Emsgrab

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10.

Fahrt von der Insel Borkum nach Emden

Jan Broning stand im Ruderhaus des Streifenbootes und schaute nach oben auf das Außendeck der Fähre, die an ihnen vorüberfuhr. Er fühlte einen Stich in der Brust. In Gedanken war er da oben und drückte seine Brigitte an sich. Ein Kurzurlaub vor vielen Jahren … Es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen. Schon während der mehrstündigen Überfahrt nach Borkum hatten sie den Alltag komplett losgelassen.

Broning wurde aus seinen Träumen gerissen, als sich die Ruderhaustür öffnete. Der Kollege Diekmann zog die Jacke aus und ging in Richtung Kombüse. Diekmann drehte sich zu Broning und Elzinga um und fragte. »Wie wär’s mit Tee? – Oder trinkt hier etwa jemand Kaffee …?«

Broning hob die Brauen. »Das war doch keine Frage, oder?«

Elzinga grinste. »Nee, Jan, das war keine.«

»Viel Worte macht ihr ja nicht, Onno!«

»Wir sind so bisschen wie ein altes Ehepaar«, sagte Elzinga. »Das ergibt sich so über die Jahre.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Kombüse. »Bleibt er friedlich?«

»Unser Gefangener?« Jan Broning lächelte. »Das Einzige, was an ihm gefährlich ist, sind seine Sprüche. Ein Kollege von der Sommerverstärkung ist auf ihn aufmerksam geworden. Detlef Kunze wollte vermutlich einen Hotelsafe knacken. Sein Pech, dass der Kollege ihn erkannte. – Kunze ist noch ein Gauner der alten Schule. Er weiß, wann er verloren hat.«

Das Boot drehte nach Backbord und Elzinga sah, dass der Katamaran Nordstern ihnen entgegenkam. »Achtung!«, rief er in Richtung Kombüse. »Nordstern! Jetzt wird’s kabbelig!« Kurz darauf passierte sie der Katamaran mit dröhnenden Maschinen und das Streifenboot tauchte in zwei tiefe Wellentäler ein.

Elzinga sah dem Katamaran hinterher. »Komisch … Keiner hat mehr Zeit, alles muss schnell gehen, sogar der Urlaubsbeginn.«

»Die Menschen haben es eilig auf der Suche nach dem Glück«, sagte Broning, »und sehen nicht, dass sie es schon längst haben.« Er sah am Stirnrunzeln seines Kollegen Elzinga, dass er ihn mit dieser Bemerkung verunsichert hatte.

»Die Frage ist doch, Jan: Was ist das Glück? Jeder versteht doch unter dem Begriff etwas anderes. In diesem Moment freue ich mich, dass alles so läuft, wie es soll. Dazu klares Wasser, gute Luft, und nach Feierabend wartet zu Hause meine Frau auf mich.«

Exakt das Thema, das Jan Broning im Moment lieber nicht vertiefen wollte. »Onno, stört es dich, wenn ich draußen mal etwas Luft schnappe?«

»Kein Problem. Am Bug ist die beste Stelle. Nimm dir die Decke mit, dann kannst du dich auf die Verschanzung setzen. Aber halt dich gut fest«, rief ihm Onno Elzinga noch hinterher.

Als Jan Broning nach draußen ging, fragte er sich, ob sein Verhalten als unfreundlich ausgelegt werden könnte. Aber er mochte dieses Gespräch über das Glück nicht weiterführen.

Ferdinand Diekmann hatte für den Tee diesmal die großen Tassen genommen. Das Wasser war zu kabbelig für die kleinen. Er balancierte die Tassen über die Kombüsentreppe ins Ruderhaus, stellte sie auf den Tisch ab und sah, dass Broning auf dem Vordeck saß. Elzinga schaute zu, wie Diekmann das Ruderhaus verließ und an Deck kurz mit Jan Broning sprach.

Als Diekmann zurückkam, sah er Elzinga ratlos an. »Der Kollege möchte keinen Tee.«

Die Fahrt verlief ohne Probleme und das Boot lief schließlich, vorangetrieben durch den Flutstrom, in den Außenhafen Emden ein. Am Dienstanleger wartete bereits ein Streifenwagen und kurz darauf gingen Jan Broning, Lütters und ihr Gefangener von Bord.

