Die letzte Instanz

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“Gesperrt. Benutzung auf eigene Gefahr“

In Plessa wurde der schmale Weg von der Lehrlingswerkstatt nun als Pfad des Todes bezeichnet. Keiner traute sich mehr hier lang zu fahren oder zu gehen. Die Natur übernahm wieder die Regie und bald war von dem Weg nichts mehr zu sehen. Nur ein Kind, ein Junge lief immer wieder durch den lichten Birkenwald und jagte mit kalten Augen den kleinen Kaninchen hinterher, oder stand einfach nur so da und starrte vor sich hin. Der ganze Waldboden in dieser Gegend war mit Buschwindröschen übersät. Dies glich einem weißen Tuch, welches man über den Waldboden gelegt hatte, um alle Spuren des Geschehenen zu überdecken.

Es war das Schicksal dieses Jungen, in eine Welt hinein geboren worden zu sein, die er nicht geschaffen hatte und der er nicht gewachsen war. Die Umstände seines Seins und die Gefühllosigkeit seines Umfeldes, machten ihn zu dem, was er heute ist. Allein die Gesellschaft trägt daher die Verantwortung für seine Taten.

So, oder so ähnlich würde sich wohl der Anfang eines Plädoyers anhören, sollte ich einmal für meine Taten vor Gericht gestellt werden. Bisher hatte ich Glück, und das soll auch so bleiben. Keiner ahnt, was ich so in meinem Leben alles angestellt habe. Wenn ich so daran zurück denke, wie und wo alles angefangen hatte.....

Das Lager

Es begann in einem Aufnahmelager am Rand von Neustadt am Rübenberge in Niedersachsen. Hier waren ausnahmslos Kriegsflüchtlinge aus allen Teilen Deutschlands untergebracht. Grauer Menschenmüll, menschliches Standgut, das der Krieg hierher gespült hatte. Hilflos, ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, ihrer Identität und der Heimat beraubt, suchten sie Schutz und Geborgenheit. Doch keiner wollte diese Menschen haben. Die Fremdenfeindlichkeit war allgegenwärtig. Die, welche bezahlen konnten, waren gern gesehen. Aber das waren nur wenige. Die meisten hatten nur ihr Leben, und das was sie am Leib trugen retten können. Sie waren unerwünscht. Also schob man sie ab, an den Rand der Stadt. Ein schäbiges Barackenlager, welches während, und auch nach Ende des Krieges als Unterkunft für Zwangsarbeiter diente. Hier schufteten Gefangene Engländer, Franzosen und Holländer bis zu ihrer Befreiung im Moor und stachen Torf. Danach übernahmen deutsche Kriegsgefangene Behausungen und Arbeit. Danach zogen die Flüchtlinge und Besitzlosen ein. In diese Hölle wurde ich hinein geboren. Als ich meiner Bewusst wurde, war ich gerade einmal 5 Jahre alt. Vielleicht war das auch gut so, dass die ersten Jahre meines Lebens keinen Platz in meinem Gedächtnis gefunden hatten. Aus dieser Zeit stammen meine ersten – wenn auch blassen - Erinnerungen. Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Mutter schon die Flucht ergriffen, und war zu ihrer Mutter in die Ostzone gezogen. Zu meinem Leidwesen muss ich gestehen, dass ich sie nie bewusst wahrgenommen hatte. Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Dabei hatte sie doch um mein Leben kämpfen müssen. Schon nach acht Monaten kam ich auf die Welt und mein Leben hing an einem seidenen Faden. Da ich im Januar geboren wurde, war es nicht nur bitterkalt im Barackenlager, es fehlte auch an Holz und Kohle. Wie mir mein Vater später erzählte, wurde die Milch - mit der ich anfangs ernährt wurde – mit einem Fidibus erwärmt. Ein Fidibus ist zusammen gedrehtes Zeitungspapier, das angesteckt unter die Milchflasche gehalten wurde. Es war auch keine richtige Milch, die mir meine Mutter einflößte. Es war Milchpulver gemischt mit anderen Pülverchen, die mein Überleben sichern sollten. So pendelte mein Leben hin und her und ich lag - eine geraume Zeit mit dem Tod ringend - in einer kleinen Schachtel, wobei sich die Waagschale meines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre ich damals in die Obhut der modernen Medizin hinein geboren worden, so wäre ich unzweifelhaft dem Tode anheim gefallen. So aber geschah das unerwartete Wunder. Ich überlebte nicht nur den Winter 1952. Auch die nächsten drei Jahre gedieh ich bestens und nahm sogar etwas zu. Weil anfangs nicht klar war, ob ich überhaupt eines Namens bedurfte, konnte ich jetzt in das irdische Jammertal eingeführt werden. Meine Mutter nannte mich Peter, packte eines Tages ihre Koffer und verschwand. Mein Vater Horst und seine Mutter Elly - also meine Oma – und ich lebten – hausten – in einer Baracke, die zu einem Komplex von vielen Baracken gehörte. Nur ein Zimmer, ungefähr 16 qm, keine Küche, keine Toilette. Nur ein schäbiges Zimmer, dessen Wände so dünn waren, dass man alles mitbekam, was in der Nachbarschaft so geredet wurde. Wobei das Reden der Nachbarn noch zu ertragen gewesen wäre. Vieles, was in dem Lager geschah, war für die Augen und Ohren eines Kindes nicht geeignet. Gewalt und Sadismus, unmenschliche Abgründe, vermischt mit der bittersten Not, wehten auch im Sommer wie ein eisiger Wind um die Baracken. Es herrschte Anarchie, und Gesetzlosigkeit.

