraster bei Balthasar eingestehen müssen.

Jesus‘ Schicksal berührte ihn zwar, doch hätte Gabriel wegen ihm nicht seine eigene Reputation leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Wenn dieser Revoluzzer jetzt in einem illegalen Prozess zum Tode verurteilt wurde, dann war er größtenteils selber daran schuld. Solaras predigte als Jesus unablässig Liebe und Sanftmut, ging dabei aber ziemlich ungeschickt vor, machte sich mit seiner larvierten Aggressivität viele Feinde.

Nein, im Grunde sorgte sich Gabriel ausschließlich um jene Frau mit den sanften braunen Augen, in die er seit langer Zeit insgeheim verliebt war. Solange sie als Maria Magdalena an Jesus‘ Seite weilte, war sie höchstwahrscheinlich selbst in Gefahr.

Wütend schleuderte der Außerirdische Steine gegen einen Baumstamm, um seinen überschäumenden Frust zu kanalisieren. Balthasar hatte soeben sein blindes Vertrauen, seine Loyalität verraten. Was Gabriel über Jahrzehnte hinweg für eine gelungene Männerfreundschaft gehalten hatte, war in Wirklichkeit wohl keinen Pfifferling wert. Wie sehr musste er sich in seinem vermeintlichen Weggefährten getäuscht haben!

 

Sollte er noch heute desertieren, mit Kalmes untertauchen und für immer mit ihr auf Terra zurückbleiben? Aber was geschähe, falls Kalmes ihm seine selbstlose Rettungsaktion nicht danken und lieber mit dem lebenden oder toten Solaras brav nach Tiberia zurückkehren würde? Liebte sie diesen langhaarigen Hänfling etwa immer noch?

In diesem Falle säße er hinterher alleine hier in der Wüsteneinöde dieses rückständigen Planeten herum und würde sich bis an sein Lebensende wegen der verpassten Chancen und seiner fatalen Fehleinschätzung grämen!

Während Gabriel einen Stein nach dem anderen zur Kompensation seiner Ratund Machtlosigkeit zerschellen ließ, eilte Balthasar aufgewühlt ins Commudrom. Die schneidenden Vorwürfe seines Kollegen hatten ihn stärker verletzt, als er sich anmerken lassen durfte.

Ungeachtet dessen kam er zuverlässig seinen Pflichten nach, fügte der Missionsdokumentation einen neuen Eintrag hinzu. Er wägte seine Wortwahl ungewöhnlich lange ab, bevor er zu sprechen begann.

Balthasar 209/13.3.6.1.4, terrestrische Zeit: 7.19.10.8.3, Donnerstag

Es ist vorbei. Der Traum, dem manche Crewmitglieder in romantischer Verkennung der Realität nachhingen, ist vorüber. Aus einer verschworenen Gemeinschaft von ziegenzüchtenden Wahl-Terranern ist nun von einer Sekunde zur anderen wieder die tiberianische Missionscrew geworden, und zwar mit sämtlichen Rechten, Pflichten und Hierarchiestrukturen. Unsere Tage auf Terra sind gezählt.

Wir haben alle gewusst, dass es eines Tages soweit kommen wird. Und doch kann auch ich keinen Hehl aus meiner Betroffenheit machen, denn dieses unzivilisierte Terra hat unsere Seelen schon kurz nach der unsanften Ankunft gefangen genommen. Der Planet ist uns trotz oder gerade wegen seiner Unvollkommenheit zur zweiten Heimat geworden. Aber das erwähnte ich sicher bereits in einem meiner früheren Berichte.

Ich weiß, das ist eine seltsame Sichtweise für einen rational erzogenen Tiberianer; ihr Daheimgebliebenen werdet sie sicherlich sehr schlecht nachvollziehen können. Aber folgendes solltet ihr bedenken, bevor ihr euch über meine Gedanken wundert oder mich dafür an den Pranger zu stellen gedenkt:

Tiberia ist im Grunde genauso viel oder wenig unsere »Heimat« wie Terra … diese Bezeichnung verdient eigentlich einzig und allein der Mars, auch wenn er leider schon vor unvorstellbar langer Zeit unbewohnbar geworden ist.