*

Außenhafen Emden

»Komischer Mensch«, sagte Elzinga. »Nun hat er fast die ganze Zeit da draußen auf der Verschanzung gehockt. Dabei hab ich doch bloß gesagt, weil er halt von Glück gesprochen hatte, Glück ist genau das hier für mich, und natürlich dass zu Hause meine Frau auf mich wartet – und da fällt dem plötzlich ein, er muss frische Luft schnappen, und er kommt gar nicht erst wieder rein. Sind ihm wohl zu konservativ, meine Ansichten. Genau wie unser Tee.«

»Mensch, Onno!« Diekmann schüttelte den Kopf. »Kollege Broning hat doch seine Frau bei einem Verkehrsunfall verloren. Ist noch gar nicht so lange her.«

»Ach du Scheiße …!« Elzinga fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und raufte sich die Haare. »Ich Idiot.«

11.

Nördliches Rheiderland

Der Gedanke bohrte sich in sein Bewusstsein: Versagt, er hatte jämmerlich versagt!

Er war einfach in Panik davongelaufen, das Werkzeug hatte er am Sperrwerk liegenlassen.

Diese Aktion hatte er doch so gut vorbereitet gehabt! Alles war optimal gelaufen – bis dieses verfluchte Schiff seine Scheinwerfer auf ihn gerichtet hatte!

Sollte er es wagen, seine Ausrüstung zu holen? Nein, es wurde schon hell und das Risiko war zu groß, dass sie ihn erwischten.

Waren sie ihm gefolgt?

Mit der Angst kamen auch die alten Minderwertigkeitsgefühle zurück, und er saß reglos im dunklen Wohnzimmer. Einerseits stellte er sich immer wieder vor, wie ihn alle für seine Taten bewundern würden, andererseits aber hatte er Angst, zu versagen.

Er dachte an sein Berufsleben zurück. An seinen schnellen Aufstieg und das hohe Ansehen, das er am Anfang genossen hatte. Wie war es nur zu diesem jämmerlichen Ende in diesem Kaff gekommen?

Begonnen hatte es damals eigentlich mit diesem Vorfall im Büro. Seine Vorgesetzten hatten nicht erkennen können, dass die Kollegin, die er geschlagen hatte, auch zu denen gehörte, die sich gegen ihn verschworen hatten. Und um die Angelegenheit zu vertuschen, hatten sie ihn in den vorzeitigen Ruhestand schicken wollen. Seine Frau hatte ihn angefleht, dieses Angebot anzunehmen. Und er war schließlich darauf eingegangen, weil er die Blicke der Kollegen nicht mehr ertragen hatte.

In seiner Heimatstadt hatte ihn ständig alles an sein Versagen erinnert. Auch die Nachbarn redeten über ihn. Deshalb war er mit seiner Frau in dieses kleine Dorf an der Küste umgezogen.

Er starrte auf den Zeitungsausschnitt, der vor ihm lag. Auf dem Bild zum Text standen sie alle und grinsten frech in die Kamera. Wie er sie hasste!

Es wurde Zeit, das überhebliche Grinsen von diesen Gesichtern zu wischen.

Zeitsprung

12.

An Bord des Saugbaggers »Arne Monsing«

Der Saugbagger Arne Monsing befand sich auf der Ems in Höhe Papenburg. Die riesigen Hallen der Werft und die Brücke über die Ems lagen dahinter.

Henk de Olde saß im Steuerstuhl auf der Brücke des holländischen Baggers. Die Abläufe waren immer gleich. Sobald der Bagger voll beladen war, würden sie die Löschstelle hinter der Flusskurve anlaufen. Diese Entladestelle bestand aus einem Ponton, auf dem eine offene Rohrleitung mit einem Gestell befestigt worden war.

Die Besatzung würde dann die Löschleitung des Baggers mit der Rohrleitung verbinden. Die Pumpen des Baggers würden das geladene Schlick-Wasser-Gemisch hineindrücken. Danach würde es weiter über eine Schwimmleitung fließen und die Landseite erreichen. Dort verlief die Rohrleitung über den Deich und endete in einem Gestell, das über einem Spülfeld angebracht war, mehrere Fußballfelder groß und eingedeicht. Es würde sehr lange dauern, bis sich die festen Bestandteile des Schlick-Wasser-Gemischs am Boden des Spülfeldes absetzten.

