Pforte des Todes

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2

Jakob beobachtete sie, ihr feines, an griechische Statuen erinnerndes Profil. Eine klassisch schöne Nase, leicht gewölbte Lippen, auf denen sich der Widerschein der Scheinwerfer spiegelte. Das Haar trug sie kurz. Helle, krause Locken, die in ihre leicht gewölbte Stirn fielen und im Fahrtwind wehten.

»Magdalena«, sagte er, die rechte Hand auf dem blutigen Verband, »darf ich dir eine intime Frage stellen?«

»Sie dürfen mich alles fragen«, sagte sie. Aber in ihrer Stimme war ein Zittern, wie er mit Genugtuung feststellte. Die Lichtkegel, vom Regen perforiert, schnitten in den bewaldeten Berg, als der Wagen eine steile Kurve durchfuhr.

»Was ich gerne wissen möchte, ist, ob du jemals mit einem Mann geschlafen hast.«

Sie biss sich auf die Lippen.

»Ich frage aus lauterem Interesse«, sagte Jakob, »und du musst mir nicht antworten.«

Licht fiel von einem entfernt hinter ihnen fahrenden Auto ins Innere.

»Nein«, sagte sie leise, »das habe ich nicht, so wie ich es geschworen habe.«

»Ich frage dich im Angesicht des wahren Gottes.«

»Ich bin unberührt«, sagte sie, »und ich möchte es auch bleiben.«

Blaulicht zuckte jäh auf. Jakob zuckte zusammen und wandte sich erschreckt um. Ein schweres Fahrzeug, auf dem Dach ein mobiles Warnlicht, setzte zum Überholen an.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte das Mädchen verunsichert.

Jakob schüttelte den Kopf. Er unterdrückte ein Stöhnen. Instinktiv tastete er nach dem Skalpell in der Jackentasche. Der hinter ihnen fahrende Wagen zog mit heulendem Motor vorbei, nahm die Höhe mit sich steigernder Geschwindigkeit und stieß mit grellen Bremslichtern, die den Nässedunst zu einer Wolke aufblähten, in die nächste Kurve.

»Es hat nichts mit uns«, sagte Jakob und stieß den angehaltenen Atem aus, »es hat mit dem Licht vom Wilhelmsdenkmal zu tun. Fahre bitte langsamer.«

Magdalena schaltete in den zweiten Gang.

»Sie wollen nicht zum Denkmal?«

»Fahre rechts ab, wenn du den Hinweis auf die Wittekindsburg siehst.«

Zwei Minuten später holperte der kleine Wagen über den matschigen Waldweg, der steil zum Hotel hoch führte. Bei jedem Schlag biss sich Jakob auf die trockenen Lippen. Als sich der Weg teilte, dirigierte er das Mädchen nach links.

»Traust du dir zu, nur mit Standlicht zu fahren?«

»Warum soll ich?«

Er spürte ihre Angst. Er berührte ihre Schulter.

»Du darfst keine Angst haben, Magdalena, du musst mir vertrauen.«

»Ich vertraue Ihnen ja, aber ...«

»Ich möchte nicht, dass die Leute vom Hotel von unserem Licht gestört werden.«

Sie schaltete den Scheinwerfer aus. Der Weg lag jetzt in einem diffusen Licht, die Bäume und Sträucher schienen im herabfallenden Regen zu leben. Der Wischer hetzte über die Scheibe.

»Noch etwa zweihundert Meter«, sagte er, »dann kommt ein nicht ausgewiesener kleiner Parkplatz. Da fahre hinein.«

Noch während er sprach, beugte er sich nach hinten und zog aus jener Tasche, mit der er aus dem Haus gekommen war, eine große Handlampe und ein etwa vierzig Zentimeter langes Brecheisen. Als er seinen Oberkörper zurückschwang, bemerkte Magdalena, dass sein weißer Halsverband, der von einem breiten Pflaster durchtrennt war, sich rot verfärbt hatte.

»Sie bluten«, sagte sie erschreckt und trat unwillkürlich auf die Bremse.

»Ich hatte einen Unfall«, erklärte er leise, deutete mit der linken Hand nach vorne, wo links das Hotel Wittekindsburg lag und sich rechts hinter einer Buchenbaumreihe eine dunkle Einfahrt auftat. »Da hinein, bitte.«

Sie gehorchte.