Am schwersten fiel mir die Entscheidung, Jesus hier seinem vorgezeichneten Schicksal zu überlassen. Mir kam zu Ohren, dass er vom Sanhedrin zum Tode verurteilt worden sein soll; sofern der Statthalter Pontius Pilatus diesem Beschluss innerhalb der kommenden Tagen folgt und den Hinrichtungsbefehl antragsgemäß erteilt, werden wir unseren Gefährten verlieren.

Als wir einst auf Tiberia über die erfolgversprechendste Vorgehensweise für einen solchen Fall diskutierten und berieten, fiel es mir leicht, den Sinn und Zweck eines Märtyrertodes zu erkennen. Solaras‘ Leben galt mir als kleines Opfer, verglichen mit dem Effekt, den sein Tod bei den Gläubigen auslösen müsste. Auch ich habe dafür gestimmt, den Dingen ihren Lauf zu lassen, falls man ihm nach dem Leben trachten sollte.

Ein mildtätiger Mann, der mutig und selbstlos für das Heil seiner Welt stirbt, dürfte den Menschen Terras für eine ganze Weile im Gedächtnis haften bleiben. Vielleicht überlebt auf diese Weise zumindest sein Andenken.

Alanna, es war Euch damals mühelos gelungen, mich vollends von Euren wohldurchdachten Plänen zu überzeugen! Doch heute, da ich inmitten des tragischen Geschehens sitze und voller Nervosität unserem Abflug entgegenfiebere, quälen mich Zweifel. Mein Gewissen meldet sich unüberhörbar mit ätzenden Vorwürfen.

Mich vermag derzeit nur der Gedanke ein wenig zu trösten, dass Jesus nun höchstwahrscheinlich ein schwerer Schock erspart bleibt. Die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit gar kein Terraner, sondern ein tiberianischer Messias ist, wäre bestimmt weit über sein Begriffsvermögen gegangen! Hätte er sich nach dem Rückflug jemals akklimatisieren können? Ich weiß es nicht zu sagen!

Ich kenne diesen Solaras persönlich, habe ihn in seiner zweiten Identität aufwachsen sehen und viele TUN in seiner Nähe verbracht.

Ich musste mitansehen, wie sehr er manchen Kollegen am Herzen lag und immer noch liegt. Allen voran gilt das natürlich für Kalmes, die ihr eigenes Leben als Maria Magdalena ohne Zögern für ihn hingeben würde, wenn sie nur den leisesten Hauch einer Chance sähe, ihn dadurch retten zu können.

Sie hat im Grunde vollkommen Recht: Jesus‘ Verurteilung ist zweifellos ein himmelschreiender Akt der Ungerechtigkeit, selbst nach unseren zumeist abweichenden Maßstäben! Die Fähigkeit zu selbstlose Liebe fehlt uns auf Tiberia, wir sind bei aller Fortschrittlichkeit viel zu kopflastig geworden. Haben wir die falschen Werte geopfert, damit wir unsere kulturellen Errungenschaften um jeden Preis erhalten konnten?

Trotz dieser sentimentalen, in euren Augen vermutlich höchst unangebrachten Überlegungen – die finale Entscheidung über unser weiteres Vorgehen ist nach terrestrischen Termini schon vor Jahrzehnten gefallen, auch wenn sie für euch auf Tiberia erst wenige Tage zurückliegt. Ich werde mich den Vorgaben unter von vorneherein fruchtlosem Protest beugen und zusehen, dass ich die Mission zu einem gelungenen Abschluss bringe. Plangemäß, genau wie es von mir erwartet wird.

So kann ich unserem künftigen Helden nur wünschen, dass ihm wenigstens ein schneller Tod beschieden sein möge. Für den Fall, dass man ihn mit Spott und Häme zur Schau stellt oder ihn irgendwelchen Qualen aussetzt, kann ich nämlich nicht dafür garantieren, dass hier keine Meuterei ausbricht.

