Kaukasische Sinfonie

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Alexander von Kutzschenbach
1

Immer nach Ostern, wenn Wildtulpen die Steppe in einen bunten Blumenteppich verwandelten, über den bereits frühe Schmetterlinge gaukelten, liessen Sophie und Simon ihre Buben in der Obhut von Mayranoush und Cornelius Fresendorff zurück und fuhren für ein paar Tage nach Tiflis. Dort kauften sie all jene Dinge ein, die man auf Eben-Ezer benötigte und die in Katharinenfeld nicht zu bekommen waren. Die Diepoldswilers pflegten in jenem Hotel am vornehmen Golowin-Boulevard abzusteigen, in das sie Vitus von Fenzlau kurz vor seinem Tod eingeladen hatte.

Wie jedes Jahr war auch im Frühling 1881 ein Abend für die Oper reserviert. Dieses Mal besuchten sie das Gastspiel einer französischen Truppe, die mit Bizets «Carmen» durch Osteuropa und Russland reiste. Besonders die Habanera hatte es Sophie angetan. Am Vormittag des nächsten Tages erwarb sie in einem Musikgeschäft die Noten der Klavierversion der Arie.

Später spazierten sie durch die engen Gassen der Sololaki-Vorstadt. An den hölzernen Säulen der mit Schnitzereien verzierten Balkone der Wohnhäuser rankten Weinreben in die Höhe. «Tbilissi – die vielbalkonige Schönheit», bemerkte Sophie auf Russisch. Simon schaute sie fragend an.

«So hat Jakow Petrowitsch Polonski die Stadt beschrieben», erklärte sie. «Er war ein Dichter und arbeitete während seines Aufenthalts im Kaukasus für den Gouverneur. Mein Vater kannte ihn. Er hat mir viel von ihm erzählt.»

Hinter den Häusern des Viertels stiessen sie auf einen jener gewundenen Pfade, die durch einen mit Gestrüpp und Wald bewachsenen steilen Hang hinauf zum Mtazminda führte. «Mta» heisse auf Georgisch Berg und «zminda» heilig, übersetzte Sophie und bat Simon, mit ihr auf den Gipfel zu steigen.

Schon als Backfisch war sie auf dem heiligen Berg gestanden. Ihr Vater, den sie damals noch für ihren Paten hielt, hatte sie 1869 als Vierzehnjährige zum ersten Mal nach Tiflis mitgenommen. Seit Tagen hatte sie sich auf den Ausflug gefreut, und als es endlich so weit war, hatte sie sich schön gemacht und herausgeputzt. Sie trug ein weisses Musselinkleid mit gestuften Volants und dazu einen breitrandigen Strohhut mit einem hellblauen Band, das, wie sie fand, in einem reizvollen Kontrast zu ihren blonden Locken stand. Mayranoush hatte ihr sogar etwas Wangenrouge aufgetragen.

Ihre weissen, engen Schnürstiefelchen waren für den steilen Aufstieg zum Mtazminda gewiss nicht das geeignete Schuhwerk, und Sophie war froh, als sie auf halber Höhe, mitten in der Wildnis, eine Kuppelkirche mit Glockenturm erreichten, bei der sie rasten durfte. Der Baron erzählte ihr, das Gotteshaus sei Dawit geweiht, einem jener dreizehn frommen syrischen Väter, die im sechsten Jahrhundert ins Land gekommen waren, um den Ungläubigen mit dem Höllenfeuer zu drohen und ihnen den rechten Weg zu weisen. Im Innern der Kirche blieben sie vor einer Ikone stehen. Auf Goldgrund war ein Heiliger dargestellt. Er trug ein senfgelbes Kleid und einen blauen Überwurf. In der linken Hand hielt er eine Bibel. Er hatte gepflegtes, schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen akkurat getrimmten Bart.