Aber so weit waren sie noch nicht. Henk de Olde verglich die Position des Baggers mit dem Plan auf dem Bildschirm.

Das Profil des Flusses musste hier noch angeglichen werden. Dies war ein sensibler Punkt, weil die Kreuzfahrtschiffe, wenn sie das Docktor des Hafens passiert hatten, hier in den eigentlichen Fluss einliefen. Dafür musste das Schiff nach steuerbord gedreht werden. Sollte sich in diesem Bereich eine Sandbank gebildet haben, konnte es zu ernsten Schwierigkeiten kommen, weil die Kursänderung nicht vorgenommen werden konnte.

Das Saugrohr des Baggers war unten und das Schlick-Wasser-Gemisch füllte langsam den Laderaum. Alles lief nach Plan und die letzten Binnenschiffe hatten den Bagger mit der ersten Flutwelle passiert. Diese Begegnungen verliefen nicht immer reibungslos. Das Fahrwasser war hier sehr eng und die Schiffe fuhren mit der Strömung und waren schwer zu navigieren. Der Bagger hatte die Signale für ein manövrierbehindertes Fahrzeug gesetzt, die anderen mussten also ausweichen. Auf welcher Seite sie passieren durften, zeigte der Bagger ebenfalls an, damit sich die anderen Besatzungen früh genug auf die nötigen Begegnungsmanöver einstellen konnten.

Nach einigen Absprachen über Schiffsfunk waren alle Begegnungen ohne Probleme verlaufen und Henk de Olde konnte sich nun etwas entspannen.

Der Maschinist Pieter ten Broek verriegelte die Tür zur Maschinenanlage des Baggers und in der Kombüse wurde es sofort etwas ruhiger. Der Duft von Kaffee zog durch den Raum, wo der Matrose Tassen auf ein Tablett stellte. Er wartete, bis der Maschinist die Ohrenschützer abgesetzt hatte, ehe er fragte: »Na, wie sieht es aus, Pieter?«

»Die Bilge ist fällig, du kannst dich schon mal seelisch darauf einstellen. Und die Tanks müssen auch noch entwässert werden.«

»Ach, lass uns erst mal Kaffee trinken, bevor wir das Saugrohr hieven.«

Pieter ten Broek ging voraus und hielt Martin die Türen zur Schiffsbrücke auf. »Henk, de Koffie ist klar.«

Während die Männer ihren Kaffee tranken und Kekse dazu aßen, wurde nicht viel geredet. Henk de Olde dachte an den Baggerplan, Pieter ten Broek zählte in Gedanken die Jahre bis zur Rente und Martin Kerstmann dachte an seine Freundin in Groningen.

»Na, Martin, kannst es wohl gar nicht abwarten, bis du wieder mit deiner Freundin knuffeln kannst«, fing Pieter ten Broek schließlich an zu frotzeln. »In deinem Alter habe ich mich auch noch gefreut, meine bessere Hälfte zu sehen.«

 

»Genau, Pieter, du hättest sie am liebsten aufgefressen und heute ärgerst du dich, dass du es nicht getan hast«, spottete de Olde gutmütig. »Du wirst dich noch in unsere Gesellschaft zurücksehnen, wenn du erst Rentner bist und mit deiner Alten shoppen gehen musst.«

Es wurde Zeit, das Geschirr abzuräumen, denn der Laderaum war inzwischen fast vollständig gefüllt. Nur die Schokokekse ließen sie stehen. Dann stellten sie die Saugpumpen ab und zogen das Saugrohr langsam über eine Winde hoch. Der junge Matrose spülte mit einem Wasserschlauch die Drähte und Hebel der Winde ab, die nach und nach aus dem Wasser auftauchten. Dabei verdeckte er teilweise den Bereich, den die Bordkamera normalerweise erfasste.

Das Saugrohr war fast vollständig oben, und Henk langte gerade noch mal nach den Keksen, als sie über die Gegensprechanlage Martin schreien hörten.