Alles was meine Oma noch besaß, lag in einem kleinen schäbigen Koffer unter dem Bett. Ein vielfach geflicktes Kleid, zwei paar Schuhe etwas Unterwäsche und ein schwarzen Mantel. Bei mir und meinem Vater sah es nicht besser aus. Manchmal, wenn wieder in einer der Baracken jemand verreckt war, plünderten die Überlebenden seine Habe. So kam es vor, dass ich in der Decke eines Verhungerten schlief, oder seine Socken trug. Was mir jedoch aus praktischen Erwägungen verschwiegen wurde. In einer Ecke unseres Zimmers stand ein Ofen, daneben ein aus Brettern zusammen genageltes Bett. In einer anderen Ecke des Zimmers stand ein Eimer mit Deckel - die Toilette. Geschlafen wurde auf mit Stroh gefüllten Decken. Das Stroh für die Bettfüllung wurde auf den benachbarten Bauernhöfen gestohlen. Nicht selten, wenn einer beim Diebstahl erwischt wurde, kam dieser nicht wieder. Was mit diesen Leuten geschah, wurde nie richtig verfolgt. Aber es gab dann wieder was zu plündern. Es war eine schlimme Zeit. Hart und grausam. Nichts für eine Kinderseele. Vor dem kleinen Fenster - das einzige in unserem Zimmer - stand ein kleiner Tisch und zwei wacklige Stühle. Das Fenster war ständig mit einem weißen Bettlacken verhängt, so dass das Zimmer immer in einem gewissen Halbdunkel lag. Ich kann mich erinnern, dass die Not auch mit in unserem Zimmer wohnte. Sie hatte sich bei uns so richtig breit gemacht, und schien uns für immer gefangen zu halten. Es gab Tage, wo Oma nur eine Brennsuppe auf dem Ofen kochen konnte. Brennsuppe wurde aus Mehl gemacht, das mit Margarine oder Schmalz so lange angebraten wurde, bis es braun wurde. Dann wurde mit Wasser aufgegossen. Etwas Salz rundete das Mahl ab. Dazu gab es manchmal eine Scheibe Brot. Das ich mit 6 Jahren immer noch ein kleiner, bleicher Junge mit dünnen knochigen Beinen war, lag wohl an dieser Brennsuppe. Irgendwann besserte sich doch die Ernährungslage. Mein Vater fand Arbeit und brachte eines Tages sogar Fleisch mit nach Hause. Der Mensch gewöhnt sich auf Dauer an seine Situation und nimmt die Dinge als gegeben hin. Was ich nicht ahnte, der Mensch verroht auch in so einem Umfeld, in dem es keine Liebe und keine Geborgenheit gibt. Nur den täglichen Kampf ums Überleben. So sah ich auch teilnahmslos zu, wenn mein Vater eine seiner Tauben schlachtete, indem er ihr bei lebendigem Leib den Kopf abriss und sie zum ausbluten auf den Boden warf. Besonders reizvoll fand ich es, beim Schlachten von Schweinen zuzuschauen. Der Weg zum Schlachter war für meine dünnen Beine zwar weit, aber ich nahm ihn auf mich. Ich stand an der Tür zum Schlachtraum und war fasziniert von dem was ich da sah. Die Schweine kreischten um ihr Leben, bis einer der Männer mit einem Hammer zuschlug. Das Schwein hörte auf zu brüllen, fiel um, zappelte und zuckte in einer letzten Vision. Wenn dann mit einem Messer der Hals des Tieres aufgetrennt wurde, und das rote Blut heraus strömte, bekam ich regelmäßig eine Gänsehaut und pinkelte mir in die Hose. Diese Bilder prägten sich tief in meine Seele ein. Der Respekt vor dem Leben, wurde dabei vollkommen ausgelöscht. Als ich einmal mit meiner Oma spazieren ging, hüpfte ein dicker Frosch vor meine Füße und sah mich mit großen Augen an. Ohne zu zögern trat ich zu, und stampfte so lange auf dem Frosch herum, bis seine Augen aus den Höhlen platzten. Meine Oma riss mich mit dem den Worten zurück: „Peter, der arme Frosch hat dir doch nichts getan. Warum machst du das?“