«Als käme er direkt aus dem Friseursalon», spöttelte von Fenzlau und behauptete, so habe Dawit natürlich nicht ausgesehen. «Er hauste hier oben in einer Höhle. Ich stelle mir vor, dass er sich nur mit kaltem Wasser waschen konnte. Vermutlich verbreitete er keinen Rosenduft. Sein Haar, falls er welches hatte, hing ihm bis über die Schultern und war verfilzt und gewiss voller Läuse, ebenso der Bart, der die Brust bedeckte. Sein Kleid war bestimmt von minderer Qualität und vielfach geflickt. Möglicherweise ernährte er sich wie Johannes Baptista von Heuschrecken und wildem Honig.» Dann erzählte er Sophie halblaut die Legende von Dawit.

Einmal in der Woche sei der Eremit hinunter in die Stadt gestiegen, um dort, sehr zum Missfallen der zoroastrischen Priesterschaft, den Heiden das Evangelium zu verkünden. Um sich des Konkurrenten zu entledigen, hätten sie eine Schwangere dazu angestiftet zu behaupten, sie sei von Dawit vergewaltigt worden. «Die aufgebrachte Menge wollte den Heiligen steinigen. Der aber berührte mit seinem Stab den Bauch seiner Anklägerin und fragte den Fötus, wer sein Vater sei. Und dieser, oh Wunder, gab Auskunft, und die Verleumderin gebar auf der Stelle einen Stein. Daraufhin schüttelte Dawit den Staub der Stadt Tiflis von den Füssen und wanderte nach Kachetien, wo er das Höhlenkloster Garedscha gründete und mit seinen Anhängern ein gottgefälliges Leben bis an sein seliges Ende führte.»

Sophie hatte während der Erzählung den Paten aus den Augenwinkeln beobachtet. Unter seinem dichten Schnurrbart zuckte es verdächtig. Sie wusste, dass er sich über den Gottesmann lustig machte. Zu ihrem Kummer gehörte der Baron zur Schar der Ungläubigen. Luise Hegele, die Frau des Pastors von Katharinenenfeld, bei deren Familie sie während der Wintermonate lebte, hatte ihr ans Herz gelegt, für sein Seelenheil zu beten. Er brauche es. Mit der ganzen Inbrunst, zu der ein junges Mädchen fähig ist, flehte sie Abend für Abend den Herrn Jesus an, die unsterbliche Seele ihres geliebten Paten zu retten.

Vom Gipfel des Mtazimda bot sich Simon und Sophie ein überwältigender Ausblick. Unter ihnen lag die Stadt, die sich zwischen den Ausläufern des Saguramibergrückens und dem östlichen Teil des Trialetischen Massivs zu beiden Seiten der Kura ausbreitete. Es war ein ungewöhnlich klarer Tag. Im Nordosten waren die schneebedeckten Berge des Grossen Kaukasus zu erkennen. Der Anblick des fernen Gebirges weckte in Simon Erinnerungen an seine Jugend in der Schweiz.

«Was beschäftigt dich?» Sophie kannte das Gesicht ihres Mannes, wenn seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften.

«Nichts Besonderes.» Ohne zu wissen, weshalb, hatte sich Simon immer geschämt, ihr zu erzählen, dass er, gerade einmal elf Jahre alt, als elendes Knechtlein zu einer Kleinbauernfamilie in eine Kinderhölle verdingt worden war. Er litt auch unter seiner mangelhaften Bildung. Seine Frau wusste lediglich, dass er nach dem Tod seiner Schwester dank Lydia Amsoldinger, der Pflegemutter seines Bruders, bei zwei gütigen Täufern das Käserhandwerk hatte erlernen dürfen. Auch dass sein Bruder Jakob ihn nach Grusinien begleitete hatte und drei Tagesreisen nördlich von Eben-Ezer ums Leben gekommen war, wusste sie. Simon hatte ihn am Ufer der Kura bei Uplisziche begraben. Damals war in ihm die Angst gewachsen, dass alle Menschen, die er liebte, vorzeitig zu Tode kommen müssten. Er glaubte es noch heute.

