Ostfriesenspieß

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Kapitel 1

Tag 3, frühmorgens

Unterwegs auf der Autobahn A28 (Rtg. OL)

»91/02 für die Wache!«

Die junge Kommissarin Swantje Benninga griff im Streifenwagen nach dem Hörer des neuen Digitalfunkgerätes. »91/02. Was hast du?«

Schichtleiter Rolf Berger drückte auf der Wache die Sprechtaste. »Mehrere Verkehrsteilnehmer haben Rehe in Höhe Apen auf der Bahn in Richtung Oldenburg gesehen. Schaut doch mal nach. Die Rundfunkdurchsage läuft!«

»Geht klar, Rolf.«

Ihr Streifenkollege und Bärenführer3 Mark Rode auf dem Fahrersitz beschleunigte und wechselte auf den Überholfahrstreifen. Er schaltete Blaulicht und Martinshorn an und konzentrierte sich auf den vorausfahrenden Verkehr.

Swantje sah ihren Kollegen verunsichert von der Seite an. »Rehe sind gar nicht gut, oder? Blöde Viecher. Können die nicht auf der Wiese bleiben …«

Mark bremste stark ab, weil ein vorausfahrender Pkw-Fahrer den Streifenwagen zu spät bemerkt hatte. Offensichtlich hatte der Mann zum Überholen ausgeschert, ohne in den Rückspiegel zu schauen. Der Pkw-Fahrer beschleunigte jetzt nicht etwa und beendete sein Überholmanöver, nein, er latschte voll auf die Bremse.

Das ABS-Bremssystem des Streifenwagens schaltete sich ein und Mark fluchte. »Vollpfosten!«

Er gab wieder Gas und Swantjes rechte Hand krampfte sich um den Haltegriff an der Tür.

Mark war hochkonzentriert. Sein Adrenalinspiegel stieg zusammen mit der Geschwindigkeit. Er blieb mit ihrem Einsatzfahrzeug auf dem Überholfahrstreifen. Auf dem rechten Hauptfahrstreifen voraus fuhr ein Lkw. Hinter dem Lkw befand sich ein Pkw.

Vor zwei Tagen war Mark mit Tempo 200, ebenfalls bei Blaulicht und Musik auf der linken Spur, unterwegs zu einer Unfallstelle gewesen, als ein alter Golf hinter einem Lkw ausgeschert war und den Überholfahrstreifen blockiert hatte. Trotz Vollbremsung war ihm ein Zusammenstoß unvermeidbar erschienen. Aber dank ABS und dem genialen elektronischen Stabilitätsprogramm war der Streifenwagen lenkfähig geblieben und Mark war mit circa 180 Sachen über den schmalen Standstreifen an den vorausfahrenden Fahrzeugen vorbeigerauscht.

Sie hatten Glück gehabt.

»Swantje, hat ein Autobahnpolizist so viele Leben wie eine Katze? Was meinst du?«

»Mit den neun kommen wir auf keinen Fall aus.« Swantje atmete bewusst ruhig ein und aus. An diese Einsatzfahrten musste sie sich noch gewöhnen. Sie war erst seit vier Wochen bei der Autobahnpolizei.

Kurz vor Apen verringerte Mark das Tempo und fuhr mittig auf der Autobahn. Er schaltete die Warnblinkanlage ein. So verlangsamte er den nachfolgenden Verkehr vor der Gefahrenstelle.

Swantje sah die Tiere zuerst: »Da links am Mittelschutz! Zwei Rehe.«

Inzwischen fuhr der Streifenwagen im Schritttempo und die nachfolgenden Autofahrer waren gezwungen, ebenfalls langsam zu fahren. Die Tiere nutzten die Gelegenheit und liefen zurück über die Fahrbahn. Sie verschwanden im Grünstreifen zwischen Fahrbahn und Rastplatz.

Das Problem war damit nicht erledigt, denn den Parkplatz trennte ein Wildschutzzaun von den Wiesenflächen. Die Tiere konnten so den Parkplatz von außen nicht erreichen, ihn aber in diesem Fall von innen auch nicht wieder verlassen.