Womöglich könnte es Kollegen geben, die unbefugt Rettungsversuche unternehmen und sich strikt weigern würden, durch den Zeittunnel zurückzukehren. Ich könnte eventuellen Renegaten bei wohlwollender Betrachtung nicht einmal einen Vorwurf machen, und doch würde ich bei einer solchen Entwicklung hart durchgreifen müssen, um die Heimreise der restlichen Crew nicht zu gefährden. Mir steht eine gefährliche Gratwanderung bevor.

Wir mögen damals bestens geschult und auch auf Traumata aller Art vorbereitet worden sein … dennoch sind und bleiben wir Menschen, deren psychische Belastbarkeit Grenzen kennt. Wir neigen aufgrund der ausgedehnten Aufenthaltsdauer genau wie die Terraner zu unüberlegten, recht spontanen Handlungen, sobald wir an unsere Grenzen gelangen. Stellt euch besser beizeiten darauf ein.

Wie auch immer es am Ende kommen wird – der Raumgleiter ist jedenfalls repariert und abflugbereit. Es stellt sich nur die Frage, ob ich am Tag X eine ausreichend große Crew für den Start zur Verfügung habe. Die nächsten KIN werden es erweisen.

Balthasar 209/13.3.6.1.4, Ende

*

Eine Woche später wirkte Jesus von Nazareth plötzlich wie ausgewechselt. Er schien seine Emotionen jetzt besser unter Kontrolle zu haben, fokussierte sich offenbar konzentriert auf ein neues Ziel. Seine depressive Phase war zur Freude Maria Magdalenas quasi über Nacht sangund klanglos vorüber gegangen; man merkte es daran, dass Jesus sich wieder emsig den Aktivitäten der Gemeinschaft widmete.

Gleichwohl sah der ausgebrannte Prediger nicht gerade fröhlich drein, doch meisterte er seinen Alltag an jenem Donnerstag gefasst und verschwand sogar für eine Stunde ins benachbarte Dorf, um dort etwas für das bevorstehende Passah-Sedermahl auszuhandeln. Seine Apostel atmeten erleichtert auf, denn ihr hochgeschätzter Meister schien langsam zur Normalität zurückzukehren.

Maria Magdalena nahm Jesus beiseite, sobald er beschwingten Schrittes ins Lager zurückkehrte. Sie war dankbar für die Abwechslung, denn wie schon in den vergangenen Tagen hatte sie unablässig die Gegend nach verirrten Wanderern abgesucht. Vergeblich, doch sie glaubte im Grunde ihres Herzens noch immer fest daran, dass die tiberianische Crew bald Hilfe schicken müsste. Es konnte, nein, durfte gar nicht anders sein!

Wenigstens konnte man inzwischen mit Jesus wieder kommunizieren; er hüllte sich, Gott sei Dank, nicht mehr in rätselhaftes Dauerschweigen. Marias Gefühle von Trauer und Einsamkeit lösten sich allmählich in Wohlgefallen auf, machten neuer Zuversicht Platz.

»Da bist du ja wieder!«, begrüßte sie ihn freudig und drückte ihm einen liebevollen Kuss auf den Mund. »Wie ich von Petrus hörte, willst du uns heute Abend ein traditionelles Sedermahl stiften? Hast du drüben im Dorf etwas organisieren können?«, fragte Maria neugierig.

Maria brannten noch so viele Fragen auf der Seele, die ihr viel dringender erschienen – aber sie durfte ihrem Liebsten so kurz nach Beendigung der Funkstille nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ihre Sorgen mussten noch ein wenig warten.

Jesus lächelte, wirkte jedoch ein bisschen abgelenkt.

»Ja, es ist alles geregelt, auch wenn ich im Nachbardorf keinen geeigneten Ort finden konnte. Wir werden heute jedoch trotzdem ein gemeinsames Abendmahl bei Kerzenschein einnehmen können. Ein freundlicher Großbauer stellt uns dafür sein geräumiges Wohnhaus am Stadtrand von Jerusalem zur Verfügung und versorgt uns fürsorglich mit Speis und Trank.