«Gehen wir weiter», sagte er. Sie wanderten über einen mit duftenden Kiefern bewachsenen Kamm zur Ruine der Festung Nariqala. Sie hatte eineinhalb Jahrtausend jedem feindlichen Ansturm getrotzt und war erst 1827 zerstört worden, als ein Blitz die Pulvervorräte der russischen Besatzer in die Luft sprengte. Sophie und Simon suchten sich auf dem alten Gemäuer ein sonniges Plätzchen und schauten über die Türme, Kuppeln und Dächer zur Metechi-Kirche, die auf dem Felsenband über dem linken Kuraufer stand. Sophie lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. «Was für Leute mögen dort drüben leben?», fragte sie und wies auf die ineinander verschachtelten Häuser und Häuschen hinter dem Gotteshaus.

Simon, der oft nach Tiflis fuhr, schwieg. Er kannte das Avlabari-Viertel, in dem Familien in heruntergekommenen Behausungen lebten und von deren Kindern manchmal nicht gewiss war, welcher Mann sie gezeugt hatte. Sophie brauchte nicht zu wissen, dass er dort bis zu seiner Heirat ab und zu Huren aufgesucht hatte, Frauen aus ganz Transkaukasien, die in den engen, schmutzigen Gassen zwischen Handwerkern, Krämern und lärmigen Kneipen ihrem Gewerbe nachgingen und ihren Kunden gegen ein geringes Entgelt für eine Stunde die Illusion gaben, geliebt zu werden.

Als sie am späten Nachmittag dieses Tages im Salon des Hotels beim Tee sassen, trat Herr von Kutzschenbach an ihren Tisch und fragte, ob er ihnen Gesellschaft leisten dürfe. Er küsste Sophies Hand. Über ihr Gesicht huschte ein rätselhaftes Lächeln. Sie dachte an ihren Vater, der aus Livland stammte. Er hatte sich mehr als einmal über Alexander von Kutzschenbach lustig gemacht. Weil er auf einem brandenburgischen Rittergut aufgewachsen war, hatte er ihn als preussischen Junker bezeichnet und sich darüber mokiert, dass der Mann seinen Schnurrbart à la Wilhelm trug: buschig und an den Enden aufwärts gezwirbelt. «Fehlt nur noch, dass er sich auf beiden Wangen ein Gestrüpp wachsen lässt, wie sein Idol», pflegte er zu sagen. Er spielte damit auf den imposanten Backenbart des Monarchen an. Mit seiner ganzen Deutschtümelei verstehe es Kutzschenbach ausserdem bestens, sich im Gouverneurspalast beim Vizekönig, seiner kaiserlichen Hoheit Grossfürst Michail Nikolajewitsch Romanow, Liebkind zu machen. Das habe ihm ein zinsloses Darlehen eingebracht. Man werde sehen: Am Schluss verleihe ihm der Zar noch einen russischen Adelstitel. So seien sie eben, die Reichsdeutschen: geschmeidig und berechnend.

«Was für ein Zufall, dass ich Sie hier treffe», wandte sich von Kutzschenbach an Simon. «Ich beabsichtigte nämlich, Sie in den nächsten Tagen aufzusuchen.» Er besitze unweit von Dmanissi einen rund tausend Dessjatinen grossen Wald, den er verkaufen wolle, fuhr er fort. «Er grenzt direkt an Ihren Forst, und wie ich höre, möchten Sie Ihre Waldungen vergrössern.»

Das traf zu. Seit der Viehbestand von Eben-Ezer auf rund tausend Stück angewachsen war, hingen in der Käserei sechs grosse Kupferkessel mit einem Volumen von je hundert Litern. Unter ihnen standen drei Feuerwagen, mit denen man die Hitze regulieren konnte. Man brauchte sie nur hin- und herzuschieben. Aber es war abzusehen, dass man langfristig mehr Brennholz benötigen würde, als im eigenen Wald, wo man auch Bauholz schlug, nachwuchs. Dawit Achwlediani, der grusinische Obersenn, hatte schon davon gesprochen, zusätzlich Kuhdung als Brennmaterial zu verwenden. Aber Simon war die Vorstellung, seinen Emmentaler mit Mist zu produzieren, unangenehm. Das Angebot Kutzschenbachs kam ihm deshalb wie gerufen.