»Das Hotel«, sagte Jakob, »ist etwa fünfzig Meter weiter vorne hinter den Büschen. Ich werde nicht lange fortbleiben. Vielleicht eine halbe Stunde. Bitte warte auf mich. Und habe keine Angst.«

»Nein«, sagte sie.

»Wo ist der Innenlichtschalter?«

Sie zeigte es ihm.

»Schalte ihn aus. Ich möchte nicht, dass die Beleuchtung angeht, wenn ich aussteige.«

Er nahm die Lampe und das Brecheisen, öffnete den Schlag. Als es dunkel blieb, nickte er zufrieden.

»Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte er, »du bist eine Getreue. Und die Getreuen werden belohnt.«

Eisen schlug gegen Eisen. Die Tür fiel ins Schloss. Magdalena sah den dunklen Schatten, der sich gebeugt und humpelnd in die nasse Nacht bewegte und zwischen hohen Sträuchern verschwand. Ein dünnes Licht schimmerte von links, von dort, wo das Hotel lag. Magdalenas Gedanken rasten. Sie dachte an das Brecheisen, an die Lampe, an das Blut, das den Halsverband nässte und gegen ihren Willen daran, das Auto zu wenden und zu flüchten. Aber sie blieb, lauschte auf das Trommeln des Regens und raffte sich schließlich dazu auf, die Türstifte nach unten zu drücken.

***

Das Hotel, von einer schwachen Außenlaterne beleuchtet, ragte links von Jakob auf. In den vor Nässe triefenden Bäumen rauschte der Wind. Ein kalter Schauer überlief ihn, als ihn einige Meter hinter der ohne Mühe überwundenen Wegsperre das Geäst eines Strauches streifte und mit einem Schwall Wasser übergoss. Er wich zurück, bis er den steinigen Weg unter seinen Schuhen spürte und ging weiter, das Brecheisen fest umklammernd. Nach gut einhundert Metern sah er vor sich die aus roh behauenen Steinen erbaute Kapelle als düsteren Schatten vor dem helleren Himmel. Und in diesem Schatten bemerkte er einen schmalen Lichtstreifen.

Er hielt den Atem an. Seine Rechte umklammerte das Brecheisen. In ihm blitzte die Hoffnung auf, Deskin läge ob seines Frevels als sichtbares Zeichen des göttlichen Zorns zertrümmert in der kleinen Kartause.

Er lief los. Seine unregelmäßigen Schritte ließen ihn grotesk schwanken. Der Weg ging in Wiese über, öffnete sich links zu einem Feld. Vor ihm Büsche, die Kapelle, das Licht verschwand, tauchte erst wieder auf, als er schwer atmend vor dem kleinen Portal angekommen war und, das Brecheisen zum Schlag erhoben, innehielt.

Die schwere, eisenbeschlagene Holztür war geöffnet. Wasser stand dunkel im Eingangsbereich. In ihm brach sich das schwache Licht einer Taschenlampe, die vor den Stufen des Altars lag.

Er lauschte.

Das Rauschen des Windes. In Lachen fallendes Wasser. Sein pfeifender Atem.

Jakob trat über die Schwelle. Er blickte nach links. Er sah die heraus gebrochenen Steinplatten, das polierte Holz des Sarges, der in der schmalen Gruft inmitten des Raumes zu sehen war, den weißen Stoff des Kleides. Ihm war, als schlösse sich eine eiserne Klammer um sein Herz. Er spürte Feuer in den Eingeweiden, hatte das Gefühl, von den Beinen gerissen, empor und gegen den Altar geschleudert zu werden.

Dicht vor sich sah er ein schwarzes, eckiges Gehäuse mit einem gelben, runden Schirm. Dahinter die Sandsteinstufen, den Altar, die Vasen, die er selbst hineingestellt und mit lange blühenden Sträuchern gefüllt hatte, um nicht jede Woche auf den Berg fahren zu müssen. Er drehte den Kopf. Der Eingang, die schmucklosen Wände, das Isis Bild, die aufgehobenen Bodenplatten, die im Schein der Lampe mächtiger erschienen als sie tatsächlich waren. Es war nicht schwer gewesen, sie von der darunter liegenden Gruft zu heben, den recht großen Raum von dem modernden Holz, den Knochen zu befreien, sie würdig in die dafür vorgesehenen Nischen zu bestatten und Boden und Wände zu säubern, um das neue Behältnis einzufügen, in dem der junge Körper lag.