»Verdammt, was ist passiert? Hat er sich etwa verletzt?« Pieter eilte zur Winde, um zu sehen, ob der Matrose sich in den laufenden Teilen eingeklemmt hatte.

Henk de Olde stoppte die Winde vom Steuerhaus aus. »Gott verdammich!« Seine Stimme hallte aus dem Decklautsprecher. »Was ist denn da los, Pieter? Ist Martin verletzt?« Er sah über die Bordkamera, wie der Maschinist seinen Arm um die Schulter des jungen Matrosen legte und ihn mit sich nach hinten zog.

In diesem Moment sah Henk de Olde, was die beiden so erschreckt hatte. Ein menschlicher Körper hatte sich in Rückenlage zwischen dem Saugrohr und dem Hebedraht verklemmt und das vorbeiströmende Wasser bewirkte, dass sich ein Arm bewegte.

Henk fiel vor Schreck der Schokokeks aus der Hand. Mein Gott, dachte er, wie Ahab auf dem Wal! »Pieter, ist der tot?«

Der Maschinist brauchte einen Moment, um antworten zu können. Er schluckte. »So tot, wie man nur sein kann, Henk.«

Am liebsten hätte de Olde das Saugrohr wieder abgesenkt. Seine Hand schwebte über dem entsprechenden Knopf. Wieso musste ihnen das passieren? Erst der Anschlag mit den Steinen und jetzt das hier …

Widerstrebend nahm de Olde die Hand vom Schalter. Dieser Tote hatte Angehörige und die sollten erfahren, was mit ihm passiert war. »Pieter, bring Martin nach hinten und sichere das Saugrohr.« Er nahm den Hörer des Sprechfunkgeräts aus der Halterung. Als Erstes würde er Ems Radio informieren müssen.

Der Maschinist brachte den bleichen Matrosen in die Kombüse, dann kam er auf die Brücke. »Henk, was machen wir jetzt?«

»Die Verkehrszentrale sagt, wir sollen die Position halten«, sagte Henk, den Hörer noch in der Hand. »Sie werden sich bei uns melden, sobald sie die Polizei erreicht haben.«

Nach endlos scheinenden Minuten meldete sich Ems Radio über den Schiffsfunk: »Arne Monsing für die Verkehrszentrale.«

»Hier Arne Monsing.«

»Nach Rücksprache mit der Polizei sollen Sie zunächst die genaue Position festhalten. Die Leiche soll gesichert werden und anschließend laufen Sie bitte den Außenhafen Papenburg an.«

»Verstanden.« Henk de Olde legte den Hörer des Sprechfunkgerätes in die Halterung zurück.

»Eins kann ich dir sagen, Henk, den Toten fass ich nicht an«, sagte ten Broek energisch. »Das kannst du vergessen. Außerdem, so wie ich das sehe, hat er sich sowieso am Hebedraht verklemmt.«

Der Schiffsführer überlegte einen Moment. »Also gut. Wir hieven das Saugrohr so weit, bis der Tote vollständig aus dem Wasser ist. Ich schreib noch die GPS-Positionsdaten auf, dann drehen wir und laufen ganz langsam Papenburg an. Ich will nur hoffen, dass wir die Leiche so schnell wie möglich von Bord bekommen.«

13.

Außenhafen Papenburg

Als sie den Bagger vorsichtig im Außenhafen angelegt hatten, standen schon ein Rettungswagen und ein Einsatzfahrzeug der Polizei am Anleger.

»Pieter, kannst du hier oben die Stellung halten?«, bat Henk. »Ich kümmere mich um die Obrigkeit.«

Der Maschinist nickte nur, und es war ihm anzusehen, was er dachte: Besser du als ich …!

Henk de Olde ging zur Relingspforte und half einem Sanitäter, dem Notarzt und zwei Beamten der Wasserschutzpolizei an Bord. »Ich bin der Schiffsführer des Baggers und habe Sie über Funk alarmiert.«

Einen der Beamten kannte er von diversen Kontrollen, die der an Bord des Baggers über die Jahre durchgeführt hatte. Im Grunde waren Henk de Olde und Onno Elzinga am Fluss gemeinsam älter geworden. Als junger Beamter war Elzinga sehr streng gewesen, aber mit den Jahren war er doch spürbar gnädiger geworden.