 

«Weshalb wollen Sie den Forst abstossen?», fragte Sophie.

Der Deutsche schaute sie erstaunt an. Er war es nicht gewohnt, dass sich eine Frau in Männergeschäfte einmischte. Dann lachte er. «Das will ich Ihnen gern sagen, Madame. Ich brauche flüssige Mittel und verkaufe deshalb Land. Nicht nur diesen Wald. Ich will bei Saparlo östlich von Dmanissi eine Tochtersiedlung mit einer Glashütte und zwei Ziegeleien aufbauen. Ein deutscher Direktor wird das Ganze leiten. Wir werben in Schlesien Glasfacharbeiter an. Für die Herstellung von Backsteinen und Ziegeln werden wir Perser, Griechen und Tataren anlernen. Das Dorf soll Alexandershütte heissen.»

Wie viel der Wald denn kosten solle, wollte Simon wissen.

«Fürst Zviad Ratischwili wäre bereit, fünftausend Rubel zu bezahlen. Ich verkaufe ihn Euch für dieselbe Summe plus einen Rubel, damit ich dem Hurensohn sagen kann, Ihr hättet mir ein besseres Angebot gemacht.»

Ratischwilis Hof befand sich in Kariani, südlich von Eben-Ezer. «Lass dich von seinem Titel nicht beeindrucken», hatte sein Schwiegervater Simon einmal gesagt. «1793 hat der Zar den adeligen Familien in Grusinien dieselben Privilegien gewährt wie dem russischen Adel. Sie alle dürfen sich Knjaz nennen, egal ob sie von königlichem Geblüt sind oder nur Krautjunker wie Ratischwili, der nicht einmal hundert Kühe besitzt. Die grosse Zeit seines Geschlechts ist längst vorbei.»

Der Preis scheine ihm hoch, meinte Simon. Für das Geld könne man eine Käserei samt dem dazugehörigen Inventar kaufen.

«Was nützt die schönste Käserei, wenn das Holz fehlt, den Käse zu produzieren?» Von Kutzschenbach lehnte sich zurück. «Wissen Sie was? Ich lade Sie und Ihre Familie ein, die Pfingsttage bei uns auf Mamutlie zu verbringen. Wir können dann in aller Ruhe die Einzelheiten besprechen.» Offenbar war er sich sicher, dass der Handel zustande kommen würde.

Wieder kam Sophie ihrem Mann zuvor: «Wir nehmen Ihre Einladung gerne an, Herr von Kutzschenbach.»

Als sie am nächsten Tag nach Eben-Ezer zurückfuhren, sang Sophie leise den Text der Habanera: L’amour est un oiseau rebelle.

«Was heisst das?», wollte Simon, der kein Französisch verstand, wissen.

«Die Liebe ist ein wilder Vogel.»

«Ist sie das?»

«Manchmal schon.» Sie schmiegte sich an ihn.

«Aha.» Simon war mit seinen Gedanken woanders. «Weshalb weiss von Kutzschenbach, dass ich unseren Forst vergrössern muss?»

Sophie rückte von ihm ab. «Gottlieb Graf wird es ihm gesagt haben. Du hast ihm ja von deinen Sorgen erzählt.»

Gottlieb Graf betrieb in Karabulakhi, fünf Werst nördlich von Eben-Ezer, Milchwirtschaft. Er stammte aus Reichenbach im Berner Oberland und war vor fünfzehn Jahren nach Grusinien gekommen. Wie die Ammeters, die Siegenthalers und andere Schweizer hatte er ein paar Jahre auf Kutzschenbachs Gutshof Mamutlie als Käser gearbeitet und sich dann selbstständig gemacht. Er hatte Käthi Bieri geheiratet, die Barbara von Kutzschenbach als Hausmädchen zur Hand gegangen war. Die Grafs und die Diepoldswilers waren Nachbarn. Man besuchte sich gegenseitig.