Als Mark auf den Parkplatz fuhr, sah er die Tiere über die gepflasterten Flächen laufen und hinter dem Toilettengebäude zwischen Bäumen und Büschen verschwinden.

PP Uplengen-Süd, Rtg. OL4.

Mark und Swantje stiegen aus.

Er verriegelte die Türen des Streifenwagens und überlegte. »Swantje, wir teilen uns auf. Du gehst zu einem Ende des Parkplatzes, ich zum anderen. In der Grünanlage am Zaun entlang gehen wir dann mittig aufeinander zu.«

Swantje marschierte los. Mark ging in die entgegengesetzte Richtung. Kurz darauf verschwanden die Polizisten zwischen den Bäumen und Büschen.

Mark ging am Zaun entlang in Richtung Parkplatzmitte. Nach etwa 100 Metern sah er, dass der Wildschutzzaun beschädigt war. Das Drahtgeflecht hatte sich von den Pfosten gelöst und war nach unten gefallen. Klarer Fall, hier waren die Tiere durchgelaufen.

Er ging ein Stück zurück und wartete darauf, dass Swantje die Rehe in seine Richtung trieb.

Dies tat sie auch, aber anders als erwartet. Ihr Schrei war nicht von schlechten Eltern und tatsächlich sprangen die beiden Rehe aus dem Dickicht. Mark breitete die Arme aus und schrie ebenfalls. Die Tiere sprangen durch die Zaunlücke und liefen über die Wiesen davon.

»Super, Swantje, gut gemacht!«

Aber seine Kollegin antwortete nicht.

Mark drückte das Drahtgeflecht hoch und schloss damit provisorisch die Lücke im Zaun. Den Rest würde morgen die Autobahnmeisterei erledigen. Er rief nach seiner Kollegin. Sie hätte doch schon längst hier sein können.

Schließlich kämpfte er sich durch das Gestrüpp in ihre Richtung.

Das Geräusch war eindeutig. Dort musste sich jemand heftig übergeben.

Swantje stand vornübergelehnt an einem Baum. Sie würgte, und ihr Gesicht war weiß wie eine Wand.

»Was ist denn los?«, fragte Mark verblüfft.

Sie wischte über den Mund und zeigte mit dem Finger hinter sich. »Da liegt ein Toter.«

»Bleib hier, ich sehe nach.«

Vorsichtig trat er nur dort auf das Gras, wo auch Swantje es mit ihren Schuhen kurz vorher heruntergedrückt hatte.

Zwischen den Büschen lag ein Mann auf dem Rücken. Das Summen der Fliegen verriet, dass ihm vermutlich nicht mehr zu helfen war, aber Mark musste sich vergewissern. Er dachte an den letzten Erste-Hilfe-Lehrgang. Ein sicheres Todeszeichen sei die Leichenstarre, hatte der Dozent gesagt.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, er ging neben dem Körper in die Knie. Zum Glück hatte er noch seine Handschuhe in der Seitentasche der Hose. Jeder Autobahnpolizist hatte Lederhandschuhe dabei. Bei der Bergung von Unfallopfern bewahrte sie das vor Verletzungen durch Glasscherben oder scharfkantige Bleche.

Er zog die Handschuhe über. Die linke Hand legte er auf den Brustkorb des Mannes, mit der rechten umfasste er das Handgelenk. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Außerdem ließ sich der Arm nicht anheben. Die Leichenstarre war voll ausgebildet. Kein Zweifel, vor ihm lag ein Toter.

Das Gesicht war unnatürlich rot. Wie hypnotisiert starrte Mark auf die Hände des Toten. Die Finger waren gekrümmt, die Nägel abgerissen und blutig. Das Schlimmste war aber die rechte Hand. Dort, wo sich der Zeigefinger hätte befinden sollen, krabbelten winzige Maden auf einer Wunde.

Mark Rode riss sich von dem Anblick los und ging zurück zu seiner Kollegin.