Jakob betrachtete den offenen Sarkophag, den unter den weißen Tüchern zu erahnenden Körper. Unter der Hülle zeichneten sich deutlich die auf der Brust gefalteten zarten Hände ab, über denen das Symbol der Wiederkehr lag, der Speer mit dem Kopf und den unterschiedlichen Säulen. Der Kopf war frei. Dort war das Leinen zerschnitten und auseinandergezerrt worden. In der Öffnung hob sich in mattem, durchscheinenden Glanz das Gesicht der jungen Frau heraus, die Lider offen, auf den Lippen der Eindruck eines wissenden Lächelns.

Jakob stöhnte. Er heulte laut auf und begriff, dass Judas Deskin ihn und damit die gesamte Menschheit um den Lohn aller Mühen, um die letzte Erkenntnis gebracht hatte.

»Deskin!«

Seine Stimme hallte an den Wänden wieder. Der Raum, erkannte er, war leer, das Portal offen. Jakob sah seine Schuhabdrücke, die aus der Nässe vor dem Eingang bis in den Bereich der zweiten Taschenlampe und des mitgebrachten Brecheisens reichten.

Er nahm Lampe und Eisen an sich, richtete sich auf und bewegte auf die Gruft zu. Er starrte in die Öffnung, auf den mit weißer Seide ausgeschlagenen Sarg und die in einem durchscheinenden, Gold gebördelten Tuch Eingehüllte.

Das Mädchen schien zu leben, die Augen - er war sicher, dass ihre durchscheinenden Lider bei der Bestattung geschlossen waren – glänzten und gaben dem schmalen Gesicht den Ausdruck tiefsten Friedens.

Er kniete nieder und senkte den Kopf. Sein Herz raste, das Blut pulste in seinen Ohren. Der Oberkörper schwankte vor und zurück. Er schlug sich in ohnmächtiger Trauer mit beiden Fäusten vor die Brust, während sein Blick sich nicht von dem Gesicht des Mädchens lösen konnte.

Minuten lang verharrte er wie im stillen Gebet, richtete sich dann abrupt auf und begann zielstrebig, die Tücher zu richten und die Gruft mit steinernen Platten zu verschließen.

Er prüfte seine Arbeit. Bis auf einige Sandreste, die er mit den Füßen verstreute, war alles wieder so wie zuvor. Er tastete nach dem Skalpell und spürte die Schärfe der Klinge. Deskin, er war sicher, würde für seinen Frevel vom Erdboden getilgt werden.

***

»Ich hoffe, du hast dich nicht geängstigt«, sagte er, als er das Auto erreichte und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

 

»Angst hatte ich schon«, gestand das Mädchen mit flacher Stimme.

»Kein Verbrecher ist so dumm, nachts im Wald auf Beutezug zu gehen«, sagte Jakob. »Außerdem stehen wir, wie du weißt, unter besonderem Schutz. - Hast du je von dem da-Vercelli-Protokoll gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich werde dir davon erzählen. Aber fahre bitte.«

»Zurück zu Ihnen?«

»Nur bis Bad Oeynhausen«, sagte er und warf Taschenlampe und Brecheisen auf den Wagenboden.

Magdalena startete den Motor, setzte zurück und fuhr an.