«Natürlich!» Simon schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. «Er wird es von Gottlieb erfahren haben.»

«Kutzschenbach kann den Hals nicht vollkriegen», stellte Sophie fest. «Es genügt ihm nicht, Grossgrundbesitzer zu sein. Nein, er will auch noch Unternehmer werden. Alexandershütte! Wenn du mich fragst, geht es ihm nicht darum, einen unserer drei Zaren dieses Namens zu ehren, sondern allein sich selbst: Alexander von Kutzschenbach.»

«Und weshalb hast du seine Einladung angenommen, wenn du ihn nicht magst? Weisst du überhaupt, ob mir das passt?»

«Ach Simon!» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Vielleicht hättest du Nein gesagt. Aber ich wollte schon lange einmal Mamutlie sehen. Du weisst doch, wie neugierig ich bin. Man hört so viel über Herrn von Kutzschenbach und seine Frau.»

Das liess sich nicht leugnen. Um die abenteuerlichen Umstände der Heirat des Deutschen und den Aufbau seines Gutes rankten sich Legenden.

Alexander von Kutzschenbach galt als Abenteurer. In Katharinenfeld erzählte man sich, sein Vater, ein preussischer Rittergutsbesitzer, habe mit einem ungeschickten Landerwerb einen grossen Teil des Familienvermögens verloren, weshalb sein Ältester in den frühen Sechzigerjahren aufgebrochen sei, um sein Glück in Transkaukasien zu suchen. Anders als Simon, der derselben Auswanderergeneration angehörte, sich aber dank der Heirat mit Sophie in ein gemachtes Nest setzten konnte, hatte der Deutsche ganz von vorn beginnen müssen. Als der Siebenundzwanzigjährige 1862 nach Grusinien gekommen war, liess er sich hundert Werst südwestlich von Tiflis, nahe der Grenze zur Türkei, nieder. Die Gegend, in der fast nur Tataren lebten, galt als unsicher. Aber das focht ihn nicht an. Er pachtete zweitausendsechshundert Hektaren Wildnis und machte sich daran, sie urbar zu machen.

Auch seine Frau war eine bemerkenswerte Person. Von Kutzschenbach, der in den Bernischen Blättern für Landwirtschaft einen Obersenn gesucht hatte, stellte 1863 ihren bereits fünfzig Jahre alten Vater an, den Käser Christian Scheidegger aus Lützelflüh. Die damals dreiundzwanzig-jährige Barbara begleitete ihre Eltern in den fernen Kaukasus. Zunächst hausten die Auswanderer, gemeinsam mit dem Patron, unter primitivsten Bedingungen in einer tatarischen Erdhütte, einer in einen Hang gegrabenen Höhle, die man durch einen Türsturz aus unbehauenen Balken betrat. Sie bestand aus einem einzigen Raum, in dem man knapp stehen konnte. Man schlief auf Strohsäcken. Gekocht wurde auf einem alten Herd, der gleichzeitig als Ofen diente. Ein Bach in der Nähe lieferte das notwendige Wasser. Unter den beengten Verhältnissen kam es, wie es kommen musste: Der Preusse schwängerte die um fünf Jahre jüngere Barbara und heiratete sie.

Während ihr Mann seinen Besitz aufbaute und sich mit dem Schwiegervater um die Milchwirtschaft kümmerte, besorgte die junge Frau, unterstützt von ihrer Mutter, den Haushalt. Zunächst in ihrem Erdloch, dann in einer windschiefen Blockhütte. Nachdem die Männer endlich die Sennerei und die Ställe fürs Vieh errichtet hatten, machten sie sich an den Bau eines Herrenhauses. Das geschah sechs Jahre nach ihrer Ankunft in Transkaukasien. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Barbara bereits drei Kinder zur Welt gebracht.