Dabei schaute sie mich an, und ihre Miene verfinsterte sich. Sie erschrak richtig. Wie sie mir später erzählte, schaute sie in kalte, gefühllose Augen. Es war ihr nie aufgefallen, dass ich wenig sprach und auch keine Freunde hatte. Wenn ich Zuhause war, saß ich meist wortlos in einer Ecke des Zimmers und dämmerte vor mich hin, oder las in einem Märchenbuch. Sie muss darüber mit meinem Vater gesprochen haben. Denn von einem Tag auf den anderen beschäftigte er sich mit mir. Er brachte mich sogar zu Schule, und holte mich auch wieder ab. Von da an wurden mir ständig und von jedem, der sich unaufgefordert dazu berufen fühlte, Verhaltensregeln auferlegt. Du musst artig sein, sitze still, du musst aufessen, sonst kannst du nicht groß und stark werden, wenn Erwachsene sich unterhalten darfst du nicht reinreden, sag guten Tag, nimm die Hände da weg, denn das gehört dir nicht, sei nicht so vorlaut, und wenn du nicht hörst, kommt der liebe Gott und bestraft dich. Wer war der Typ den alle als den „lieben Gott“ bezeichnen, und der im Bedarfsfall über kleine Kinder herfällt. Keiner hatte ihn jemals gesehen. Selbst Harry Langreder nicht. Und gerade Harry Langreder, war nach Aussage meiner Oma die Ausgeburt der Hölle. Er klaute angeblich wie ein Rabe und machte sich regelmäßig in die Hose. Einmal wurde er sogar von seinem Vater gezwungen, mit seiner voll gemachten kurzen Lederhose, die er an einer Stange hoch halten musste, die Straße rauf und runter zu laufen. Um den Hals hatte ein Schild darauf stand: „Harry hat sich in die Hose gemacht.“

 

Aber selbst an dieser Abscheulichkeit hatte der angeblich „liebe Gott“ offensichtlich keine Anteile. Jedenfalls habe ich ihn nicht gesehen. Denn hinter Harry lief nur sein Vater und hatte einen Hosengürtel in seiner Hand. Und jedes Mal, wenn Harry anfing zu weinen, bekam er einen Schlag mit dem Gürtel auf den nackten Hintern. Alle standen auf der Straße und schauten dem bizarren Treiben teils belustigt, teils mit ernsten Gesichtern zu. Doch keiner traute sich etwas zu unternehmen. Harry´s Vater war ja ein übler Zeitgenosse und als gewalttätig bekannt. Wenn er besoffen war - und das war er oft - wurde seine Frau auch mit dem Hosengürtel verprügelt. So also sah die Hölle aus, die meine Oma meinte. Und Harry Langreder war darin gefangen. Was für ein Drama. Irgendwann machte sich bei mir Erleichterung breit. Ich dachte mir, dass der „liebe Gott“ wohl nie auftauchen würde. Vielleicht hatte er sogar Angst vor Harry´s Vater...

Und so machte ich mir auch keine Sorgen, als mich einige größere Kinder zu einer Handlung anstachelten, die mir noch heute ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Am Ende der Straße, in der letzten Baracke wohnte die Witwe Klara Heinze. Eine gutaussehende, üppige Frau in den Dreißigern. Sie war dem männlichen Geschlecht recht zugetan und so mancher Mann in unserer Straße beging mit ihr regelmäßig Ehebruch. Daher hing der armen Klara Heinze immer eine gewisse Verruchtheit an. Und wenn sie in einem knappen Kleid die Straße herunter stöckelte, tuschelten die anderen Frauen hinter vorgehaltener Hand was sie doch für eine Schlampe sein. Offensichtlich brachte dieser Umstand die anderen Kinder dazu, mich zu der Tat zu überreden. Ich war ja alleine und hatte niemanden, den ich um Rat fragen konnte, oder der mich vor allem Bösen beschützte. Ich hatte zwar ein schlechtes Gefühl dabei, wollte aber nicht als Feigling dastehen. Also ging ich und tat wie mir aufgetragen wurde. Klara Heinze stand vor ihrem Haus und wischte mit einem Schrubber die Treppe. Sie hatte eine weites Kleid an, einen sogenannten Petticoat. Irgendwie passte diese Frau nicht in dieses Barackenlager. Sie hatte bestimmt schon bessere Zeiten gesehen, und war mit dem Strom einfach nur hierher gespült worden. Aber egal. Ich lief also auf sie zu, beugte mich leicht nach vorn, damit ich ihr unter den Rock schauen konnte. Der weite Rock ließ es zu, dass ich sogar ihren Schlüpfer sehen konnte. Dann kamen aus meinem Mund jene verhängnisvollen Worte die mein gesamtes späteres Leben prägen sollten.