Onno Elzinga stellte ihm die anderen Männer vor und bat Henk de Olde, sie zu dem Toten zu führen.

»Er liegt auf der anderen Seite des Baggers«, erklärte Henk. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen … Aber bitte vorsichtig, das Deck ist noch nass. Und besonders vorsichtig mit dem Kopf – die Rohrleitungen!«

Wortlos folgten sie dem Schiffsführer zum Saugrohr auf der Backbordseite.

Der Notarzt untersuchte den Leichnam oberflächlich und machte die Polizeibeamten auf die Stichwunden am Körper aufmerksam. »Unnatürlicher Tod – wohl eindeutig«, sagte er und begann, den Totenschein auszufüllen. »Hier können wir nichts mehr ausrichten. Herr Elzinga. Wenn Sie nähere Informationen haben, insbesondere die Personalien, melden Sie sich bitte. Ich gebe Ihnen meine Karte. Tschüß.«

Der hat es aber eilig, dachte Henk. »Nehmen Sie den nicht mit?«

Onno Elzinga sah ihn an. »Ich weiß, dass Sie ihn loswerden wollen, aber wir müssen auf die Kriminalpolizei warten. Es geht nicht anders.«

In diesem Moment hielt der Einsatzwagen der Spurensicherung am Anleger. Die Männer stiegen aus und zogen sich weiße Overalls an.

Onno Elzinga half den Kollegen, die Ausrüstung an Bord zu bringen. Die Spurensicherungsbeamten begannen mit ihrer Arbeit bei der Leiche. Elzinga, sein Kollege Ferdinand Diekmann und Henk de Olde gingen zusammen auf die Schiffsbrücke. Der Schiffsführer zeigte den WSP-Beamten auf der Seekarte, wo sie den Toten gefunden hatten, und die Polizisten notierten die Personalien der Besatzung für den Bericht.

»Die Kollegen der Kripo werden nach der Leichenschau sicher noch einige Fragen an Sie haben«, kündigte Onno Elzinga an.

»Wie wär’s bis dahin mit einer Tasse Kaffee und einigen Schokokeksen, meine Herren? Schokolade ist Nervennahrung und die kann ich im Moment gut brauchen.« Ein doppelter Genever wäre allerdings noch besser, fügte Henk de Olde in Gedanken hinzu.

Stefan Gastmann und Albert Brede von der Tatortgruppe sahen sich inzwischen an Bord des Baggers um.

»Mal ein anderer Tatort, Albert. Hauptsache du wirst nicht seekrank«, frotzelte Gastmann.

»Pass du langes Elend lieber auf deinen Kopf auf«, konterte Brede. »Diese Rohrleitung … verdammt tief.«

Sie machten mit der neuen Digitalkamera als Erstes einige Übersichtsaufnahmen. Dann gingen sie daran, den Toten an Deck abzulegen.

»Sei bloß vorsichtig«, mahnte Brede. »Wenn der uns ins Wasser fällt … Wissen wir denn schon, um wenn es sich handelt?«

Gastmann untersuchte die Kleidung des Toten. »Pech gehabt – keine Brieftasche oder Ähnliches.« Er sah in Richtung des Ruderhauses. Ein Beamter der Wasserschutzpolizei beobachtete ihre Arbeit. »Albert, ich frag mal die Kollegen, ob die schon was über den Mann wissen.«

Brede stülpte Plastiktüten über die Hände des Toten und befestigte sie. Im Brustbereich und am Hals stellte er mehrere Stichwunden fest.

Stefan Gastmann kam zurück. »Fehlanzeige, die Kollegen können auch nichts zur Identität sagen. Besatzungsmitglieder von Schiffen oder Sportbooten werden aktuell nicht vermisst.«

»Pack mal mit an«, bat Brede, »ich möchte ihn von der anderen Seite sehen.« Vorsichtig drehten sie die Leiche auf den Rücken. »Hier sind auch einige Verletzungen. Die sind aber vermutlich nach dem Tod eingetreten. Halt mal den Maßstab, damit ich einige Aufnahmen machen kann.«

»Die Arme und Beine fühlen sich merkwürdig an«, sagte Stefan Gastmann.

