Auschwitz vor Gericht

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6.3. Zeugen

Nach den Anhörungen der ersten drei Gutachter, denen sich jeweils eine intensive Befragung der Sachverständigen anschloss, begann am 24. Februar 1964 (19. Verhandlungstag) die erste Zeugenvernehmung. Schwurgericht und Strafverfolgungsbehörde181 hatten vereinbart, zu Beginn der Hauptverhandlung sogenannte »Milieuzeugen«182 zu hören, die den Prozessbeteiligten über das Gesamtgeschehen in Auschwitz Aufklärung geben konnten. Überlebende wie Otto Wolken, Häftlingsarzt im Quarantänelager BIIa in Birkenau, dessen Vernehmung183 sechs Stunden dauerte, Ella Lingens, Hermann Langbein184, der über vier Stunden aussagte, und SS-Angehörige wie Hans-Wilhelm Münch (Hygiene-Institut), Joachim Caesar (Leiter der Abt. Landwirtschaft) und Konrad Morgen (Reichskriminalpolizeiamt, später SS-Polizei-Gericht Krakau) informierten die Prozessbeteiligten über die Ereignisse im Lager.

6.4. Stimme der Opfer

Die Geschichte des Tonbandmitschnitts des Auschwitz-Prozesses lässt sich aufgrund der schlechten Quellenlage schwer rekonstruieren. Auf Anregung des Vorsitzenden des Schwurgerichts ist in Anbetracht der voraussichtlichen Dauer des Großverfahrens gegen 23 Angeklagte Ende 1963 wohl durch Bauer beim Generalbundesanwalt angefragt worden, ob eine Aufnahme der Zeugenvernehmungen auf Tonband in der Hauptverhandlung zulässig sei. Einem Vermerk Bauers vom 23. Dezember 1963185 zufolge erging von Karlsruhe die Mitteilung, der BGH werde am 4. Februar 1964 eine Entscheidung zur Tonbandfrage treffen, die abzuwarten sei.

In der Entscheidung legte der BGH186 dar, eine Aufnahme der Zeugenvernehmungen sei zulässig, wenn der Verwendungszweck des Mitschnitts klar bestimmt und den Aussagepersonen bekannt gemacht sei und wenn Zeugen ihr ausdrückliches oder stillschweigendes Einverständnis zur Aufnahme ihrer Vernehmung auf Tonband gegeben hätten. Der BGH hatte über eine Rüge zu befinden, die die StA b. LG Darmstadt in ihrer Revision erhoben hatte. In einem Strafverfahren hatte das Landgericht »in der Hauptverhandlung Teile der Einlassung der Angeklagten sowie der Zeugenaussagen und der gutachtlichen Äußerung des Sachverständigen auf Tonband aufgenommen und dieses Tonband bei der Urteilsberatung verwertet«.187 Gerügt worden war die Verletzung der §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO.188

Dem BGH zufolge ist das in den Beratungen genutzte Tonband, das die in der Hauptverhandlung gemachten Aussagen enthielt, den Notizen des Berichterstatters oder einem auf Anordnung des Vorsitzenden aufgenommenen Stenogramm gleichzusetzen. Da das Tonband ebenso wie die Notizen des Berichterstatters allein dazu bestimmt seien, »als Gedächtnisstütze für eine möglichst getreue Wiedergabe und Vergegenwärtigung in der Hauptverhandlung gemachter Aussagen bei der Urteilsberatung zu dienen«189, liege eine Verletzung von § 261 StPO nicht vor.

Die Entscheidung des BGH kam gerade zur rechten Zeit für das Frankfurter Schwurgericht, das sich in dem Großverfahren vor eine kaum zu bewältigende Aufgabe gestellt sah. Mit Beginn der Zeugenvernehmungen (24.2.1964, 19. Verhandlungstag) lief mit Zustimmung der vor Gericht erschienenen Aussagepersonen ein Tonband mit. Der Vorsitzende fragte am Anfang der Einvernahme die Zeugen, ob sie damit einverstanden seien, dass zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts ihre Vernehmung aufgenommen werde. Bis auf die Zeugen Albert Stenzel190, Józef Gabis191 und Czesław Sowul192 haben alle anderen ihr Einverständnis erklärt. Von 34 Zeugen sind die Aussagen wohl aus technischen Gründen nicht aufgezeichnet worden.

Anzumerken ist, dass die Verlesung von Schriftstücken, die zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden, generell nicht auf Tonband aufgenommen worden ist, gleichviel ob es sich um Vernehmungsniederschriften, Urkunden oder Gutachten193 gehandelt hatte. Gelöscht wurden die Vernehmungen von Fritz Putzker194 (Häftling Nr. 103.792), Kurt Jurasek195 (SS-Apotheke), Fenny Hermann196 (Häftling Nr. 38.434), Friedrich Schlupper197 (Lagerverwaltung) und Emanuel Schäfer198 (SS-Oberführer). Nach Angaben des Beisitzenden Richters Josef Perseke199 und der Geschworenen Erna Grob200 wurde bei den Beratungen des Gerichts der Tonbandmitschnitt nur gelegentlich herangezogen. Bei der Absetzung des Urteils (Oktober 1965 bis März 1966) stützte sich Perseke ausschließlich auf seine eigene Mitschrift.