Alles wird ordnungsgemäß nach jüdischen Traditionen hergerichtet sein, wenn wir in der Abenddämmerung gemeinsam dorthin wandern. Judas Iskariot mag den Mann nachher fürstlich für seine Mühe entlohnen. Mehr kann ich für euch leider nicht tun!«

Die gutaussehende Tiberianerin stutzte. »Aber du tust doch mehr als genug für uns!«, protestierte sie kopfschüttelnd. Nach kurzem Überlegen fügte sie eindringlich hinzu:

»Apropos Judas … Jesus, bist du dir sicher, dass du ihm vorbehaltlos trauen kannst? Er geht als Einziger oft seine eigenen Wege, auch nach Jerusalem hinein. Dabei achtet er jedes Mal peinlich genau darauf, dass ihm niemand folgt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er dort Absonderliches treiben mag. Besorgungen macht er jedenfalls nicht, denn er kehrt stets mit leeren Händen zurück.

Meines Erachtens verbirgt er irgendein dunkles Geheimnis vor uns, das sagt mir die weibliche Intuition. Übrigens ist Judas zurzeit schon wieder unterwegs!«

Jesus wirkte mit einem Mal traurig. »Zerbrich dir darüber bitte nicht den Kopf, Maria. Ich habe alles im Griff, gehe ebenso wie du mit wachen Augen durch die Welt. Alles hat seine vorbestimmte Ordnung im Universum. Noch heute Abend werde ich zu euch auf dieser Feier über die Zukunft sprechen. Danach essen und trinken wir zusammen, denn die Zeit drängt!«

Der Mann mit den hellen Augen, in denen plötzlich Tränen standen, ließ seine Gesprächspartnerin nach dieser nebulösen Ankündigung einfach stehen und trottete zu seinen wartenden Jüngern, um ihnen dieselbe Botschaft zu überbringen.

Außer dem aufmerksamen Simon Petrus bemerkte niemand, dass Jesus merkwürdig bedrückt dreinsah, sich eigentlich gar nicht in Feierlaune befand. Freudig liefen sie in alle Himmelsrichtungen davon, um sich für das speziell zubereitete Mahl in frische Gewänder zu kleiden.

Man gedachte damit alljährlich dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, dem Erhalt der Zehn Gebote im Sinai-Gebirge und ganz allgemein Gottes Bund mit den Juden. Es war normalerweise üblich, jene symbolische Kulthandlung inmitten seiner Familie zu begehen. Wobei in diesem speziellen Fall Jesus den Status der Vaterfigur einzunehmen hatte, denn seine engsten Jünger galten ihm als gleichwertiger Ersatz für einen Familienverband herkömmlicher Art. Er gewährte ihnen schließlich genau wie ein Patriarch Schutz, Segen und Hilfe.

Einige der Jünger hatten bereits wegen Jesus‘ introvertiertem Zustand befürchtet gehabt, dass ihr Sedermahl in diesem Jahr womöglich ausfallen könnte. Nun ging ein Aufatmen der Erleichterung durch das Lager, denn sie als seine treuesten Anhänger würden zum Glück doch nicht mit den uralten Riten des Judentums brechen müssen. Im Bauernhaus würden später ein Opferlamm, ungesäuertes Brot, Bitterkräuter und Wein auf die hungrigen Apostel warten.

 

Maria hingegen erstarrte abrupt mitten in der Bewegung, ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Hatte Jesus wirklich vom Universum gesprochen? Himmel … seine wahre Identität schimmerte anscheinend immer stärker durch die künstlich geschaffene Jesus-Fassade!

Niemand sonst in dieser archaischen Zeit ahnte auch nur ansatzweise etwas von Spiralgalaxien, Supernovae, schwarzen Löchern, Pulsaren oder Sternenhaufen – geschweige denn von jenen universellen Gesetzen, welche dem Menschen nach dem Urknall überhaupt erst seine Existenz ermöglicht hatten!

Wen hatte sie hier eigentlich vor sich? Jesus, den terrestrischen Messias – oder vielmehr den wissenschaftlich ausgebildeten Tiberianer Solaras?

