Pforte des Todes

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6

Von Grotejohanns Position waren Schlaf- und Wohnzimmer Annette Gurtners einzusehen. Ebenso der vordere Bereich der Küche und durch das gekippte Riffelglasfenster ein schmaler Streifen des Badezimmers. Die Küche war trotz des Tageslichts in grelles Licht eines Halogenfluters getaucht.

Die junge Frau kochte. Hin und wieder sog sie an einer Zigarette, behielt den Rauch lange in den Lungen, ehe sie ihn durch die Nase wieder entließ. Immer wieder blickte sie auf die Tür, als erwartete sie unliebsamen Besuch. Einmal schrak sie zusammen, lief hinaus, tauchte im Wohnzimmer wieder auf und nahm ein Telefongespräch an. Sie schüttelte mehrmals den Kopf. Grotejohann ahnte, dass es auch bei diesem Gespräch um das Verschwinden Deskins ging. Er war nahe daran, ihr zu glauben und die Beobachtung einzustellen. Trotz des etwa vierzig Jahre alten Besuchers, der mit einem Rintelner Taxi vorgefahren war und auf ihn nicht nur wegen des Halsverbands den Eindruck einer mehr als ungewöhnlichen Persönlichkeit gemacht hatte.

Schlank, weißhaarig und mit einem Gesicht, das von innen erleuchtet zu sein schien, war der Fremde mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen in das zweigeschossige Mietshaus gegangen, der genau wusste, dass er sein Ziel erreichen würde. Die junge Frau schien sich zu ängstigen.

Grotejohann rief seine Sekretärin an, gab ihr Kennzeichen und Nummer des Taxis durch und bat sie, die Daten des Fahrers zu recherchieren. Kaum hatte er das Gespräch beendet, kam der Weißhaarige aus dem Haus, stieg in das wartende Taxi und fuhr in Richtung Werre Park ab.

Machte es überhaupt noch Sinn, die Wohnung weiter zu beobachten? Oder hatte sich Deskin, seinen Betrug breit grinsend genießend, bereits abgesetzt?

»Ich biete Ihnen eine Wahnsinnsstory«, hatte Deskin versprochen. »Menschenopfer, verstehen Sie?«

»Haben Sie Beweise?«

»Gegen gutes Bares.«

»Kein Interesse.«

»Ich habe Ihnen ein Foto in den Briefkasten geworfen.«

In der Tat. Ein zerschnittenes. Darauf ein geradezu liebliches Gesicht. Blass, offenbar geschminkt und tot. In einem elfenbeinfarbenen Sarg auf schneeweißer Seide. Sah sehr rituell aus. Ein Menschenopfer?

Mit schweißnassen Händen hatte er einige Redaktionen angerufen. Das Echo war überwältigend. Wenn Sie die Geschichte dokumentieren können, haben Sie den Jackpot!

Grotejohann ballte die Rechte und schlug damit gegen das Lenkrad. »Hurensohn«, zischte er, als er an die Nacht auf dem Parkplatz am Kaiser-Wilhelm-Denkmal dachte, auf dem Deskin ihm die Beweise für die Richtigkeit seiner Geschichte hatte übergeben wollen. Er war vor der Zeit angekommen, war trotz des Mistwetters wie vereinbart zweimal über den Parkplatz gelaufen und dann unter einen mächtigen Ahornbaum geflüchtet, hatte vor Kälte gezittert und gehört, wie der Regen auf die Plastiktüte trommelte, die er sich kurz nach seinem Eintreffen über den Kopf gezogen hatte. Der böige Wind hatte an den Ästen und den Peitschenlaternen gezerrt, in deren Licht die Wasserfäden über den trostlosen Parkplatz des Ausfluglokals schleierten. Die lichtlosen Fenster waren ihm wie Mündungslöcher drohend auf ihn gerichteter Gewehrläufe erschienen. In jenem Augenblick war er noch nicht ganz durchweicht und trotz aller Zweifel voller Hoffnung gewesen, der Kerl, dessen weiche Singstimme lasziv wie die einer kobernden Nutte geklungen hatte, würde Wort halten und mit dem Honigstückchen des versprochenen Anfangsbeweises auftauchen.