»Er war Notar, dieser Sicci da Vercelli«, sagte Jakob leise. »Notar eines Ordens, der in Jerusalem begründet worden war und zu jener Zeit schwere Zeiten zu durchstehen hatte. Geschrieben wurde das Jahr 1311 und es war der 1. März, als da Vercelli seine durch Folter und Todesdrohung erzwungene Aussage machte. Dabei ging es um ein vermeintliches oder tatsächliches Geschehen in einem Ort, der auch heute noch Sidon heißt. Er berichtete, in dieser Stadt habe ein Adliger, ein Ritter gelebt, der sich unsterblich in die Frau eines Armeniers verliebt habe. Niemals, das ist sicher, sei er mit ihr zusammen gewesen, erst als sie gestorben war, habe er sie in ihrem Grab besucht und … Nun, er hat sich an ihr vergangen ... Nach dem er es getan hatte, hörte er über sich eine Stimme. ‚Komm wieder‘, befahl sie ihm, `wenn die Stunde der Geburt gekommen ist. Dann wirst du die Frucht deines Werkes vorfinden. ´«

»Das ist grässlich«, sagte Magdalena und schauderte.

»Der Ritter«, fuhr Jakob wie in Trance fort, »kam wie verlangt an das Grab zurück. Er öffnete es und er fand zwischen den Schenkeln der Frau einen Kopf. Die Stimme erklang wieder. ´Nehme diesen Kopf und hüte ihn. Er wird dir alles in dieser Welt dienstbar machen´.«

»Und das soll wirklich geschehen sein?«

Jakob berührte Magdalenas Haar.

»Es ist eine Legende«, sagte er gegen das Dröhnen des wieder anfahrenden Wagens, »eine Geschichte, die von Inquisitoren im Jahre 1311 für eine Anklage gegen den Templerorden protokolliert worden ist, um zu beweisen, dass die Männer des besagten Ordens mit dem Teufel im Bunde standen und ihre Macht genau diesem zu verdanken hatten.«

»Welch ein Unsinn!«

»Ja, vielleicht«, sagte Jakob und lehnte sich erschöpft zurück.

3

Wehner behauptete später, Reineking habe mindestens zwei Stunden auf der Seitenbank des Einsatzwagens gelegen, habe hin und wieder geröchelt und kurz vor dem Erwachen ein wirres Referat über die Logik der Gewalt gehalten. Reineking selbst hatte das Gefühl, noch nicht mal eingenickt, am Rande des Dahindämmerns und dennoch inmitten des Geschehens gewesen zu sein, alle Geräusche wahrgenommen zu haben, auch jene, die sein Kopf produziert hatte.

»Dr. von Vennebeck hat angerufen«, sagte der Kollege, dessen Augen dunkel unterlaufen waren. »Er wollte wissen, wie sich die Sache entwickelt hat.«

»Und?«

»Ich habe ihm gesagt, was er sowieso schon wusste. Mehr ist ja nicht. Du sollst ihn auf jeden Fall anrufen

»Wieso, wenn er schon alles weiß?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich haben seine Denkmalsfreunde ihn unter Druck gesetzt und er will die Untersuchung beenden.«

Reineking gähnte.

»Die LKA-Giganten haben auch eingepackt«, sagte Wehner nicht ohne Häme, »ziemlich frustriert, wenn du mich fragst. Ich wette, die haben mit ihrer Wahnsinnsapparatur auch nicht mehr herausgefunden als wir.«

Damit angerückt waren sie jedenfalls. In schnieken Anzügen und sehr von sich überzeugt. Auf Reinekings Hinweis, keine Brandhilfsmittel gefunden zu haben, hatten sie ihn belächelt und ihm einen Vortrag über physikalische Gesetze gehalten. Wahrscheinlich war das ihre Art, ihm mitzuteilen, dass sie ihn für einen Deppen hielten.

»Gibt es hier irgendwo Kaffee?«

»Ich habe schon danach geschickt.«

»Mein Gott, bin ich daneben!«, stöhnte Reineking. »Wie spät?«

»Kurz vor elf.«

»Hat die Nachsuche was gebracht?«

»Ich habe kein Freudengeheul gehört. Wenn du mich fragst, haken wir die Geschichte bald als Müllsammelaktion und dann als Unfall oder Selbstmord ab.«

»Den Dicken würd ‚s freuen, ich warte lieber auf den Spruch der LKA-Götter.«

Reineking brauchte gute zehn Minuten, eine halbe Flasche Wasser, mehrere der Sparkaffees und gegen den pelzig-bitteren Mundgeschmack ein Pfefferminz, ehe er wieder einigermaßen aufnahmefähig war. Er streckte die vom ungemütlichen Liegen schmerzenden Glieder, zündete sich eine Zigarette an und freute sich über den ersten zaghaften Sonnenstrahl, der den schwarzgrauen Himmel marmorierte. Selbst der Bronzekaiser schien die Heiterkeit des Seins entdeckt zu haben, obwohl er vom Bauch abwärts in feinem Dunst badete.