*

Der diensthabende Offizier der jüdischen Tempelwache runzelte missbilligend die Stirn. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass er jeglichen Befehl des Sanhedrins buchstabengetreu auszuführen hatte. Dennoch erschien es ihm nach eigenem Dafürhalten falsch, einen einzelnen Juden für die gelegentlichen Unruhen im Volk büßen zu lassen.

»Natürlich, ich habe den Befehl verstanden! Wir sollen Jesus von Nazareth noch in dieser Nacht festnehmen und Pontius Pilatus zur weiteren Verfügung überstellen.

Aber, mit Verlaub, nur zu meinem persönlichen Verständnis: Wie sollte dieser Heiler mit seinen Predigten und Handlungen die Machtposition des Sanhedrins gefährden können? Es handelt sich um die zentrale Institution des Judentums! Wie könnte ein Einzelner dieses mächtige Bollwerk in einem solchen Ausmaß gefährden, wie es unser Hohepriester Kaiphas offenbar zu befürchten scheint?«

Der Würdenträger zog ein säuerliches Gesicht. Ihm war anzusehen, dass auch er mit dem Befehl nicht hundertprozentig konform ging. Aber die Entscheidung war im Sanhedrin nun einmal gefallen, und aus ihr resultierte der soeben überbrachte Befehl. Was erdreistete sich dieser lausige Befehlsempfänger, ihn frech zu hinterfragen?

»Dieser Mann hat im ganzen Lande für Aufruhr gesorgt. Er ist ein potentieller Unruhestifter! Es geht auch mehr um das Gedankengut, das Jesus verbreitet, und nicht so sehr um die Person. Die Römer könnten dem Sanhedrin noch den letzten Rest an verbliebener Selbstständigkeit nehmen, indem sie einseitig das Besatzungsrecht ändern, wenn er weiter ungehindert sein zersetzendes Unwesen treibt.

Ist dir bewusst, was das letzten Endes für uns bedeuten würde? Wir wären endgültig dazu verdammt, uns wie Marionetten an der Schnur dieser Ungläubigen zu bewegen! Die Römer ersticken rebellische Tendenzen ohne Rücksicht auf Verluste im Keim, und wir wären hinterher die Leidtragenden. Kaiphas musste sich jener traurigen Tatsache leider beugen.

Die Verhaftung dieses Rabbi ist insofern mehr eine vorbeugende Maßnahme, um das gesamte jüdische Volk vor den Folgen eines Aufruhrs zu schützen und den Tempelkult nach den Geboten der Thora für die Nachwelt zu bewahren. Besatzer aus fernen Ländern mögen kommen und gehen, doch unser Glaube muss für die Ewigkeit Bestand haben!

Glaubst du, Moses hat das Volk Israel einst aus den Fängen des ägyptischen Pharaos befreit, damit es wenig später wieder von Fremden geknechtet werde? Noch dazu im eigenen, von Gott verheißenen Land?

Es ist auf jeden Fall besser, wenn ein einzelner Mensch für das Volk stirbt als umgekehrt. Vergiss nicht, dass dieser Jesus sogar mit der Zerstörung des heiligen Tempels gedroht hat! Du tust also nichts als deine Pflicht für Gott und die Menschen. Bist du dazu bereit?«, fragte der Mann lauernd.

Der Offizier nickte. »Selbstverständlich! Von dieser Seite hatte ich die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet, bitte verzeiht mir meine Unverfrorenheit. Ich hätte Euch nicht mit unbotmäßigen Fragen belästigen dürfen. Meine uneingeschränkte Loyalität und mein Leben gehören Euch, so wie ich es einst geschworen habe.

Aber sagt mir, wie sollten wir diesen Rabbi im Kreise seiner Anhänger überhaupt identifizieren können? Diese Getauften sehen doch alle gleich aus, kleiden sich in einfache Gewänder und tragen Sandalen mit Riemen aus billigem Leder! Gibt es irgendein zuverlässiges Unterscheidungsmerkmal?«

»Aber ja! Es wurde mit unserer Kontaktperson ein Zeichen vereinbart. Wir stehen seit einiger Zeit mit einem Jünger namens Judas in Verbindung, der seinen Meister an uns verraten wird. Er entstammt dem engsten Kreis um Jesus und ist mit seiner Situation mehr als unzufrieden. Nicht zuletzt deshalb, weil er daran glaubt, dass der sogenannte Messias nur ein gemeiner Betrüger ist, der die Menschen vorsätzlich täuscht.