Nach zwanzig Minuten nervenden Wartens hatte er ihm wegen des schlechten Wetters und der katastrophalen Sichtverhältnisse weitere zehn zugebilligt und noch einmal fünfzehn Minuten mit der fadenscheinigen Begründung angehängt, wegen des plötzlichen Unwetters sowieso nicht weg zu können. Er hatte nach unzähligen Versuchen endlich eine Zigarette anzünden können und wenigstens zur Hälfte rauchen können, ehe das Wasser sie in unzählige braune Fäden zerlegt hatte. Seine Hoffnung war einem dumpfem Zorn gewichen.

Grotejohann hatte aus schmalen Augen versucht, die Regenwand zu durchdringen, die wehenden Büsche, den zuckenden Wald, die treibenden Wolken, das Blitzen und Glitzern des Wassers. Es war hoffnungslos gewesen. Kalte Schauer waren ihm über den Rücken gelaufen, er hatte die klammen Hände gegeneinandergeschlagen und sich in einem fort befohlen, ganz ruhig zu bleiben. Keine verdammte Schwuchtel lässt sich eine solche Geschichte einfallen, um dir eine Stange über den Schädel zu ziehen. Da muss einfach was dran sein und du musst, verflucht noch mal, einfach Geduld haben. Geduld, Geduld, Geduld! Er hatte die tröstliche Nähe des Baumstamms in seinem Rücken gespürt und sich wegen seiner Masse und seiner nahezu zwei Meter in einer nicht ganz hoffnungslosen Position gefunden. Nur dumm, dass er die versprochenen achttausend Euro Honorar in der zerweichten Hose hatte. Aber darauf hatte die Singstimme bestanden. Weitere achttausend und keinen Cent weniger, und Sie warten um genau Mitternacht da auf dem Parkplatz und kommen alleine. Dann laufen Sie zweimal quer über den Platz. Das will ich zu meiner Sicherheit. Denken Sie sich keine Tricks aus und halten Sie sich immer vor Augen, dass Sie eine solche Story niemals wiederkriegen: Fleisch für die Götter! Und was für ´n Fleisch, der echte Wahnsinn ist das! Und alles total belegt, kein Fake, verstehen Sie? Richtig gutes Material!«

Grotejohann hatte gewartet und gefroren und geflucht, bis ihm klar geworden war, dass es keinen Sinn mehr machte. Entweder war er einem üblen Scherz aufgesessen oder dem Informanten war irgendetwas dazwischengekommen. Vielleicht das verdammte Wetter, das für einen August so ungewöhnlich wie ein Hitzestau im Januar war.

Wie dumm, dass er das Geld mitgenommen hatte. Aber darauf hatte die der Typ bestanden. »Achttausend« Und Sie kommen alleine. Sie laufen zweimal über den Platz. Keine Tricks! Solch eine Story kriegen niemals wieder. Fleisch für die Götter! Und was für ´n Fleisch!«

Grotejohann hatte gewartet und gefroren und geflucht, bis ihm klar geworden war, dass es keinen Sinn mehr machte.

Auf dem Rückweg war ihm das Polizeiaufgebot aufgefallen. Und dann war er auf Reineking und dessen Brandopfer gestoßen. Ob es zwischen den beiden Sachen einen Zusammenhang gab?

Das Telefon klingelte.

»Ich habe Namen und Adresse des Taxifahrers, der den Blonden zu der Gurtner gefahren hat. Soll ich ihn befragen?«

»Nicht telefonisch. Fahre mit ihm und versuche heraus zu finden, ob er unseren verwundeten Maschinenmenschen kennt. Wo er ihn abgeholt hat undsoweiter. Wahrscheinlich war das aber nur ein von Gewissenbissen geplagter Gerichtsvollzieher oder so.«

»Erstens gibt ´s die nicht, zweitens, glaub ich, kommen die immer morgens. Also was soll ich tun?«

»Ist die Denkmalgeschichte draußen?«

»Seit langem.«

»Okay, dann versuch es mit dem Taximenschen. Schaden kann es nicht.«

Er legte auf. Die junge Frau in der etwa zwanzig Meter entfernten Küche aß das eilends Gekochte aus einem Plastikschälchen. Grotejohann zündete sich eine Zigarette an. Der reine Irrsinn, die Menschenopfer-Geschichte. Überhaupt Irrsinn, womit sich vernunftbegabte Wesen beschäftigten. Mit angeblich heilenden Steinen, Hexenpraktiken, Satanismus und Erleuchtung, es gab wenig, was die Leute ausließen, und alles, um die vermeintlich unausweichlich geschundene Seele wieder auf Vordermann zu bringen. Auch er sehnte sich danach, den letzten Bericht zu schreiben, sich nach Andalusien abzusetzen, wo er die verbleibenden Lebensjahre Bücher fabrizierend und zwanglos lebend zu verbringen gedachte. Ohne Stress, ohne Gejagtsein, mit kleinem Boot, süßer Freundin und Hund, ganz spießbürgerlich und vor allem in seliger Ruhe. Wenn dieser verdammte Deskin ihn nur nicht so elend auf den Topf gesetzt hätte!