„Tante..wolln wir mal ficken?“

Klara erstarrte zunächst in ihrer Bewegung, drehte sich dann schlagartig herum und schaute mich böse an. In mir kroch ein Gefühl hoch, dass ich bisher nicht kannte. Mein Herz pochte bis zum Hals und ich ahnte, dass ich etwas schreckliches getan hatte. In jedem anderem Fall hätte ich spätestens jetzt die Flucht ergriffen. Aber ich war wie erstarrt, unfähig zu einer Bewegung. Ich war mir sicher, dass nun jede Sekunde der „liebe Gott“ erscheinen würde um mich fertig zu machen. Die anderen Kinder, die sich hinter einer Hecke versteckt hatte, kicherten leise. Klara ließ den Schrubber fallen, ging die Treppe herunter und kam lächelt auf mich zu. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und sagte:

„Komm kleiner Mann, wir wollen mal sehen was wir da machen können.“

Mit leichtem Druck schob sie mich über die Treppe in ihr Haus. Die anderen blieben mit offenen Mündern zurück. Klara schob mich in ihr Zimmer und forderte mich auf, mich zu setzen. Sie nahm einen Teller aus dem Schrank und schöpfte zwei Kellen Suppe, die in einem Topf auf dem Herd stand, in den Teller.

Mit einem: „Guten Appetit, kleiner Mann.“

Stellte sie mir den Teller vor die Nase, und mit zitternden Händen nahm ich den Löffel und begann zu essen. Es war die schmackhafteste Gemüsesuppe die ich jemals gegessen hatte. Klara sah mir amüsiert zu wie ich Löffel für Löffel den Teller leerte. Was war das für ein Genuss. Ich hätte gern noch einen Nachschlag bekommen, doch wagte ich nicht danach zu fragen. Ich freute mich und konnte nicht aufhören zu strahlen. So ganz nebenbei dachte ich in meiner kindlichen Beschränktheit: „Das also war ficken, das ist ja toll.“

Und ich konnte in diesem Moment nicht verstehen, warum die anderen Frauen in der Straße so böse waren wenn ihre Männer bei Klara Heinze ficken gingen. Das musste ich unbedingt meinem Vati erzählen. Vielleicht geht er dann auch mal zu Klara ficken und nimmt mich immer mit. Dann pochte es an die Tür. Klara öffnete und mein Vater stand draußen. Sicherlich waren die anderen zu ihm gelaufen und hatten erzählt was passiert war. So etwa: „Peter hat zu Tante Klara gesagt, wollen wir mal ficken?, und Klara hat Peter mit in Haus genommen.“ Wenn ich mir das heute so vorstelle, kommen mir noch immer die Tränen vor lachen. Klara jedenfalls, flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr, und ich hörte wie er laut anfing zu lachen. Beide kamen in die Küche und mein Vater sagte lachend: „Mensch Peter, du machst ja Sachen.“

Mein Vater stand dicht neben Klara und beide schienen irgendwie vertraut. Dann setzte er sich mit an den Tisch.

„Willst du einen Teller Suppe?“, fragte Klara und holte einen Teller aus dem Schrank.

„Da sage ich nicht nein“, sagte mein Vater und Klara schöpfte ihm etwas von der schmackhaften Suppe hinein.

„Schmeckt toll nicht“, sagte ich und mein Vater nickte, während er gleichzeitig lächelnd zu Klara hinauf sah. Wir blieben noch eine kleine Weile und gingen dann nach Hause. Mein Vater nahm mich an der Hand und ich kann mich nicht erinnern, jemals so stolz gewesen zu sein. Ich konnte es kaum erwarten, meiner Oma zu berichten was wir für ein tolles Erlebnis hatten. Zu Haus angekommen lief ich gleich zu ihr:

„Oma, Oma, stell dir vor, ich und Vati waren bei Tante Klara ficken.“

Ihren Gesichtsausdruck werde ich wohl nie in meinem Leben vergessen. Mein Vater erlitt einen Lachanfall.