Legt euch auf die Lauer und wartet ab. Laut Judas wird sich die Gruppe heute Nacht im Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs zur Ruhe betten. Sobald du dort beobachtest, dass ein großgewachsener Mann im längsgestreiften Kaftan einen hageren Kerl herzlich mit dem Bruderkuss begrüßt und ihn unterwürfig als Meister tituliert, schlagt ihr zu! Denn dieser vermeintliche Akt der Respektsbezeugung ist in Wirklichkeit das vereinbarte Zeichen.

Vergesst dabei keinen Augenblick, dass ihr nur eure Pflicht für abertausende von Juden erfüllt! Denkt an die künftigen Generationen, sie werden es euch dereinst danken!«

Der Offizier salutierte markig, sein Gewissen war jetzt hinreichend betäubt. Die Worte seines Vorgesetzten hatten die beabsichtigte Wirkung gezeigt. So sehr, dass der Offizier den Auftrag inzwischen sogar als große Ehre und sich selbst als edlen Bewahrer des jüdischen Glaubens betrachtete.

»Es soll geschehen, wie Ihr befehlt! Noch ehe die Sonne zum nächsten Mal am Horizont erscheint, wird Jesus von Nazareth im Kerker des Pontius Pilatus sitzen und zähneklappernd auf seine Hinrichtung warten!

Wie sollen wir es eigentlich handhaben, falls seine Anhänger Widerstand leisten? Müssen wir diese Männer ebenfalls verhaften und mit ihm einsperren?«

Der Würdenträger winkte grinsend ab. »Ach was, das sind doch bloß harmlose Spinner, die schon aus religiöser Überzeugung keine Waffen tragen. Die werden euch nicht ernsthaft gefährlich werden können. Ohne den Zuspruch ihres Anführers wird eventueller Widerstand ohnehin schnell in sich zusammenfallen.

Lasst diese sogenannten Jünger ruhig nach Belieben protestieren und wehklagen; wenn sie fliehen wollen, verfolgt sie nicht, denn sie sind der Mühe kaum wert!

Sollte jemand euch wider Erwarten doch bedrohen, so seid ihr natürlich befugt, euch diese Person auf geeignete Weise vom Hals zu schaffen. Aber bitte möglichst unauffällig, die ganze Aktion soll nicht viel Aufmerksamkeit erregen!«

*

Am Rande einer Plantage aus abgeblühten Mandelbäumen stand jenes langgezogene Bauernhaus, in welchem Jesus mit seinen Aposteln den Sederabend zu verbringen gedachte. Das Gebäude war hundert Jahre zuvor aus grob behauenen Natursteinen gebaut worden, wodurch es im Innenraum selbst bei größter Hitze angenehme Kühle versprach. Kleine rechteckige Fenster tauchten den großen Wohnraum schon tagsüber in ein dämmriges Zwielicht.

Einer nach dem anderen trat staunend ein, nahm an der langen Tafel Platz. Fünf Weinkrüge und eine Ansammlung von hölzernen Kelchen standen auf einem kleinen Tisch an deren Stirnseite bereit, warteten auf durstige Gäste. Wahrscheinlich saß an diesem Platz normalerweise der Familienvater, um mit Adleraugen über den Ausschank zu wachen.

Bauer Jeremias, welchem das Anwesen in dieser Generation gehörte, trug eilfertig die bestellten Teller auf, legte einige Brote daneben und zog sich dann freundlich grüßend zurück. Er wollte mit dem verbliebenen Rest seiner einstmals großen Familie ebenfalls den Sederabend feiern, ganz still und bescheiden. Als guter Gastgeber verstand er sich darauf, den Passahpilgern nur die allerbesten Speisen zu kredenzen, die seine bestens gefüllte Vorratskammer hergab.