Er seufzte.

Als Kind hatte er davon geträumt, als allseits bewunderter Starreporter durch die Welt zu reisen. Reporter war er auch geworden, aber über Westfalen war er nie weit hinausgekommen. Und mit der Bewunderung war es auch nicht so weit her. Journalisten, empfand er schmerzlich, standen in der Ansehensskala noch hinter den Müllwerkern. Nach einundzwanzig Jahren abhängiger Arbeit in Lokalredaktionen war der Traum von der großen weiten Welt einer immer nervigen Alltäglichkeit und dem Wunsch nach einem Zustand gewichen, in dem er wenigstens das Gefühl einer gerechteren Bezahlung haben konnte.

Er nahm eine Veränderung wahr. Das Licht in der Küche war erloschen. Das Mädchen erschien im Wohnzimmer, machte sich am Fenster zu schaffen. Ein Lamellenvorhang fiel nach unten. Wenig später tanzten blaue Lichtreflexe auf den metallenen Fächern. Die Gurtner hatte es sich offensichtlich vor dem Fernseher bequem gemacht.

Grotejohann gähnte und warf den Zigarettenrest auf den Parkplatz.

Eine halbe Stunde noch, sagte er sich, dann verabschiedest du dich für heute. Er lehnte sich zurück und griff mit schlechtem Gewissen nach einer weiteren Zigarette.

7

Die Strecke über Bad Oeynhausen zu seinem Haus in Uffeln fuhr Reineking, ohne sich später daran erinnern zu können. Der Tag ließ sich nicht wie gewöhnlich abschalten, die Bilder blieben, die Gedanken, der Geruch des verbrannten Fleisches, die Kälte und Müdigkeit und ganz besonders die Vorstellung, wie das Opfer gelitten haben musste, als das Feuer es im wahrsten Sinne des Wortes bis auf einen kümmerlichen Rest verzehrte. Das Private wollte sich trotz der alltäglichen Rituale nicht einstellen, die Fantasie drängte die Objektivität des Kriminalisten vehement an den Rand, erzeugte Gefühl bewegende und schreckliche Bilder, die stärker als Routine und Abgebrühtheit waren.

 

Magdalena, seine Tochter, hatte im Wohnzimmer die Rollos heruntergelassen. Das Signallämpchen des Anrufbeantworters schnitt rotleuchtend ins Dunkel. Reineking schaltete das Licht ein, kniff die Augen zusammen und entdeckte den linierten Zettel auf dem Fußboden.

Drei rote Herzchen. IHDL.

»Ich dich auch«, murmelte er und warf einen Blick auf ihr Foto, das in einem Fach des Bücherregals in Silber gerahmt stand und sie im Alter von neun Jahren mit langem blondem Haar und die Lippen wölbender Zahnspange zeigte. Ein trotziger Blick, vorgerecktes Kinn. Sie hatte geweint, erinnerte er sich, weil sie mit der verunstaltenden Zahnkorrektur nicht fotografiert werden wollte. Ihre Mutter hatte sie wie üblich bestochen und es wir haben uns geeinigt genannt, hatte mit der alten Pentax geknipst, weil Omi und Opa doch drauf warten und ich ihnen versprochen habe, dass sie regelmäßig die Bilder kriegen.