Er legte den Arm um Swantje. Gemeinsam liefen sie den Weg zurück auf das Parkplatzgelände. Mark Rode ging zum Streifenwagen und griff zum Handy.

Schichtleiter Rolf Berger nahm auf der Wache den Hörer ab. »Na, habt ihr die Rehe gesehen?«

»Die sind wieder da, wo sie hingehören, dafür haben wir aber eine Leiche gefunden.« Mark schilderte, was passiert war. Dabei sah er besorgt seine Kollegin an. Sie sah sehr blass und schockiert aus. Er wusste aus Gesprächen mit ihr, dass sie noch keine Leiche gesehen hatte.

»Du wirst noch viele Tote zu sehen bekommen, aber die erste Leiche vergisst du nie«, hatte sein Bärenführer einst zu ihm gesagt. Das würde Swantje genauso gehen, jede Einzelheit war für immer in ihr Gedächtnis gebrannt.

Mark Rode öffnete den Kofferraum des Streifenwagens und griff sich den Karton mit dem Absperrband. »Na, Swantje, geht’s wieder? Lass uns den Fundort absperren. Rolf weiß Bescheid und kümmert sich.«

3 Polizeisprache für Ausbilder

4 siehe Punkt 7 auf der Karte

Kapitel 2

Tag 3, morgens

Altstadt Leer,

Dachgeschosswohnung von Jan Broning

Das Telefon an seinem Bett riss Jan Broning aus dem Schlaf. Broning war noch ganz in seinem Traum gefangen und es dauerte einen Moment, bis er die grüne Taste drückte.

Bevor er seinen Namen nennen konnte, hörte er schon die Stimme seines Kollegen Hensmann von der Wache. Sofort hielt Broning den Hörer auf Abstand zu seinem Ohr. Böse Zungen behaupteten, Hensmann hätte in einem früheren Leben zu den Trompetern von Jericho gehört.

»Sorry, Jan, noch ein bisschen früh, aber Kollege Kromminga von der Tatortgruppe bat mich, dich zu informieren. Sie sind draußen an der Autobahn 28 auf einem Parkplatz und haben einen Toten. Eindeutig Fremdverschulden und ganz schön krass. Er fragt an, ob du dir die Auffindesituation selbst ansehen möchtest. Die Spurensicherung ist am Aufrödeln und fährt gleich raus.«

»Okay, Klaus. Sie sollen eine Ehrenrunde in der Wörde drehen und mich abholen. Ich mach mich fertig.«

Jan Broning sah aus dem Fenster auf die gegenüberliegende neue Hafenstadt. War er der Einzige, oder gab es noch andere, die es bei diesem Anblick fröstelte? Er konnte sich nicht an diese Architektur gewöhnen.

Morgens sah er immer zuerst aus dem Fenster auf die Nesse. Die Wohnungen waren teuer und begehrt, aber er fand, sie strahlten eine gewisse Kälte aus.

Nach einem letzten sehnsuchtsvollen Blick auf sein warmes Bett ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Im Bad wartete die erste Mutprobe auf ihn. Der Blick in den Spiegel.

Trotz der vielen Falten war er doch zufrieden mit sich. Der Sport und die Umstellung seiner Ernährung zeigten Wirkung. Sein Gesicht war schmaler geworden. Ein bisschen so wie früher.

 

In der Küche blieb sein Blick an einem Foto an der Kühlschranktür hängen. Maike de Buhr hatte ihn in dem Passbildautomaten ganz nah an sich herangezogen, als diese Fotos entstanden waren.

Bei ihrem letzten gemeinsamen Fall hatten Jan Broning und Maike de Buhr zusammen mit Kollegen der Wasserschutzpolizei Morde und rätselhafte Ereignisse an der Ems5 aufgeklärt. Broning hatte damals den Tod seiner Frau noch nicht verarbeitet gehabt, sich erst mit Hilfe seiner Therapeutin wieder gefangen, und am Ende der Ermittlungen hatte es dann zwischen Maike und Jan ordentlich gefunkt.