In den folgenden Jahren wurde Mamutlie, ihr Gutshof, zu einem Musterbetrieb ausgebaut. Von Kutzschenbach und das ehemalige Bauernmädchen gehörten inzwischen zu den reichsten Kolonisten in Grusinien. Sie hatten, umgeben von einer ihnen feindlich gesinnten tatarischen Bevölkerung, welche die Grenzen ihres Besitztums nicht anerkennen wollte, gewissermassen aus dem Nichts ein kleines Königreich aufgebaut. Von Kutzschenbach betrieb Viehwirtschaft. Daneben züchtete er Pferde und Schweine. Inzwischen war Mamutlie dreimal grösser als Eben-Ezer.

Simon zog Sophie an sich. «Ich bin auch neugierig, Mamutlie kennenzulernen. Ausserdem will ich den Wald, koste es, was es wolle!»

Ein paar Tage später ritt er durch den Forst, den ihm der Deutsche zum Kauf angeboten hatte. Er stellte fest, dass es sich um einen prächtigen Nutzwald handelte, in dem vor allem Eichen, Rot- und Weissbuchen, Ahorn und Eschen wuchsen. Gottlieb Graf hatte ihm erzählt, dass auf Mamutlie neben den zahlreichen Käsern und Handwerkern auch deutsche Forstleute arbeiteten. Sie hatten zusätzlich zu den Laubbäumen Fichten, Weisstannen und Kiefern angepflanzt, die in frühestens achtzig Jahren hiebreif sein würden. Simon kam zum Schluss, dass der geforderte Preis nicht zu hoch war.

2

Am 4. Juni 1881, dem Tag vor Pfingsten, brachen die Diepoldswilers schon früh in ihrer leichten, mit einem Halbverdeck versehenen Kutsche auf. Simon, der das Gefährt selbst lenkte, hatte vier kräftige Pferde vorgespannt, denn Mamutlie lag auf fünfzehnhundert Meter über dem Meer. Sie fuhren Richtung Süden. Kühe, die zum Melkplatz getrieben wurden, kreuzten ihren Weg. Hirten auf ihren ungesattelten Pferden grüssten, wenn sie den Patron und seine Familie sahen. An den Hängen der Hügel linker Hand der Strasse weideten Schafe. Sie passierten Kiriani und Kamarlo, zwei kleine Siedlungen mitten in der Einsamkeit des weiten Graslands. Im fahlen Morgenlicht verlor sich die Steppe nach Westen im Ungefähren. Die um diese Jahreszeit noch schneebedeckten Kämme des Dschawachetischen Gebirges blieben unter einer Wolkendecke verborgen.

Sophie sass im Fond des Wagens. Der fünfjährige Jakob, dessen Kopf in ihrem Schoss ruhte, war eingeschlafen. Ihr gegenüber las Karl ein Buch. Seit er das Alphabet begriffen hatte, versuchte er alles Schriftliche, das ihm in die Hände geriet, zu entziffern. Er war ein feinfühliges Kind. Am vergangenen Christfest, das man im Herrenhaus gemeinsam mit dem Gesinde zu feiern pflegte, hatte Karl die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorlesen dürfen. Anschliessend stellte er sich vor Wassilij, der still in einer Ecke sass, und rezitierte auswendig auf Russisch Wort für Wort die Überlieferung vom Engel, der den Hirten auf dem Feld erschienen war, so wie es in der orthodoxen Bibel aufgeschrieben war. Der alte Mann hatte ihn ungläubig angestarrt. Als der Bub fertig war, verliess Wassilij den Raum und kehrte kurz darauf zurück. Er drückte Karl ein Heiligenbildchen mit der Muttergottes von Kasan und ihrem Kind in die Hand. Dann umarmte er den Jungen und küsste ihn auf beide Wangen. Als der Russe in seiner Jugend an die Armee verkauft worden war, hatte er von seiner Liebsten zum Abschied einen Bogen mit einhundert Bildchen der Gottesmutter geschenkt bekommen. Vor jeder Schlacht und jedem Gefecht hatte er eines davon gegessen. Er war überzeugt, nur deshalb von Hieb und Stich, von Kugel und Schrapnell verschont geblieben zu sein. Er hatte auch Sophies Mutter, Thilde Schüpbach, als sie drei Tage lang in Wehen lag, das Konterfei der Jungfrau in den Mund gesteckt. Als Schluckzettel. Er war sich sicher, dass Sophie nur ihretwegen gesund auf die Welt gekommen war. Thilde allerdings, die an der Geburt gestorben war, hatte die Muttergottes nicht geschützt.