Neben den drei Herzen befand sich ein dünner Pfeil. Reineking wendete den Zettel. Fein säuberlich waren Anschrift und Telefonnummer in Magdalenas zierlicher Schrift niedergeschrieben, darunter: »Ich rufe dich an, sobald wir eingetroffen sind, und denke mal darüber nach, was du heute beim Frühstück versäumt hast!!!«

Er legte den Zettel neben das Telefon, drückte nach kurzem Zögern die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters und hörte die beiden Nachrichten ab. Eine Saskia für Magdalena mit guten Grüßen für die Reise und ruf zurück, wenn du wieder im Lande bist, einer für ihn: »Hör zu, du Wichser, da läuft einer rum, der dir die Eier mit ´nem stumpfen Dolch abschneiden wird. Ort und Zeit bestimmen wir, du Drecksau, du dreckige!«

»Du mich auch«, sagte Reineking und löschte die Meldungen. Drohanrufe nahm er schon seit langem nicht mehr ernst, obwohl es im Präsidium eine Vorschrift gab, jeden einzelnen aufzuzeichnen, und zwar mit der Begründung, das unter zehn Bluffern ein ernst zu nehmender Irrer sein könnte. Den heutigen ordnete er den Spinnern zu.

Durch die große Wohnzimmerscheibe sah er das riesige Kraftwerk mit den drei bis in die Wolken ragenden Schornsteinen. Wind zerrte an den Büschen im Garten. An der Wäscheleine schwang der blaurote Klammerbeutel neben flatternden Socken, die er als seine identifizierte.

Er ließ den Bademantel im saunaartig aufgeheizten Badezimmer und stieg über die schmale Wendeltreppe ins großzügig ausgebaute Obergeschoss. Als er das ehemalige, seit dem tragischen Geschehen von ihm verschlossene Schlafzimmer passierte, beschlich ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das beklemmende Gefühl, von ihr aus wunden, anklagenden Augen beobachtet zu werden. Überdeutlich sah er ihr leidendes Gesicht, diese trotz der darin zuckenden Schmerzen wunderschöne Maske aus Schuld und Anklage, die - je mehr sich ihr Ende näherte - verschlossener wurde, wie ihre Sinne, wie ihr Körper, der selbst dann zusammen zuckte, wenn bei Tisch ein Glas oder ein Teller zu reichen war.

Wie bei einem gefangenen Vogel begann dann ihr Herz zu rasen, die Halsschlagadern schlugen sichtbar unter der hektisch geröteten Haut, in die Augen trat dieses unstete Flackern, wie bei einem verzweifelten, in die Enge getriebenen Tier, das vergeblich einen Fluchtweg sucht. Nur das Korsett ihrer seit Kindesbeinen von strengen Eltern eingeübten Disziplin verhinderte den Ausbruch ihres seelischen Drucks, und das nur, weil Magdalena anwesend war. Dass sie ihn fürchtete, und dass er der Anlass ihrer Panikattacken war. Aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte und die sie trotz häufiger Versuche nicht erklären wollte.

Die ersten Anzeichen dieser Entwicklung waren etwa ein Jahr vor der Katastrophe aufgetreten, als sie nach Jahren fanatisch betriebener Selbsterfahrungsabenteuer, esoterischer Erkundungen und spiritueller Experimente zurück in den Schoß einer Kirche fand, die sich Der Hort der auserwählten Kinder Gottes nannte und die ihre als Bibelstunden bezeichneten Gottesdienste im Hinterhof einer Lackiererei abhielt. Für ihn war es nichts weiter als eine weitere Stufe auf der Treppe der Suche nach der mir innewohnenden göttlichen Kraft. So etwas wie die neue und endgültige Diät, die sie dauernd aus sportlichem Ehrgeiz oder spielerisch-ironisch probierte und mit der nicht nur die Pfunde, sondern auch die jung machende Gelassenheit des Seins erreicht werden konnte. Jedenfalls bis zur nächsten aus den Verlagshäusern heraus schwappenden und von ihr trotz ihrer spöttischen Kommentare sehr ernst genommenen Welle. Für seine attraktive und keinesfalls übergewichtige Frau war dieses Neue offenbar die Erfüllung, der Weg und das Ziel zugleich. Auf Kosten des Salzes in der Suppe, der bis dato ohne nennenswerte Krise geübten beständigen und bisweilen geradezu eruptiven Freude an der Sexualität.

Mit ihr war es ein Abtauchen in die Welt der Schwerelosigkeit gewesen, immer wieder ein hemmungsfreier Rausch, ein Sichauflösen und ein Verschmelzen in einen Zustand seligmachender Lust, die ihre Grenze in der körperlichen Erschöpfung fand. Er hatte sich als Privilegierter gefühlt, angesichts der vielen ehegeschädigten Menschen in seinem Bekannten-, Kollegen- und Freundeskreis als Insel im Meer der Bitternis.