Die Sache mit dem; „lieben Gott“, sollte sich erst einige Zeit später aufklären. Ich konnte ja nicht ansatzweise ahnen, was für eine seltsame Geschichte hinter diesem Typen steckte. Als ich jedoch die näheren Umstände seines Daseins erfuhr, wurde mir auch klar, warum er für die Androhung von Bestrafung bei Nichtbeachtung von aufgestellten Regeln heran gezogen wurde. Und das kam so....

Als mich Oma das erste mal in meinem Leben in eine Kirche schleifte, um einem Gottesdienst beizuwohnen, war ich von dem, was ich sah zunächst zutiefst geschockt. Die Menschen saßen wie die Hühner in mehreren Reihen auf Holzbänken und schauten wortlos zu einem halbnackten Mann hinauf, den man dort an die Wand genagelt hatte. Keiner der Anwesenden machte Anstalten dem armen Kerl zu helfen, oder ihn dort runter zu holen. Im Gegenteil, alle hatten schwarze Bücher in den Händen und murmelten unentwegt, dass sie Brot brauchten, und das man ihnen die Schulden erlassen sollte, und das sie dann auch den Schuldnern ihre Schulden erlassen würden. Also für mich war das alles nicht so recht nachvollziehbar. Wie sollte der Kerl das wohl anstellen. Erstens war er angenagelt, und schien nicht einmal um genügend Mittel zu verfügen sich ordentlich zu kleiden. Als dann alle auch noch anfingen von einer Halle zu singen, die wohl einer gewissen Lulja gehören würde, war ich der festen Überzeugung, dass alle in der Kirche schlagartig den Verstand verloren hatten.

Ein anderer Typ, recht seltsam gekleidet, offensichtlich der Inhaber der Kirche, stand vorne direkt unter dem Genagelten und erzählte, nachdem der Gesang verstummt war, allerhand wirres Zeug von einem Gott, der auf einem recht seltsamen Weg Vater wurde. Daher wurde er wohl auch „heiliger Vater“ genannt. Diesen Spruch hatte ich übrigens schon öfter gehört. Kurt Wagenknecht, unser Nachbar in der Baracke, rief auch immer: „Heiliger Vater“ wenn er etwas seltsames oder überraschendes gesehen hatte. Demnach muss die Vaterschaft Gottes wohl auch etwas seltsames oder überraschendes gewesen sein. Nun, nach einer gewissen Zeit glaubte ich heraus gehört zu haben, dass der dort an die Wand genagelte wohl der Sohn Gottes war und Jesus hieß. Das hätte ich nun nicht gedacht. Leise fragte ich Oma, die direkt neben mir saß, ob der Gott, um den es hier ging und der, mit dem man mir immer Angst gemacht hatte wenn ich nicht artig war, ein und dieselbe Person sind.

„Das ist sie“, flüsterte Oma mit ihrer gewohnt dunklen Stimme und grinste. Mein lieber Herr Gesangverein, dachte ich, was für eine Type, lässt seinen Sohn einfach an die Wand Nageln und spielt sich dann bei kleinen Kindern als Moralapostel auf. Ich musste der Sache auf den Grund gehen und habe daher eins der schwarzen Bücher einfach unter meiner Jacke versteckt und mit nach Hause genommen.

„Was für eine üble Geschichte.“

Kaum das wir nach der Kirche zu Hause angekommen waren, hatte ich angefangen das schwarze Buch zu lesen. Auf dem Deckel stand: „Die Bibel“ und auf der ersten Seite stand: „Die Heilige Schrift.“