Hannes sass neben seinem Vater auf dem Kutschbock. Wenn Cornelius Fresendorff auf Sophies Frage antwortete, er sei ein braves Kerlchen, dann wusste sie, dass ihr Zweiter, was dessen schulische Leistungen betraf, nicht danach strebte, mit seinem älteren Bruder Schritt zu halten oder ihn gar zu übertreffen. Seine Interessen waren anderer Art. Er trieb sich in jeder freien Minute in den Ställen und in der Käserei herum. Er vergass die Zeit, wenn er an der Koppel stand und den weidenden Kabardinern zuschaute. Hannes war dabei, wenn man den Stier zur Kuh führte, und sah gespannt zu, wie sie neun Monate darauf kalbte. Er begriff, dass manche Kälblein schon früh geschlachtet werden mussten, da man das Lab aus ihren Mägen für die Herstellung von Käse brauchte. Es machte ihm nichts aus, wenn der Vater die jungen Tiere mit einem raschen Schnitt durch die Kehle tötete, er hielt sogar das grosse Becken unter die klaffende Wunde, um das Blut aufzufangen, aus dem Mayranoush Würste machte.

Hannes war Simons Lieblingssohn. Manchmal setzte er ihn vor sich aufs Pferd und ritt mit ihm hinaus in die Steppe. «Du bist mein kleiner Stier», sagte er, wenn er den kräftigen, kompakten Körper des Knaben spürte. Mein kleiner Stier: So hatte ihn vor Jahren sein eigener Vater genannt. Manchmal zerzauste er dem Jungen mit verschämter Zärtlichkeit das Blondhaar.

Kurz hinter Dmanissi versperrten vier berittene Tataren der Kutsche den Weg. Jeder von ihnen trug eine mehr oder weniger zerschlissene Tscherkesska und auf dem Kopf eine riesige, kegelförmige Papacha aus Lammfell. Sie waren mit einer Berdanka, einem veralteten russischen Armeegewehr, ausgerüstet, das über ihre Rücken hing, sowie einem Patronengurt, den sie schräg über Schulter und Brust trugen. Ausserdem besass jeder der Männer einen Kindschal, einen etwa fünfzig Zentimeter langen Dolch, der als Stich- und Schlagwaffe verwendet werden konnte.

Simon brachte das Gefährt zum Stehen und tastete nach seinem Repetiergewehr, das unter dem Kutschbock lag. Sophie, die an den Überfall dachte, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen war, konnte einen leisen Schreckensruf nicht unterdrücken. Karl und Hannes starrten die wilden Gesellen aus weit aufgerissenen Augen an. Nur Jakob schlief weiter.

 

Der Anführer der Männer, ein Alter mit einem langen, weissen Bart, hob beide Hände mit der Innenfläche nach aussen, zum Zeichen, dass er keinerlei feindliche Absicht hege. Er stieg vom Pferd, deutete auf seine Brust und sagte «Allachwer». Das war offenbar sein Name. Dann reichte er Simon ein zusammengefaltetes Blatt. Gleichzeitig deutete er auf ein Messingschild an seinem Patronengurt. Tschapar des Herrn von Kutzschenbach stand da in perforierter Schrift. Simon überflog das Papier. «Ihr braucht keine Angst zu haben», sagte er zu Sophie und den Buben. «Die Männer gehören zu Kutzschenbachs Leibwache und sollen uns sicher bis nach Mamutlie begleiten.»