Es war feucht und warm, und die Luft, den ganzen Tag über von böigen Winden bewegt, war so lau, dass noch nicht mal das Laub der Bäume raschelte. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel. Das jetzt freundlicher wirkende Gemäuer des gewaltigen Bauwerks, auf dem, erst kürzlich durch Sandstrahlen aufgefrischt, »Wilhelm der Große« in imperialer Fraktur zwischen zwei imponierenden Reichsadler-Wappen eingemeißelt war, erstrahlte in imposanter Pracht.

Reinekings Handy klingelte.

»Endlich!«, hörte er die erleichterte Stimme seiner Tochter. »Im Dienst haben sie nicht sagen wollen, wo ich dich finden könnte. Du meine Güte, ich bin schon vor Hamburg, und die Finger, die habe mir auch wund telefoniert!«

»Tut mir leid.«

»Mir auch. Besonders wegen des guten Frühstücks, das ich uns gemacht habe. Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können!«

»Ich habe dir eine Nachricht auf das Nachtkästchen gelegt.«

»Du hättest mich wecken können.«

»Dann wärst du nicht wieder eingeschlafen.«

»Danke für deine Fürsorge.«

»Wann kommst du zurück?«

»Die Freizeit dauert drei Tage. Wenn also nichts dazwischenkommt, am Wochenende.«

»Kommt was dazwischen?«

»Werde ich mir noch überlegen«, sagte Magdalena kühl und schaltete ab.

»Mann, Mädchen!«, stieß Reineking enttäuscht hervor. Er rückte die grüne Taste seines Geräts, suchte Magdalenas Nummer und wartete ungeduldig auf das Freizeichen.

Wie so viele Menschen, die mit praktischen Dingen zu tun haben und sich als nüchtern und aufgeklärt betrachten, war auch Reineking nicht frei von Ritualen, die er selbst bei näherem Betrachten als abergläubische Relikte definiert hätte. Er war überzeugt, Unglück heraufzubeschwören, sollte es ihm nicht gelingen, seine Tochter zu erreichen und ihre Missstimmung zu beseitigen. Wehner winkte ihm.

Reineking hob abwehrend die linke Hand. »Gleich«, sagte er. Seine Unruhe wuchs. Bitte, Mädchen, rief er seiner Tochter in Gedanken zu, heb doch endlich ab!

Endlich meldete sie sich.

»Entschuldige, das war dumm«, sagte sie. »Aber manchmal behandelst du mich wirklich wie ein Kind.«

»Tut mir leid.«

Früher hatte sie aus solchen Situationen Kapital, ein Geschenk, einen Kino- oder Diskobesuch herausgeschlagen und ihm als Gegenleistung ein nicht von Gewissensbissen freies, aber tröstliches Alibi geboten. Seit dem grässlichen Freitod ihrer Mutter (Reineking fühlte sich noch immer nicht in der Lage, sich seiner Frau durch Nennung ihres Namens zu nähern) hatte sie nach einer langen, gut zwei Jahre währenden Phase heulenden Elends sozusagen über Nacht die Rolle der bemühten Hausfrau erfüllt, sorgsam darauf bedacht, sich in Ausdruck und Erscheinung wie eine gestandene Erwachsene zu präsentieren.

Viel zu spät und erst nach mehreren Psychologengesprächen war ihm aufgegangen, dass seine Tochter nach der langen Leidensphase die Rolle ihrer Mutter übernommen hatte. Es war eine Art von unbewusst vorgenommener Metamorphose gewesen, die glücklicherweise das Erwachen aus ihrer Lethargie eingeleitet hatte. Aber – und das beobachtete Reineking mit Sorge – Magdalena hatte sich einer freikirchlichen Gemeinschaft angeschlossen, die ein Gottesbild predigte, das angeblich frei von den Fesseln der Konfession sei. Glücklicherweise hatte das Mädchen ihre Fröhlichkeit behalten.