Wieso sollte die Schrift heilig sein?, dachte ich so bei mir. Die Schrift in meinen anderen Büchern sieht auch nicht anders aus. Na ja, dachte ich, irgend etwas wird schon heilig sein an der Schrift. Vielleicht fällt es mir nur nicht auf. Der Typ in dem Buch, den sie immer wieder Gott und Schöpfer nennen, war wohl recht einsam und hatte weder Kumpel noch Freundin. Ihm ging es wie mir. Ich hatte auch niemanden, mit dem ich um die Häuser ziehen konnte. Und dort wo er sich aufhielt, war es auch nicht so prickelnd. Kein Licht, kein Wasser weder Baum noch Strauch und kein Feuer. Das muss also mitten in der Wüste gewesen sein. Sozusagen am Arsch der Welt. Er war also alleine, es war dunkel, er hatte Durst und er muss gefroren haben wie ein Schneider. Alles fast wie in unserem Barackenlager. Aber er muss was drauf gehabt haben. Wahrscheinlich war er eine Art Wissenschaftler oder Zauberer. Denn wie aus dem Nichts, zack innerhalb einer Woche war alles da. Licht, Feuer, Wasser, Baum und Strauch. Gott muss das alles mit seinen eigenen Händen gemacht haben. Ich hatte da meine leisen Zweifel. Nun aber war ich aber gespannt wie es weiterging. Er hatte zwar nun so eine Art Garten, war aber immer noch alleine. Jedoch muss der grüne Garten mitten in der Wüste wohl auch allerlei Getier angelockt haben. Denn wie aus dem Nichts wuselten alle möglichen Lebewesen um ihn herum. Nun, das konnte ich mir durchaus Vorstellen. Als wir unseren Garten übernahmen, war das auch nicht anders. Am Anfang war nur Morast und Gestrüpp. Aber mein Vater hatte den grünen Daumen. Nach einem Jahr grünte und blühte es wie im Paradies. Die Tauben flatterten in ihrem Verschlag, und drei Kaninchen hoppelten auf der Wiese. Das alles war auch schon fast ein Wunder. So, aber Gott war immer noch alleine. Im Buch steht, er hat sich seinen Kumpel und seine Freundin selbst gebastelt. Er nahm Knochen und Fleisch, und hat diese nach seinem Ebenbild zusammengenäht. Was war das denn?, fragte ich mich. Wo hatte er wohl Fleisch und Knochen her, und welches Tier hat wohl die Zutaten geliefert? Aber offensichtlich hat er es geschafft. So jedenfalls steht es in der Bibel geschrieben. Und als er damit fertig war, hauchte er dem Torso Leben ein. Einmal Pfötchen geben und Rums, Adam, so hat Gott ihn genannt, war am Leben. Dann plante er ein Weib zu basteln. An dieser Stelle begann ich vollends an der Wahrhaftigkeit des Buches zu zweifeln. Denn Gott hat nicht etwa wieder Knochen und Fleisch gesammelt, und die Fertigung von Adam wiederholt. Nein, er hat Adam wieder auseinander genommen, eine seiner Rippen amputiert, und daraus das Skelett für Eva - so wollte Gott sie nennen - geschnitzt. Er nahm wieder Fleisch - ich wurde hier wieder im Unklaren gelassen, wo er das Fleisch her hatte - und nähte Fleisch und Knochen zusammen. Nun aber nicht mehr nach seinem Ebenbild. Einfach frei nach Schnauze. Nur den Pillermann hat er nicht so hin bekommen, oder das Fleisch hat nicht gereicht. Es blieb eine recht große, aber hübsche Narbe. Und Rums, Eva war am Leben. Damit Eva nicht neidisch wird, und Adam nicht auf schlechte Gedanken kommt, hat er beiden noch jeweils ein Feigenblatt auf die Lende getackert. Und es war ein Paradies. Milch und Honig flossen. Weder Adam noch Eva mussten arbeiten. Sie lebten einfach so in den Tag hinein. Ohne Sorgen und Vorschriften. Doch eine Vorschrift gab es. Denn da war ein Apfelbaum. Der Baum der Erkenntnis. Dieser trug Früchte, die, wenn man sie genoss, alles Zunichte machten, was man sich mühsam aufgebaut hatte. Gott rief daher Adam und Eva zu sich und warnte vor dem Verzehr dieser Früchte.

„Wenn ihr diese Regel brecht, dann werdet ihr und jedes Wesen hier vertrieben. Ihr werdet dann für euren Unterhalt im Schweiße eures Angesichts selbst zu sorgen haben“, sprach der Schöpfer.

 

Gut gesagt, doch wer nichts in der Birne hat und auch nicht weiß was es heißt, im Schweiße seines Angesichts die Früchte seine Arbeit zu bergen, dem werden diese Warnungen wie ein warmer Sommerwind vorkommen. Ich habe mich hier gefragt, was die Früchte der Erkenntnis an dieser Steller des Buches für eine Bewandtnis haben. Es wird sich wohl um eine Art Wahrheitsdroge gehandelt haben, die es Adam und Eva ermöglicht hätten, über ihr Dasein genauer nachzudenken. Ich konnte mir vorstellen, dass es auf Dauer nicht so erfüllend war, in Vollumnachtung Tag um Tag, ohne jene Höhen und Tiefen - die ein normales Leben so interessant machen - durch einen Garten zu stolpern. Offensichtlich wollte Gott keinen neben sich dulden, der mehr auf dem Kasten hat als er selbst. Ich habe mich daher gefragt, warum er den Baum nicht schon im Vorfeld gefällt, oder Adam und Eva ein um sechzig Prozent kleineres Gehirn eingebaut hatte. Was also wollte Gott?, fragte ich mich, was hat Gott dazu veranlasst so vorzugehen, wie er vorgegangen ist?“