»Ja«, bestätigte Alfred, »als wenn einige Knochen gebrochen sind.«

»Schiffsschraube?«

»Glaub ich nicht, solche Verletzungen sehen anders aus.« Albert Brede nahm sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seiner Dienststelle. »Hallo, hier ist Albert – sind hier bei einem Toten, haben aber keine Hinweise auf seine Identität. Ich beschreib euch den mal und ihr schaut in die Vermisstenanzeigen, ob wir dort eine Übereinstimmung finden …«

Während Albert Brede telefonierte, sah sich Stefan Gastmann die Verletzungen des Toten genauer an. Der oder die Täter hatten mehrfach vermutlich mit einem schmalen Messer zugestoßen. Entweder war der Täter mächtig sauer gewesen oder er hatte auf Nummer sicher gehen wollen. Aber wie und warum war der Tote ins Wasser gelangt? Diese Knochenbrüche waren ein weiteres Rätsel.

Bredes Handy klingelte. »Brede«, meldete er sich. »Oh, das ging ja schnell …! Warte, ich schreib mit …« Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um und wies auf den Toten. »Darf ich vorstellen, Stefan: Bernd Vogelsang. Er ist ein Umweltschützer und wird vermisst. Ein Streifenwagen ist zu seiner Adresse unterwegs. Sie melden sich. Ich glaub, wir beeilen uns besser. Kann sein, dass wir noch zu einem weiteren Tatort müssen.«

Onno Elzinga schaute um die Ecke. »Na, Kollegen, wie wär’s mit einer Tasse Kaffee im Ruderhaus?«

»Gerne«, sagte Stefan Gastmann, »dann können wir uns gleich einige Notizen zum Ablauf machen.«

»Der Kaffee ist gut«, lobte Albert Brede, »danke.«

Onno Elzinga schilderte ihm den Ablauf des Leichenfundes. »Und dann haben wir euch alarmiert.«

Bredes Diensthandy klingelte wieder. Er meldete sich und hörte einen Moment zu. »Ich hab’s mir gedacht«, sagte er dann. »Die Absperrung, na klar …Wir sind unterwegs.« Er steckte das Handy ein. »Stefan, pack zusammen, wir haben einen neuen Einsatz. Kollege Elzinga, bitte auf den Bestatter warten und Abtransport sicherstellen, zur Gerichtsmedizin Oldenburg, und Bericht mit Daten an uns.«

Onno Elzinga schaute etwas schräg, aber Stefan war schon an die spezielle Ausdrucksweise seines Kollegen gewöhnt. Irgendwie hatte man stets das Gefühl ›Da fehlt doch was …?‹ Bei Aufregung übersprang Albert Brede gern mal ein Wort.

Während Stefan Gastmann zusammen mit Onno Elzinga die Ausrüstung im Tatortfahrzeug verstaute, saß Albert Brede schon auf dem Beifahrersitz und gab Vogelsangs Adresse in das Navigationsgerät ein. »Stefan, fahr langsam«, sagte er, als sein Kollege einstieg, »wir haben es eilig.«

*

Westoverledingen

Nach dreißig Minuten hatten sie das einsam gelegene Haus erreicht.

»Ich glaube, Herr Vogelsang legte keinen großen Wert auf Nachbarschaft«, sagte Stefan Gastmann. Er hielt hinter einem auf der Auffahrt geparkten Streifenwagen.

Die uniformierten Kollegen kamen ihnen entgegen und stellten sich als Streifenbesatzung der örtlichen Dienststelle vor. Der ältere Uniformierte hatte einen leichten Silberblick und sprach Hochdeutsch mit einem starken Akzent. »Moin!« Er zeigte auf seinen Partner. »Kollege Michael Pesche und ich bin Stinus Wurpts. Euch beide kenne ich. Bin ja schon lange bei diesem Verein.« Er deutet auf das Haus vor ihnen. »Die Haustür ist nicht verschlossen. Im Flur sieht es schlimm aus. Umgestürzte Möbel und ich glaube, da ist auch ’ne Menge Blut auf dem Bodenbelag. Im Haus ist aber niemand, wir haben alles durchsucht. Der Fernseher im Wohnzimmer lief noch. Es hätte ja sein können, dass sich Verletzte im Haus befinden. Wir haben nichts angefasst oder verändert und waren sehr vorsichtig.«

Stefan Gastmann war beeindruckt. Man sollte die uniformierten Kollegen doch nicht unterschätzen.