Allachwer, ob er nun verstanden hatte, was der Gast seines Herrn sagte oder nicht, nickte eifrig und zeigte Richtung Süden. Von zwei bewaffneten Tataren vor und zwei hinter der Kutsche eskortiert, fuhren sie auf der Landstrasse weiter. Sie passierten nacheinander vier Siedlungen mit einem halben Dutzend erbärmlicher Erdhütten, dazwischen ab und zu ein elendes Holzhaus. Halbwilde Hunde balgten sich mit Scharen von Krähenvögeln um Abfälle. Männer in zerlumpten Kleidern starrten den Reisenden misstrauisch nach. Manchmal fuhren sie an einer verschleierten, von schmutzigen Kindern begleiteten Frau vorbei, die auf dem Kopf einen Wasserkrug oder ein Bündel Holz trug.

Am späteren Nachmittag öffnete sich vor ihnen ein breiter, nach Südwesten sanft ansteigender Talkessel. Er war im Osten von Hügeln begrenzt, an deren Hängen von Bäumen und Sträuchern bewachsene Felsen standen. Im Süden und Westen schloss eine lange, steil abfallende Wand aus Lavagestein, über die ein tosender Wasserfall stürzte, den Talboden ab. Die grünen Wiesen, auf denen Obstgärten angelegt waren, standen in einem seltsamen Gegensatz zu den verwahrlosten Äckerchen und Weiden der Tatarensiedlungen, die sie hinter sich gelassen hatten.

Mamutlie war ein Dorf, wie man es auch in Deutschland hätte finden können: eine kleine Kirche mit Glockenturm, um die sich fünf Dutzend schmucke, mit roten Ziegeldächern bedeckte Häuser scharten, davor Gemüsegärten. Hier lebten offenbar die Angestellten des Gutsbesitzers und ihre Familien. An einem Gebäude hing eine Tafel: Ambulanz und Apotheke. Am Rand der Siedlung standen Ställe, eine grosse Sennerei samt Käsekeller, eine Mühle, eine Stellmacherei, eine Backstube, ein Badehaus und eine Schmiede. Und mittendrin, eingerahmt von Bäumen und Ziersträuchern, eine Parkanlage: kurz getrimmter englischer Rasen und ein Teich, aus dem die Fontäne eines Springbrunnens in die Höhe schoss. Am Ufer des Wassers lag das Herrenhaus, auf dessen Freitreppe Alexander von Kutzschenbach, seine Frau und ihre Kinder standen, um die Gäste zu empfangen – ein Fürst, der sich mit seiner Familie präsentiert.

Wie schon in Tiflis küsste der Deutsche Sophies Hand, und wie damals spielte ein Lächeln um ihre Lippen, das sich vertiefte, als die älteste Tochter des Gastgebers mit spitzen Fingern ihren Rock leicht anhob und knickste. Die drei Söhne, von denen der älteste bald mannbar sein würde, während es sich bei den beiden anderen um Halbwüchsige handelte, führten einen tadellosen Diener vor. Die Diepoldswilerbuben, die diese Art von Begrüssung einschüchterte, schauten fragend zu ihrem Vater, dessen strenger Blick ihnen jede Reaktion verwies. Die Atmosphäre entspannte sich erst, als Barbara von Kutzschenbach, die einen Säugling auf dem Arm trug und ein etwa Dreijähriges an der Hand hielt, die Gäste in breitem Berndeutsch willkommen hiess. Ein stattliches Weibervolk mit kräftigen Armen und breitem Becken, wie eine Emmentaler Bäuerin, dachte Simon.

«Du kannst jetzt das Nachtessen vorbereiten», wies Herr von Kutzschenbach seine Frau an. «Und ihr kümmert euch um die drei Jungen», befahl er seinen Kindern. «Ich zeige Herrn und Frau Diepoldswiler unterdessen Mamutlie. Nach der Mahlzeit können wir», er wandte sich an Simon, «das Geschäftliche erledigen. Morgen nach dem Gottesdienst werden wir einen Ausflug zum Steppensee und zur Almkäserei machen. Ich hoffe, Sie und Ihre Familie geniessen den Aufenthalt bei uns.»