»Papa, bist du eigentlich zufrieden mit dem, was du machst?«

»Du stellst Fragen!«

»Unser Pfarrer meinte, solch ein Beruf könnte leicht zur Sucht werden.«

»Zur Leidenschaft.«

»Er meinte, die Gefahr sei umso größer, je mehr man sich als Hüter des kollektiven Gewissens fühlt.«

»Der Bursche hat zu viele schlechte Western gesehen.«

»Er nannte das nicht überwundenen Jagdtrieb. Kommt besonders häufig bei Männern mit der Blutgruppe Null vor. - Welche Blutgruppe hast du?«

»Weiß ich nicht.«

»Gelogen.«

»Okay, ich habe Null, aber ...«

»Was nicht als Beweis, aber als bemerkenswertes Indiz gewertet werden kann, meinst du nicht auch?«

»Wir reden darüber, wenn du zurück bist. Hab viel Spaß, erhole dich und gönne dir ein bisschen Spaß. Auch wegen der bösen Geister, du weißt schon.«

»Mit Spaß hat die Freizeit nichts zu tun. Es geht um Glaubensfragen, über die auch du mal ernsthaft nachdenken solltest.«

»Machen wir«, sagte Reineking und stöhnte innerlich.

»Ich habe dich lieb, Herr Kommissar.«

»Ich dich noch viel mehr.«

»Das geht nicht.«

»Doch, das geht. Bis bald, Liebes.«

»Vermiss mich ein bisschen. «

Er versprach es.

»Die LKA-Götter lassen bitten«, sagte Wehner.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging er von Wehner begleitet über den Vorplatz, stieg die vielen Stufen zum Rundgang empor und erreichte den LKA-Bus, aus dem gedämpfte Musik erklang. Es roch noch immer nach verbranntem Fleisch.

Senft, der Anführer der Götter, telefonierte im Fahrerhaus. Eigenbrodt, sein Assistent, rieb sich mit einem feuchten Tuch die Hände ab, blickte nur kurz auf, als er die beiden Mindener Kriminalisten entdeckte. Der dritte Beamte räumte pfeifend Kisten in den Wagen und war der einzige, der seine gute Laune nicht verloren zu haben schien.

»Sie können stolz auf sich sein«, sagte Eigenbrodt verbiestert. »Ihre Nase ist mindestens so gut wie die unserer Apparate - die haben auch keine Brandbeschleuniger analysieren können.«

»Ist das einer Ihrer Scherze?«

»Leider nicht, eher ein Parallelfall zu Waterloo.«

»Ihre Geräte sind fit?«

»Dreimal geprüft - keine Frage.«

»Dann müssen die Korken wohl in den Flaschen bleiben, was?«

Eigenbrodt warf das Tuch angewidert in den Wagen und zeigte die noch feuchten Innenflächen seiner Hände.

»Entweder war der Bursche - es war ein Mann, soviel haben wir feststellen können - ein Feuerschlucker, der noch ‚ne Ladung hochentzündlicher körpereigner Fette im Mund hatte, oder wir werden im Labor auf eine Finesse treffen, die, na ja, vielleicht gar nicht im Lehrbuch steht«.

»Oder so simpel ist, dass wir rote Ohren kriegen«, rief Senft, der sein Telefongespräch beendet hatte und aus dem Bus stieg. Er reichte erst Wehner, dann Reineking die Hand, lachte auf und fügte hinzu: »Nur keine Panik, wir kriegen es heraus, was auch immer es gewesen ist.«

»Haben Sie Anhaltspunkte, ob der Mann durch das Feuer zu Tode kam?«

Eigenbrodt runzelte die Stirn.