Albert Brede hatte zunächst regungslos zugehört. Ein kurzes Nicken, mehr durfte man von ihm wohl nicht erwarten.

»Kollege Wurpts, kennen Sie den Bernd Vogelsang?«, fragte Stefan Gastmann.

»Ja, er ist ein engagierter Umweltschützer. In letzter Zeit hat er aber Probleme. Er hat sich bei uns beschwert, weil er wegen der Sache mit den verendeten Rindern beschimpft und bedroht worden war. Dann noch die Geschichte mit seiner Mutter. Schweren Herzens musste er sie im Altenheim unterbringen. Er lebt jetzt alleine hier.«

»Danke Kollegen, damit können wir uns schon ein Bild machen«, sagte Gastmann.

Albert Brede fragte den Stationsbeamten: »Können Sie mir zeigen, wo Sie durch den Flur gelaufen sind?«

Stinus Wurpts ging voran und drückte vorsichtig die Eingangstür des Hauses auf. Die Männer sahen in den Flur, wo verschiedene Gegenstände verstreut auf dem Boden lagen. Wurpts ging um die Tür herum und die Kollegen folgten ihm. Im Flur blieb er stehen. »Michael und ich sind dann dicht an der Wand lang, also wo man normalerweise nicht läuft. Denselben Weg haben wir zurück genommen. Klinken und Türen haben wir außerhalb des normalen Griffbereichs berührt.«

 

Wurpts’ Schilderung wurde vom Kollegen Brede nur durch ein kurzes Nicken kommentiert.

»Sehr gut, Kollegen«, lobte Stefan Gastmann, »alles richtig gemacht. Den Rest könnt ihr uns überlassen.«

Als die Uniformierten außer Hörweite waren, sagte Gastmann: »Hättest ja auch mal ein paar nette Worte sagen können. Die haben das doch hier ordentlich gemacht.«

Als Antwort verzog Brede nur mürrisch das Gesicht.

Die Kriminalbeamten sahen sich nacheinander alle Räume im Haus an.

»Na, Stefan, was ist hier passiert?«, fragte Brede. »Was sagt dir der Tatort?«

»Ich stell mir das so vor …«, begann Gastmann und wies in Richtung Wohnzimmer, aus dem TV-Licht flackerte und Stimmen zu hören waren. »Das Opfer hatte den Fernseher eingeschaltet. Vermutlich klingelte der oder die Täter an der Tür.« Er drehte sich zur Haustür um. »Das Opfer öffnete die Eingangstür. Es gibt keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Kannte er seinen Besucher?« Er ging ein paar Schritte und schaute ins Wohnzimmer. »Die Möbel sind umgestürzt und beschädigt. Es muss ein Kampf stattgefunden haben. Die Blutspuren – insbesondere die große Blutlache hier vorne – sprechen dafür, dass eine Person erheblich verletzt wurde und dort einige Zeit lag.«

»Eins versteh ich nicht«, sagte Brede. »Wie gelangte das Opfer in die Ems? Warum lässt man ihn nicht einfach hier im Flur liegen?«

»Das ist ’ne gute Frage«, seufzte Gastmann, »leider nicht die einzige.«

»Der Ablauf ist aber schlüssig«, bestätigte Brede ihm, »auch wenn wir daran denken, wie unser Toter aussah.«

»Aber wie sind die Knochenbrüche entstanden?«, fragte Gastmann. »Hier beim Kampf – oder nach Eintritt des Todes, und die Brüche wurden durch das Saugrohr verursacht?«

»Egal«, winkte Brede ab, »nach der Obduktion wissen wir mehr. Du kannst schon mal mit den Außenaufnahmen beginnen. Ich werde Dirksen Bericht erstatten.«

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