Genau, er wollte sie auf die Probe stellen. Er wollte wissen, ob sie den Verlockungen des süßen Lebens widerstehen können. Eine Art Probezeit im Paradies. So, als würde man einen Alkoholiker nachts in einen Schnapsladen einschließen. Wenn er am morgen noch nüchtern ist, bekommt er eine Million. Nur sagt man ihm das vorher nicht - Das mit der Million. Ich hätte jede Wette angenommen, dass Eva als erste die Äpfel vertilgt. Denn Eva ist eine Frau, und Frauen sind neugierig wenn man ihnen sagt: „Nein, dass ist für dich tabu, dass darfst du nicht!“ Dann machen sie es bestimmt. Da sind wir Kinder auch nicht anders. Je schlimmer die Folgen sind, um so eher gehen wir das Risiko ein. Fehler sind da, um gemacht zu werden. In der Bibel steht, dass Eva den Apfel angebissen hat und dann sogar Adam verführt hat, von dem Apfel zu essen. Als Gott sie zur Rede stellte, log sie und schob alle Schuld auf die Schlange, die zufällig auf dem Apfelbaum ein kleines Nickerchen machte.

„Die Schlange hat mich verführt“, log Eva schamlos.

Typisch Weib, dachte ich so bei mir, erst Scheiße bauen und herum heulen, aber dann alles auf die arme Schlange schieben. Die Schlange wollte sich zwar noch rechtfertigen doch Gott verpasste ihr eine gespaltene Zunge und die Möglichkeit sich zu äußern.

So, dass war es dann für die beiden mit dem Paradies. Nichts zu Fressen, keine Hütte und mitten auf einem kahlen Acker. Das Schlimmste an der Vertreibung aus dem Paradies war die Erkenntnis, dass sie keine Klamotten dabei hatten. Sie erkannten, dass sie Nackt waren. Leck mich am Arsch dachte ich so bei mir. Die beiden waren wirklich schlecht dran, als wir im Barackenlager. Nicht einmal eine Bahnhofsmission in der Nähe und Papa war sauer wie eine Essig-Gurke.

Aber irgendwie müssen sie es doch geschafft haben, sich etwas aufzubauen. Denn sie setzten Kinder in die Welt. Das hätten sich wohl nicht getan, wenn die Voraussetzungen für eine halbwegs erträgliche Zukunft nicht gegeben waren. Mit ihren beiden Söhnen Kain und Abel waren sie nun zu viert. Das war also zu dieser Zeit die gesamte Weltbevölkerung außerhalb des Garten Eden. Dort saß Gott nun alleine herum und schaute dem Treiben der vier misstrauisch zu. Alles schien gut zu laufen. Kain war für die Äcker zuständig und Abel hat als Hirte gearbeitet. Das war auch wieder typisch für Adam und Eva. Faul Zuhause auf dem Sofa liegen und die Gören arbeiten lassen. Doch Ackerbau nur mit Hacke und Spaten, ohne entsprechende Geräte wie Trecker und Mähdrescher war wohl für Kain eine zu schwere Arbeit. Und so war er sauer auf Abel, der den ganzen Tag nur auf der Wiese lag und Flöte spielte. Also hat er ihm vor lauter Zorn eins mit der Hacke übergezogen, und Abel hauchte sein Leben aus. Damit war mit einem einzigen Hieb ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung ausgelöscht. Und weil er wohl ein Feigling war, hat er sich der Bestrafung durch Flucht entzogen. Das jedoch konnte ich nicht nachvollziehen. Es gab ja weder Polizei noch einen Gerichtshof, vor dem er sich für seine Tat verantworten musste. Und Adam hätte ihn für seine schändliche Tat wohl nicht gekillt. Irgend jemand musste ja die Felder bestellen. Nur Opa (Gott) hat wohl einige böse Worte an Kain gerichtet. Aber das konnte nicht der Grund für seine Flucht gewesen. Kain hatte wohl die Schnauze voll von der ewigen Ackerei und wollte wohl die Welt kennen lernen. Es war ein Mord geschehen, und keiner musste dafür gerade stehen. Und das stand sogar in einem heiligen Buch. Das beeindruckte mich. Adam und Eva blieben allein zurück und mussten wieder ganz von vorn anfangen. Kain jedoch lernte dem Buch zufolge irgendwo eine andere Frau kennen, und begann sofort damit Handwerker und andere Berufsgruppen in die Welt zu setzen. Hallo, dachte ich, wo kommt so aus dem Nichts diese Olle her?.Gott hatte dem Buch zur folge nur Adam und Eva gebastelt. An dieser Stelle wusste ich, dass alles in diesem Buch ein Märchen sein musste. Irgend ein Schwachmaat hat sich das alles nur ausgedacht, um damit kleine Kinder zu erschrecken. In meinem Lieblings Buch: “Die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm“, steckt wohl mehr Wahrheit und Nachvollziehbares als in diesem Schinken, sagte ich mir. Gut, die Sache mit Rotkäppchen und dem Wolf habe ich auch nicht ernst genommen. Der Wolf frisst die Großmutter und die Alte lebt noch, als man dem Wolf den Bauch aufschneidet. Dann legen sie Steine in den Bauch des Wolfes, nähen ihn zu und warten bis er sich im Brunnen ersäuft. Wer bitte macht den so etwas. Nur die Geschichten hier in der Bibel, mein lieber Scholli, darauf muss man erst mal kommen. Aber ich habe weiter gelesen und so ging es sinngemäß weiter.