Bis jetzt war es allerdings bei vorsichtigen Küssen und Umarmungen geblieben. Was stand zwischen ihnen? War es der Altersunterschied, war es seine tote Frau – oder die Angst, dass nach einer gemeinsam verbrachten Nacht alles vorbei wäre?

Jan wollte alles richtig machen. Ja, ›vorsichtige Annäherung‹ traf es wohl am besten.

Sein Vorgesetzter Dirksen hatte ihm vor vier Wochen eine Kur in Sankt Peter Ording genehmigt. Als er eines Morgens in die Rezeption gegangen war, hatte sie einfach da gesessen. Maike hatte sich Urlaub genommen und war im Wohnmobil ihrer Freundin auf einen Campingplatz nahe am Kurzentrum gefahren.

Sie hatten schöne Stunden am Strand und in der Umgebung verbracht. Die Anwendungen in der Kurklinik, insbesondere die Ernährungsumstellung, hatten ihn langsam wieder in Form gebracht. Aber irgendetwas hatte sich in Sankt Peter zwischen sie gedrängt. Bildete er es sich ein, oder hatte Maike sich in den letzten Tagen ihm gegenüber reserviert verhalten?

Der Kaffee brachte ihn auf schmerzhafte Art in die Gegenwart zurück. Er verbrannte sich den Mund an dem zu heißen Gebräu, als die Türklingel schellte.

»Hier Brede, zur Leiche, mitfahren.«

Broning verdrehte die Augen. Albert Brede mit seinen Halbsätzen! Er drückte auf den Sprechknopf. »Ich komme.«

Im Schrank fand er den Thermobecher und füllte ihn mit dem heißen Muntermacher. Beim Hinausgehen warf er sich seine alte Lederjacke über, ging zurück in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine aus.

Unterwegs von der Altstadt Leer bis zur Autobahn,

AS Leer-West (Rtg. OL, dort befindet sich die Dienststelle der Autobahnpolizei)

Jan nahm immer mehrere Treppenstufen auf einmal, bis sich sein linkes Knie meldete. Die restliche Strecke ging er vorsichtiger hinunter.

Draußen stand der weiße Bulli der Spurensicherung. Stefan Gastmann saß auf dem hinteren Notsitz und Kollege Brede auf dem Fahrersitz. Broning öffnete die Beifahrertür, grüßte und stieg ein.

Er drehte sich zu Stefan um. Für Bredes Halbsätze war es eindeutig zu früh.

Stefan sah es wohl ähnlich, denn er begann sofort, Jan den bisherigen Ablauf der Ereignisse mitzuteilen. »Die Kollegen von der Autobahnpolizei haben die Grünanlage eines Rastplatzes nach Rehen durchsucht und dabei den Toten gefunden. Der Fundort ist abgesperrt. Der Notarzt hat sein Kreuzchen auf dem Totenschein bei ›unnatürlich‹ gemacht. Die Tatortgruppe war auch schon vor Ort. Es gibt Hinweise auf eine Vergiftung durch Kohlenmonoxid. Und der Zeigefinger der rechten Hand fehlt.«

Jan Broning fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder war er in Gedanken in Sankt Peter-Ording. Die schönen gemeinsamen Tage waren viel zu schnell vergangen. Der Alltag hatte sie eingeholt, und nach der Auflösung der Soko Ems hatte man Maike zur Polizeidirektion nach Osnabrück abgeordnet.