Ihre ersten Verweigerungen hatte er mit größtem Verständnis und ohne Frage hingenommen, den späteren akzeptable Motive unterstellt und selbstverständlich die einer geliebten Frau gebührende Rücksicht genommen. Jedenfalls bis zu jenem Zeitpunkt, als ihm der Verdacht kam, dass zwischen ihrem ablehnenden Verhalten und ihrer intensiv gelebten Religiosität ein Zusammenhang bestand.

Er hatte sie beobachtet, ihren oft abwesend erscheinenden Blick, jenes Insichgekehrtsein, das Bewegen ihrer Lippen, wenn sie sich alleine fühlte und ihren Gott anrief, der ihr Angst machte und der ihr dennoch näher als die Familie zu sein schien.

Er litt wie unter heftigen Schlägen, wenn sie auf die Knie fiel und die Hände vor das freudlos gewordene Gesicht schlug und in leisen Tönen Gnade für Sünden erflehte, derer sie sich schuldig gemacht zu haben glaubte. Die ihr jedoch, dessen war er sicher, offensichtlich während der häufig besuchten Weihestunden indoktriniert worden waren. All das, was sie zuvor mit aus Liebe geborener Leidenschaft ausgelebt hatte, war für sie zum Albtraum geworden.

Seinen Fragen begegnete sie mit einem bestimmten wissenden Lächeln, das, je tiefer sie sich in ihre Überzeugungen verstrickte, von höhnischen und bisweilen auch feindseligen Blicken begleitet war. Er hatte den sicheren Eindruck, als sei sie einer Gehirnwäsche unterzogen und auf seine Argumente sorgfältig vorbereitet worden. Sie befand sich in einer anderen Welt, die sie, ganz offensichtlich in der Furcht einer kommenden Strafe, hermetisch verschlossen hielt.

Und er sah sich draußen, sah sich hilflos und unfähig, Zugang zu ihr zu finden, zu dieser Welt, die ihm nicht nur fremd, sondern unerklärlich war. Er lernte später von Psychologen und Sektenexperten, dass er alles, aber auch alles falsch gemacht hatte, aber auch, dass der Geist eines Menschen von einem Glaubenssystem in Haft genommen werden kann.

Mit der gleichen Intensität und Bedingungslosigkeit, mit der sie ihre Sexualität gelebt hatte, stand sie zu ihrem Glauben. Insoweit, dachte er bitter, war sie sich bis zu ihrem fürchterlichen Ende an jenem so hoffnungsvollen letzten Tag des Jahres treu geblieben.

Es war ein sonnendurchfluteter Tag mit klirrendem Frost gewesen, ein Tag, an dem schon am frühen Morgen von Kindern gezündete Knaller die Luft mit dem Geruch verbrannten Schießpulvers schwängerten und die Menschen vor den Getränkeoasen und den Kassen der Supermärkte Schlange standen, als wäre eine Krise ausgebrochen. Es war kurz nach Mittag, als seine Frau nach unten kam und ihn fragte, ob genügend Sekt für den Jahreswechsel im Hause wäre. Als er verneinte, hatte sie ihn um die Autoschlüssel gebeten. Sie war erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt, hatte die Flaschen in den Kühlschrank und ein Paket schwerer Böller ins Schlafzimmer geschlossen, offenbar, um zu verhindern, dass Magdalena darauf aufmerksam wurde. Sie war - da blitzte ihr früheres Wesen durch - vollkommen gelöst, als hätte es niemals einen Konflikt zwischen ihnen gegeben, hatte oft gelacht und ihn gebeten, eine der Flaschen zu öffnen.

»Magdalena«, hatte sie gesagt, »bleibt bei den Haarmanns. Ich war drüben und habe Heidrun darum gebeten, um mit dir in Ruhe sprechen zu können, wenn du es denn über dich bringen könntest.«

Er hatte ihr eingeschenkt, wortlos ihr schmales, zerquältes Gesicht betrachtet, die Augen, die einst so voller Feuer gewesen waren, hatte sich, von der Erinnerung an ihre explosiven Ausbrüche in höchsten Alarm versetzt, gefragt, welche Vorwürfe ihm nun wieder entgegen schlügen, bereit, sich ihnen entweder zu entziehen oder sie abzuwehren. Aber sie hatte in aller Ruhe getrunken, war dabei auf und ab gegangen, offensichtlich bemüht, die ihrem sicherlich sorgfältig vorbereitetem Konzept entsprechenden Worte zu finden, hatte schließlich von Monaten zugefügter Qualen und von ihrem Entschluss gesprochen, dieser Unerträglichkeit jetzt, da uns ein neues Jahr bevorsteht, ein Ende zu bereiten.