Adam, Eva, Kain und seine Olle haben nun unentwegt Gören in die Welt gesetzt. Und der Bibel zufolge sind alle Menschen, die heute auf der Welt leben, Nachkommen dieser Vier. Also auch alle Schwarzen und Weißen, Roten und Gelben, Liliputaner, Eskimos und Pygmäen, Inder, Indianer, Bayern und Polen. Mein lieber Herr Gesangverein, da muss wohl einiges schief gelaufen sein, dachte ich mir. Doch überlegte ich mir gleichzeitig, dass das wohl gar nicht so abwegig sein konnte. In unserer Straße wohnt auch ein Pärchen. Sie sind beide weiß, und sie bekommt ein schwarzes Baby. Ich hatte zwar gehört, dass es deswegen mächtigen Zoff zwischen den beiden gegeben hatte. Aber nun gehen sie mit ihrem Baby auch wieder draußen spazieren und sehen glücklich aus. Nur die Menge der Nachkommen war für mich zunächst nicht nachvollziehbar. Doch dann fiel mir das Schachbrett Prinzip ein. Also der, welcher das Schachspiel erfunden hatte, wurde zum Sultan gerufen. Der Sultan war so angetan von diesem Spiel, dass er dem Erfinder jeden Wunsch erfüllen wollte. Der Erfinder meinte dann, er wolle auf dem ersten Feld des Schachbretts ein Reiskorn, auf dem Zweiten zwei Reiskörner, auf dem dritten Feld vier Reiskörner, auf dem fünften acht und immer so weiter. Auf jedem weiteren Feld sollte sich die Anzahl der Reiskörner verdoppeln. Der Sultan sagte zwar, dass es ein leichtes wäre diesen seinen Wunsch zu erfüllen, musste aber bald feststellen, dass alle Reisernten der Welt nicht ausreichen würden um das Schachbrett zu füllen. Man könnte es ja mal nachrechnen. Würde sich also die Zahl der Nachkommen von Adam, Eva, Kain und seiner Ollen jedes Jahr verdoppeln, dann hätten sie schon nach vierzig Jahren nicht nur ein ernsthaftes Problem mit der Bevölkerungsdichte gehabt. Wer jedoch sollte die vielen Mäuler stopfen. Offensichtlich ging das dem „lieben Gott“ gehörig auf den Zeiger. Überall wuselten seine Nachkommen herum. Opa hier Opa da. Und was macht der „liebe Gott“, er ersäuft sie einfach alle. Sogar Adam und Eva mussten dran glauben. Nur ein Typ mit Namen Noah und seine Mischpoke sind dem Massaker entgangen. Sie waren mit einem Schiff unterwegs und hatten reichlich Viehzeug unter Deck geladen. So, als sich das Wasser dann zurück gezogen hatte, ging der ganze Kram wieder von vorne los. Noah und seine Familie zeugten Kinder bis zum Anschlag. Und wieder war alles dabei. Schwarze und Hellbraune, Rote Gelbe, Liliputaner und Pygmäen Eskimos und Inder, Indianer, Polen und Bayern. Die Verwandtschaft zu Gott war nun nicht mehr das Thema und auch nicht nachprüfbar. Denn wie gesagt, Gott hatte ja alle, die irgendeinen Nachweis darüber erbringen konnten, über die Klinge springen lassen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der “liebe Gott“ eines Tages eine Frau mit Namen Maria, die mit Sicherheit seine Ur Ur Ur Ur Ur Enkelin war, ansprach und mit ihr ein Kind zeugte. Das Maria bereits verheiratet war, schien ihn nicht davon abzuhalten, es ihr richtig zu besorgen. Doch dieser Seitensprung hatte Folgen. Und so gebar Maria einen Sohn und gaben ihm den Namen: „Jesus“.