Broning drehte sich wieder zu Stefan um. »Was soll das heißen, der Finger fehlt?«

»Na, weg halt, futschikato, verschwunden. Die Kollegen sprachen von einem abgetrennten Zeigefinger der rechten Hand.«

Der Bulli verließ das Stadtgebiet und fuhr inzwischen auf der Kreisstraße 1 weiter in Richtung der Autobahn. Der ausgelutschte Motor röhrte und Stefan sprach lauter. »Die Kollegen von der Autobahnpolizei werden uns zum Fundort begleiten. Wir treffen uns also an ihrer Dienststelle.«

Brede griff nach dem Hörer des digitalen Funkgerätes. Verbindung und Sprachqualität waren miserabel. »Gleich da, losfahren, keine Zeit verlieren.«

Jan musste grinsen und sah Unschuld heuchelnd nach rechts aus dem Fenster. Die Kollegen dachten sicher, dass die fehlenden Worte in Bredes Mitteilung vom schlechten Funk geschluckt worden waren. Trotzdem hatten sie ihn wohl verstanden, denn ein Streifenwagen der Autobahnpolizei setzte sich an der Anschlussstelle zur Autobahn vor ihr Fahrzeug. Auf dem Dach des Audi A6 mit den auffallenden gelben Streifen leuchtete kurz das Lichtsignal ›Bitte folgen‹ auf.

Brede bestätigte kurz mit der Lichthupe.

*

Im Streifenwagen sah POK Onno Elzinga, wie der Bulli der Spurensicherung zurückfiel. Der konnte mit ihrem hoch motorisierten Gefährt nicht mithalten. Elzinga nahm den Fuß vom Gaspedal.

Sie fuhren am Autobahndreieck Leer geradeaus weiter. PK Klaas Leitmann auf dem Beifahrersitz grinste. »Lothar Düselders Gedächtniskurve.«

Onno war erst seit ein paar Monaten bei der Autobahnpolizei und sah Klaas fragend an.

Der lachte. »Mit dieser Kurve hat Düselder seine ersten Abschleppwagen finanziert. Die Urlauber glauben, die vorgeschriebenen 40 Stundenkilometer sind etwas übertrieben. Und so fliegen sie aus der Kurve raus und landen immer wieder links und rechts im Gelände.«

»Na, wenigstens können sie nicht untergehen oder davontreiben.«

»Da spricht wieder unser Kaleu Onno.«

Onno Elzinga hatte über 25 Jahre lang seinen Dienst bei der Wasserschutzpolizei versehen, bis diese reformiert worden war. Er hatte die Chance ergriffen. Jetzt fuhr er nicht mehr auf der Ems mit dem Streifenboot und kontrollierte Binnen- und Seeschiffe, sondern mit dem Streifenwagen durch den Emstunnel unter dem Fluss hindurch und kontrollierte Lastkraftwagen.

Die neuen Kollegen, insbesondere Klaas, hatten ihm den Wechsel leicht gemacht.

Klaas war immer gut gelaunt und gemütlich, etwas zu dick, und von seinen schwarzen Haaren waren nur noch wenige vorhanden. Onno hatte anfangs überlegt, an wen ihn der Kollege erinnerte. Dann war es ihm plötzlich eingefallen … Wie hieß er noch mal der Mönch an Robin Hoods Seite? Bruder Tuck.

Onno und Klaas fuhren gerne zusammen, weil sie sich beide auf den Schwerlastverkehr spezialisiert hatten.

Sie fuhren an der AS Filsum und Apen vorbei und Onno bremste den Streifenwagen auf dem Verzögerungsstreifen zum Parkplatz Uplengen Süd ab.

Tag 3, vormittags

PP Uplengen-Süd, Rtg. OL.6

Der Bereich des Pkw-Parkplatzes war komplett mit Flatterband abgesperrt worden. Auf dem Lkw-Parkplatz standen das zweite Einsatzfahrzeug der Autobahnpolizei, ein Zivilwagen der Tatortgruppe und ein schwarzer Mercedes-Kombi mit der Aufschrift ›Bestatter Erdmann‹.

Onno Elzinga parkte den Streifenwagen neben dem Fahrzeug der Autobahnpolizei. Der weiße Bulli der Spurensicherung parkte ebenfalls in der Reihe der Einsatzfahrzeuge. Die Kollegen stiegen aus.