Sie hatte verführerisch gelächelt, nach seiner Hand gegriffen, in den Augen jene Nachgiebigkeit, die ihn so sehr erregt hatte, wenn orgiastische Lust ihren Körper erzittern ließ. Trotz allen Verletztseins der letzten Monate hatte er ein Verlangen gespürt, dem er nicht hatte widerstehen können. Er war ihr ins Schlafzimmer gefolgt, hatte sich entkleiden lassen und sie nach einem langen Vorspiel heftig und rauschhaft geliebt, überwältigt von dem befreienden Gefühl, endlich dem zerstörerischen Albtraum entronnen zu sein.

Sie war ermattet und wortlos liegen geblieben, hatte ihn aus großen und wie er glaubte, wieder erfüllten Augen angesehen, glücklich und ihrem Gefängnis entronnen. Vor Schwäche taumelnd war er ins Bad gegangen, hatte unter der rauschenden Dusche gestanden, als der ohrenbetäubende Doppelknall das Haus erschütterte.

Vor Nässe triefend war er ins Schlafzimmer gerannt, hatte schon im Flur das verbrannte Sprengpulver gerochen, im beißenden Rauch das verspritzte Rot und Schwarz auf den Wänden, den Scheiben, dem Bett gesehen. Und dann seine Frau: Beide Hände zwischen den Beinen, das Gesicht vor Schmerz zerrissen, die Lippen zerbissen, die Augen qualvoll auf die Zimmerdecke gerichtet, während ihr Blut in heftigen Schüben aus ihrem Schoß auf das vom Feuer geschwärzte Laken schoss.

Sie war vornübergefallen, in diesen See aus Blut, und in grotesker Weise wieder hoch gekommen, hatte ihn, als er nach ihr griff, trotz des unsäglichen Schmerzes triumphierend angesehen und war laut seufzend in sich zusammen gesunken.

Er hatte nie erfahren, wer die Kollegen benachrichtigt hatte, ob er es selbst oder ein aufmerksamer Nachbar gewesen war, auch wusste er nicht mehr, was er nach dieser letzten Wahrnehmung unternommen hatte. Nur Schmerz war gewesen, in ihm, um ihn, in allem, das ihn umgab: Magdalena war die verkörperte Anklage gewesen. Und die Untersuchungen hatten zu Tage gefördert, dass seine Frau sich einen der schweren Böller in die Vagina gepresst und gezündet hatte. Um den Satan, der die Welt und mich regiert, zu besiegen, wie es in dem offenbar lange vor dem Selbstmord geschriebenen Abschiedsbrief geheißen hatte.

Aus diesem Satz hatte der den Fall untersuchende Staatsanwalt von Vennebeck den Schluss ehelicher Spannungen gezogen und weitere Untersuchungen veranlasst. Recht eigenwillig interpretierte Aussagen von Nachbarn und besonders mehrerer Sektenmitglieder waren bis zum Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens gediehen, glücklicherweise aber vom zuständigen Gericht geradezu zerpflückt worden. Das hatte Herrn Staatsanwalt aber nicht sehr beeindruckt. Er hatte er es nie für nötig gehalten, sich für seine hanebüchene Anklage zu entschuldigen.

Reineking ging, die entsetzlichen Bilder vor Augen, weiter. Sein Kleiderschrank befand sich aus Platzgründen im ehemaligen sogenannten Bügelzimmer des Obergeschosses, dessen übrige Fläche einschließlich des Badezimmers von Magdalena genutzt wurde. Er hatte sich unten eingerichtet, aus Kinder- und Arbeitszimmer eine eher chaotische Wohnhöhle ohne Fernseher, aber mit einer guten Musikanlage und vielen Büchern, jedoch ohne Erinnerungsstücke geschaffen.

Der Flur lag im Dunkel, aus Magdalenas Schlafzimmer drang Lichtschein. Offenbar hatte sie vergessen, eine Lampe auszuschalten. Er ging hinein und sah, dass die Nachttischleuchte eingeschaltet war. Er ging darauf zu, griff nach dem Kabelschalter, um das Licht auszuschalten, als ihm der Satz »Der wahre Messias - das Geheimnis des Heiligen Gral« in goldener Schrift entgegen blitzte.