»Mein Kollege ist aufgrund des Gewebe- und Körpersaftzustands davon überzeugt, dass der Tod entweder sehr kurz vor dem Entzünden oder aber durch das Feuer selbst eingetreten ist.«

»Es kann natürlich auch sein, dass hier eine Riesenschweinerei stattgefunden hat«, sagte Senft, »eine Perversion, die ich nicht denken will, aber denken muss: Als äußerst wahrscheinlich ist anzunehmen, dass der Körper vom Kopf aus verbrannt ist. Die Spuren ergeben, dass der arme Hund sich bewegt, also möglicherweise gewehrt hat. Damit dürfte klar sein, dass er durch den Brand umgekommen ist.«

»Freitod durch Selbstverbrennung schließt sich demnach aus?«

»Was schließt sich bei einem solchen Fall schon aus?«

»Ich meine, ja«, warf Eigenbrodt ein, »und zwar deshalb, weil die Voraussetzungen dazu fehlen. Wer sich selbst anzündet, muss Zünd- und Brennmittel hinterlassen, es müssen Spuren davon zurückbleiben, also auch feststellbar sein.«

»Die vorgefundenen Gegenstände scheinen keinen Bezug zum Tathergang zu haben«, fügte Senft hinzu. »Wir konnten leider keinen her- oder ableiten.«

 

»Ein weiterer Punkt«, fuhr Eigenbrodt fort, »wäre das Brandmittel. Es hätten sich Spuren in einem wahrscheinlichen Umkreis finden lassen müssen. Gab es aber nicht. Die Frage ist: Konnten wir nichts feststellen, weil es sich um nicht Nachweisbares handelt oder ging es nicht, weil keine Spuren vorhanden waren? Selbstverbrennung ist sowieso solch eine Sache. Ob sich der Körper überhaupt entzündet und wenn, wie weit er herunterbrennt. – Wir haben keine Antwort. Ich habe noch keinen Fall erlebt, der eine solche vernichtende Wirkung hinterließ. Und auch in der Literatur muss man lange blättern, bis man Derartiges nachlesen kann. Um es prosaisch auszudrücken: Obwohl ausgerechnet jetzt die Sonne scheint, stehen wir mitten im Regen.«

Senft lächelte, aber in einer Weise, die auch seine Verzweiflung erkennen ließen.

»Wir sind einer Meinung, Günter«, sagte er, »nur müssen wir die Laborergebnisse in Händen halten, ehe wir Weiteres sagen können. Jetzt aufgrund der wenigen greifbaren Anhaltspunkte zu spekulieren, verbietet sich von selbst. Ihnen, Herr Reineking, kann ich nur empfehlen, das Gelände gründlichst nach Utensilien abzusuchen, die zum Zündeln und Totmachen geeignet sind.«

Reineking fürchtete, dass das zur Plauderei verkommene Gespräch sich sehr bald auch noch erschöpfen und sein Gefühl der Hilflosigkeit verstärken würde. Bestätigt fühlte er sich in seinem Anfangsverdacht, es bei dieser Sache mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun zu haben, vielleicht sogar mit einem, der einige Nummern zu groß für ihn und die Abteilung Todesermittlungen im Kriminalkommissariat 11 war.

»Danke für den Ratschlag«, sagte er.

»Wenn Sie Pech haben, werden Sie noch eine ganze Reihe brauchen.«

Die Augen schimmerten zwar nicht feucht, aber der Abschied war im Gegensatz zur Ankunft geradezu rührend, fand Reineking. Senft faltete die Hände und verbeugte sich sanft lächelnd mit der gekonnten Grazie einer zwar noch übenden, aber schon mit allen Finessen der Zeremonie vertrauten Geisha.

»Richtig nette Jungens«, sagte Wehner, als der Bus abfuhr.«

»Na ja ...«

»Wer so jung und schon Rat ist, kann sich das Nett sein erlauben.«

»Du bist doch nicht etwa neidisch?«

»Ich frag mich, was die machen, wenn sie mal fünfzig sind. Dann stehen die vor einem Riesenproblem.«

»Ach ja?«

»Dann gibt es kein Hinauf mehr, verstehst du? Dann werden die verzweifeln und der Politik Versagen vorwerfen. Wer weiß, was daraus wird!«

»Die landen im hoch dotierten Vorstand der Stiftung zur Betreuung der von Langeweile heimgesuchten Frühpensionisten, Außenstelle Hawaii.«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Wehner. Reineking erhoffte von den beiden fortrollenden Experten ein brauchbares Ergebnis, mit dem das Geschehen am Denkmal plausibel zu erklären wäre, obwohl er ganz tief in seinem Inneren ein Gefühl entwickelte, das viel mit Sorge und ganz wenig mit Zuversicht zu tun hatte.