Jan Broning gab Elzinga lachend die Hand. »Hallo, Onno! In der neuen Uniform hab ich dich noch gar nicht gesehen. Steht dir aber gut.«

Onno stellte fest, dass auch Jan Broning anders aussah. Der Bauchansatz war weg, die dunklen Augenränder verschwunden, Bart und Haare ordentlich geschnitten. Als sie zusammen in der Soko Ems zusammengearbeitet hatten, hatte Broning zeitweise neben sich gestanden und ungepflegt ausgesehen. Die alte Lederjacke allerdings trug Broning noch immer.

Onno ahnte, wem die Verwandlung zu verdanken war. Er freute sich und gönnte es den beiden von Herzen. »Na, du hast dich aber auch ordentlich verändert. Vielleicht kannst du mir mal verraten, wie du das geschafft hast. Übrigens darf ich dir meinen Kollegen Klaas Leitmann vorstellen.«

Die Kollegen gaben sich die Hand.

Im Hintergrund war ein Räuspern zu hören. Onno drehte sich um und sah erst jetzt, dass sein Chef Anton Martens und dessen Stellvertreter Heinrich Greve hinter ihm standen. Er begrüßte beide. »Kennt ihr die Kollegen der Kripo, oder soll ich euch bekannt machen?«

Anton Martens lachte. »Lass man stecken, Onno, wir kennen uns.«

Klaas Leitmann seufzte: »Einsneunzig groß, breite Schultern, kein Bauch, und dann diese Ausstrahlung – und jetzt schau mich an!«

Onno lachte. »Mit Jan können wir beide nicht konkurrieren, aber zum Glück haben wir ja beide liebe Frauen, was soll’s, Klaas.« Er strich gedankenverloren mit der Hand über die Narben in seinem Gesicht. Andenken an einen Bombenanschlag. Verdrängte Erinnerungen und Ängste tauchten auf.

Klaas Leitmann lehnte sich gegen das Dach des Streifenwagens und drückte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken durch. Er stöhnte. »Kennt ihr euch gut, ich meine, du und der Broning?«

Onno riss sich aus seinen düsteren Gedanken. »Das ist eine lange und spannende Geschichte, Klaas.«

»In der ihr beide eine wichtige Rolle spielt?«

»Gut geraten. Also …«

Der Bestatter stieg aus seinem schwarzen Wagen und kam herüber. »Gestatten, Erdmann, Bestattungen. Ich sag immer, steht der Sensenmann vor der Tür, dann ruf Erdmann und er …«

Klaas unterbrach die Singsang-Stimme. »… und Sie machen ihm die Sense scharf oder was. Mir tut zwar mein Rücken weh, aber deshalb brauchen Sie mich nicht gleich als Neukunden anzuwerben.«

Der Bestatter lachte. »Eigentlich wollte ich nur fragen, ob einer von Ihnen mir beim Abtransport helfen könnte. Mein Assistent ist ausgefallen.«

*

Die Kollegen von der Spurensicherung Stefan Gastmann und Albert Brede, Kollege Egon Kromminga von der TOG7 und der Chef der Autobahnpolizei Leer Anton Martens standen vor dem Flatterband und stimmten sich über das weitere Vorgehen ab. Dabei sah Jan Broning kurz hinüber zu Onno Elzinga.

Er hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn er ihn traf. Als Leiter der ehemaligen Soko Ems war er schließlich auch verantwortlich für die Sicherheit seiner Mitarbeiter gewesen. Zu Beginn der Ermittlungen hatte er Probleme mit sich und anderen Menschen gehabt. Ihm war zu spät aufgefallen, dass der gesuchte Mörder die Rollen getauscht hatte. Der Täter hatte den Spieß umgedreht und Anschläge auf die Ermittler verübt. Onno Elzingas vernarbtes Gesicht erinnerte Broning an sein damaliges Versagen.

Aber das Leben geht weiter. Jan Broning hatte mit Unterstützung gelernt, sich selbst Fehler und Schwächen zu verzeihen.

Er zog den weißen Overall der Spurensicherung an. Egon Kromminga von der TOG übernahm die Führung. Er hatte einen sogenannten Trampelpfad mit Flatterband markiert, der auf einem Umweg zum Fundort führte. Noch bevor Jan die Leiche sah, hörte er das Summen der Fliegen.