 

Er schüttelte sich, glaubte einen Augenblick lang, durch eine von seinen düsteren Erinnerungen erzeugte Halluzination genarrt zu sein, bis er begriff, dass die jäh in sein Bewusstsein gedrungenen Worte der Titel einer auf dem Nachttisch neben Johannisbrot liegenden Broschüre waren. Wolfram und die Suche nach dem Gral, dachte er mit wehmütiger Erinnerung an die Zeit, als sie den Parsifal in der Schule nicht nur durchgenommen, sondern in Teilen auswendig gelernt hatten. Und er dachte daran, dass er jetzt in dem Alter war, in dem sein damaliger Deutschlehrer ihm den nie vergessenen Satz sagte: Wir Menschen unterliegen in der Betrachtung des Seins einem großen Irrtum, dem Irrtum der Zeit. Nicht sie vergeht, wir sind es, die vergehen.

Auf dem Weg in sein Zimmer rezitierte Reineking laut und mit dem damals eingeübten falschen Pathos, verwundert darüber, dass er die Verse noch kannte:

Wenn Wankelmut beim Herzen wohnt,

Wie das mit Leid die Seele lohnt!

Denn scheckig nach der Elstern Art

Ist, wer die Treu mit Untreu paart,

Mit Schmach die Ehre, Fluch mit Heil:

An ihm hat Höll‘ und Himmel teil.

Das Telefon klingelte. Er meldete sich.

»Es sieht verdammt gut aus«, sagte Termöhlen, »wir haben ihn so gut wie.«

»Ich komme sofort«, sagte Reineking wie elektrisiert.

»Nee, lass mal, das kriegen wir schon hin!«

»Quatsch, ich brenne darauf, zu erfahren, wie er die Sache gedreht hat.«

Termöhlen lachte meckernd.

»Wir haben natürlich nicht den Täter, sondern den Handybesitzer, das heißt, eigentlich nur die Vertragsdaten.«

»Wieso Besitzer? Hatten wir es nicht mit einer Frau zu tun?«

»Ist ein Mann, ein ganz schlicht gestrickter: Fliesenleger, verheiratet, mit Vorgarten und Garage, haben mir die Kollegen vom zuständigen Revier versichert, und hat noch nie was mit uns zu tun gehabt. Kann ja der andere, der Begleiter gewesen sein.«

»Ist nicht wahr, oder?«

»Das Staunen ist ganz meinerseits.«

»Und genau dieser turnt gegen Mitternacht mit ´nem jungen Mädchen da oben am Denkmal rum?«

»Macht der Johannestrieb.«

»Ich bitte dich! Auch wenn der Johannes ihn tatsächlich getrieben hat, passt der nicht ins Bild. Wie genau sind denn die Daten?«

»Kein Zweifel möglich. Das war das einzige Handy, das aus dem Umkreis des Denkmals die Zentrale angerufen hat. Sollen wir ihn festnehmen?«

»Auf keinen Fall! Erstens ist es dafür nach den gesetzlichen Vorschriften zu spät, zweitens ist keine Gefahr im Verzuge und drittens können wir nach allem, was uns vorliegt, nur davon ausgehen, dass es sich um einen Zeugen handelt. Nein, nein, das lassen wir, könnte ja sein, dass der Mann Inhaber des Vertrages ist, das Telefon aber von seiner Tochter oder Enkelin oder was weiß ich wem benutzt wird. Insoweit sollten wir Bescheid wissen, ja?«

»Ich schiebe ja noch Dienst.«

»Okay, Hennes, so wie es steht, bleib ich im Feierabend. Trotzdem Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast. - Was hat übrigens die Befragung der Anwohner am Denkmal ergeben?«

Termöhlen räusperte sich.

»Absolut nichts, das uns weiterhelfen könnte. Autos, Motorräder, die haben alles gesehen, aber eben ohne jedes verwertbare Merkmal. In zwei Häuser fanden wir keinen Zugang. Eine echte Pleite, wenn du mich fragst.«

»Es war den Versuch wert.«

»Wehner ist noch mal zurück wegen der Nichtangetroffenen.«

»Gut. Wir sehen uns dann morgen um zehn. Bis dann.«

Er legte auf.