Der Tote war ein kräftiger Mann von etwa 45 Jahren. Er trug ein teures Hemd und eine Anzughose. Jan Broning kniete sich neben die Leiche. Sein Knie protestierte mit einem lauten Knacken. Das Gesicht des Toten war auffällig rot, typisch für Kohlenmonoxid-Vergiftungen.

Er sah zu Kromminga auf. »Habt ihr die Taschen durchsucht, was gefunden?«

»Haben wir, Jan, aber keine Geldbörse, keine Papiere, nichts.«

Jan Broning sah sich die Hände des Toten an. Die Kollegen hatten durchsichtige Plastiktüten darübergezogen und an den Handgelenken mit Gummiringen verschlossen. Die rechte Hand sah am schlimmsten aus. Der Zeigefinger war abgetrennt worden. Die Fingernägel beider Hände waren abgerissen und wenn Jan sich nicht täuschte, steckten Splitter in den Fingerspitzen. Die Haut an Knöcheln und Handgelenken war abgeschürft.

Broning hörte Krommingas müde Stimme über sich. »Krass, die Sache mit den Händen. Einige winzige Maden von der Wunde haben wir in eine Alkohollösung gelegt.«

»Das habt ihr gut gemacht. Die entomologische Untersuchung der Maden kann uns Hinweise auf den Todeszeitpunkt geben. Egon, ist dir auch dieser merkwürdige Ring am kleinen Finger aufgefallen? Der passt in zweierlei Hinsicht nicht zum Toten: Er ist zu klein und er sieht irgendwie billig aus. Die Kleidung ist hochwertig … und dann dieser Schmuck!« Mühsam erhob sich Jan Broning, wieder mit Geräuschen aus dem Kniebereich.

Egon Kromminga verzog sein Gesicht. »Jan, das klingt aber nicht gut! – Du, das mit dem Ring ist mir ehrlich gesagt nicht aufgefallen. Der Notarzt hat den Tod bereits festgestellt und den Totenschein ausgestellt und …«

Jan Broning sah in das Gesicht seines Kollegen, das durch den weißen Overall noch blasser wirkte, als es ohnehin schon war, und unterbrach ihn. »Egon, vergiss das mit dem Ring.« Eine verlängerte Nachtschicht hinterließ Spuren. Der Mann ist seit 14 Stunden im Dienst und todmüde, dachte Broning. Ich komme gerade aus dem Bett. »Alles okay, sieh zu, dass du nach Hause kommst. Danke, dass du gewartet hast, aber nun ist es gut gewesen. Ab in die Klappe.«

 

Die Spurensicherer Stefan Gastmann und Albert Brede hatten inzwischen ihre Overalls angezogen, die eine Übertragung von Fremdspuren vermeiden sollten, und die Ausrüstung zum Fundort der Leiche transportiert. Stefan fotografierte sich von außen nach innen heran. Albert suchte nach Spuren auf der Leiche. Der Täter konnte Haare oder Kleidungsfasern zurückgelassen haben.

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Besorgt sahen die Beamten immer wieder in die Wolken. Sie waren noch nicht fertig, als die ersten Regentropfen fielen.

Jan Broning ging zurück zum Parkplatz und sprach den Bestatter an. »Herr Erdmann, wir haben ein Problem. Es fängt an zu regnen und die Spurensicherung hat ihre Arbeit noch nicht beendet.«

»Herr Broning, ich kann mir denken, was Sie von mir wollen: Einen sicheren, trockenen Platz, wo Sie die Leiche deponieren können, um ihre Arbeit zu beenden. Ich darf Ihnen versichern, dass in meinem Institut alles vorhanden ist, was Sie benötigen. Sie werden zufrieden sein.«

Jan Broning glaubte, da ein wenig Stolz herausgehört zu haben. Er war froh, dass der Bestatter ihnen aus der Patsche half. »Okay, Herr Erdmann, das Angebot nehmen wir gerne an.«

Er erklärte den beiden Kollegen, die inzwischen die Leiche provisorisch abgedeckt hatten, was er mit dem Bestatter vereinbart hatte. Der direkte Weg vom Parkplatz bis zum Fundort der Leiche war inzwischen auch abgesucht worden, und Erdmann musste mit dem Sarg keinen Umweg machen.

*

Broning hatte sich in den weißen Bulli der Spurensicherung gesetzt. Der Bestatter sah sich suchend auf dem Parkplatz um und kam dann lächelnd auf die beiden Autobahnpolizisten zu. Er legte die Hände flehentlich zusammen. »Bitte, kann mir einer von Ihnen zur Hand gehen?«

Onno sah Klaas skeptisch von der Seite an. Der verzog das Gesicht und zeigte auf seinen Rücken.

»Scheiße«, murmelte Onno und zog sich Einmalhandschuhe über. Er zog gemeinsam mit Erdmann den Sarg aus dem Kombi und ging mit ihm zum Fundort.

Auf halbem Weg kam ihnen Stefan Gastmann entgegen. »Onno? Ich denk du bist auf See und jetzt schlurfst du hier mit ’nem Zinksarg durch die Botanik …«

Trotz der unangenehmen Situation lachte Onno kurz auf. »Ja, da kannste mal sehen, Stefan. Das Leben hält doch immer eine Überraschung bereit.«

Albert Brede kniete neben der abgedeckten Leiche vor einem offenen Aluminiumkoffer und fluchte vor sich hin, weil Teile der empfindlichen Geräte im Regen nass geworden waren. Mit mürrischem Gesichtsausdruck verstaute er seine Ausrüstung und fragte mit einem Blick auf den Bestatter schlecht gelaunt: »Leichensack neu?«

»Natürlich«, sagte Erdmann empört, »alles mit Herrn Broning abgesprochen.«

Am Fußende des Toten sprachen sie ein kurzes Gebet. Albert Brede half dem Bestatter, die Leiche vorsichtig in einen länglichen Sack mit Reißverschluss zu legen. Onno befestigte mit Erdmann den Sargdeckel. Hinter sich hörte er Albert stöhnen, der inzwischen den Spurensicherungskoffer geschlossen hatte und aufstand.

»Können wir dann?«, fragte der Bestatter mit Blick auf Albert Brede.

»Abtransport zu Ihrem Institut, 15 Uhr Treffen.«

Für einen Moment sah Erdmann Albert Brede sprachlos an, dann nickte er kurz und wandte sich wieder zu Onno um. Der packte die hinteren, Erdmann die vorderen Griffe des Sarges. Sie hoben ihn gleichzeitig hoch und gingen zum Parkplatz zurück.

Onno begann unterwegs zu schwitzen. Der Regen trommelte einen gleichmäßigen Takt auf den Sarg. Das Schlimmste war die Singsangstimme des Bestatters. Erdmann summte einen Choral.

Onno war froh, als sie den Zinksarg mit dem Toten im Kombi des Bestatters verstaut hatten. Erdmann bedankte sich artig und gab Onno seine Visitenkarte. »Sie dürfen ja nichts annehmen, aber Sie wissen ja, steht der Sensenmann vor der Tür, ruf Erdmann und …«

»Tschüss, Herr Erdmann«, unterbrach Onno. Er wollte nur weg.

Er setzte sich in den Streifenwagen.

Klaas zog die Nase kraus und wollte etwas sagen.

Onno sah ihn grimmig von der Seite an. »Ein Spruch und du kannst laufen!«

»Ent-schul-di-gung!« Klaas konnte dieses Wort auf eine besondere Art aussprechen, mit der er die Bedeutung auf den Kopf stellte. Dazu hob er beide Hände mit der Innenfläche nach oben, verdrehte die Augen und wackelte mit dem Kopf.

5 siehe Emsgrab

6 siehe Punkt 7 auf der Karte

7 Tatortgruppe