Seitens der Verteidigung wurden gegen die Aufnahme der Vernehmungen auf Tonband keine Bedenken vorgebracht. Ein Jahr nach dem Beginn der Zeugenvernehmungen beantragten jedoch mit Schriftsatz vom 18. Februar 1965201 (auf der Sitzung vom 25.2.1965) die RAe Laternser und Steinacker, die Tonbandaufnahmen zur Auswertung für die Verteidigung zur Verfügung zu stellen bzw. hilfsweise Abschriften durch das Gericht erstellen zu lassen und diese der Verteidigung zugänglich zu machen. Dem Antrag schlossen sich weitere 15 Verteidiger und der Vertreter der Nebenkläger, RA Christian Raabe202, an. In Anbetracht der Prozessdauer und des Umfangs der Zeugenaussagen hielten es die Verteidiger für erforderlich, für die Ausarbeitung ihrer Plädoyers den Mitschnitt als Gedächtnisstütze beiziehen zu können. Ihre eigenen Notizen erachteten sie als nicht ausreichend. In ihrem Antrag erhoben Laternser/Steinacker Einwände gegen die Entscheidung des BGH, die Tonbandaufnahme den Notizen des Berichterstatters gleichzustellen. Da die Aufnahme die Aussagen der Zeugen »objektiv« festhalte, sie wörtlich und getreu wiedergebe, sei sie den Notizen, die »subjektiv gefärbt sind oder es zumindest sein können«, nicht gleichzusetzen. Wohl habe die Verteidigung unzweifelhaft »keinen Anspruch auf Einsicht« in die vom Gericht gemachten Notizen, in den die Zeugenaussagen unverändert und lückenlos wiedergebenden Mitschnitt aber schon. Die Verteidiger wiesen auf einen weiteren Umstand hin. Die Aufnahme der Zeugenaussagen auf Tonband habe dem Gericht, da es sich anders als die Verteidigung keine ausführlichen Notizen habe machen müssen, einen Vorteil verschafft, insofern das Gericht seine volle Aufmerksamkeit den Zeugenaussagen habe widmen können. Darüber hinaus habe die Verwendung des Tonbands den Ablauf der Zeugenvernehmung zum Nachteil der Verteidigung beschleunigt. Hätte das Gericht sich allein auf seine Notizen bei der Urteilsfindung stützen müssen, sich also nicht auf die Tonbandaufnahmen verlassen können, wäre die Befragung der Zeugen weniger schnell verlaufen. Die gemäß der BGH-Entscheidung festgelegte Zweckbestimmung der Tonbandaufnahme schloss nach Laternsers und Steinackers Auffassung die Verteidigung nicht aus. Da die Tonbandaufnahmen der Rechtsfindung des Gerichts dienten und sowohl StA als auch Verteidigung an der Rechtsfindung teilnähmen, erstrecke sich die Einwilligung der Zeugen zur Aufnahme ihrer Aussagen auch auf die Verteidigung.

Auf der Sitzung vom 5. April 1965 verkündigte das Schwurgericht den Beschluss, den Antrag zurückzuweisen, »da die Tonbänder nur zur Gedächtnisstütze des Schwurgerichts eingeschaltet und damit Bestandteil der Notizen des Berichterstatters geworden sind und andere Prozessbeteiligte keinen Anspruch auf ihre Überlassung haben«.203 Im Urteil wies das Gericht zwei Hilfsbeweisanträge von Laternser/ Steinacker auf Anhörung der Tonbandaufnahme zweier Zeugen mit dem Hinweis zurück, das Tonband sei »kein Beweismittel«204 im Sinne der Strafprozessordnung, es sei »nur eine Ergänzung der Notizen des Berichterstatters«205 bzw. nur ein »Teil der Notizen des Berichterstatters«206 und diene »nur zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts«.

Die Verteidigung hat in der Ablehnung ihres Antrags vom 18. Februar 1965 eine (in einem für die Entscheidung des Gerichts wesentlichen Punkt) unzulässige Beschränkung und folglich einen absoluten Revisionsgrund gesehen. In ihren Revisionsbegründungen haben deshalb die RAe Gerhardt207, Göllner208, Staiger209, Stolting II/Eggert210 und Laternser/ Steinacker211 gemäß § 338 Ziffer 8 StPO diese Auffassung vorgetragen, vor dem BGH aber keinen Erfolg gehabt. Dem BGH zufolge war der Revisionsangriff unbegründet. Da der Tonbandmitschnitt nicht »Bestandteil der Akten im Sinne des § 147 StPO«212 geworden sei, habe kein »Anspruch auf Überlassung der Tonbänder oder Abschriften von ihnen«213 bestanden. In seiner Entscheidung wies der BGH eine von Adolf Arndt (1904 – 1974) vorgetragene Auffassung zurück, auf die RA Staiger in seiner Revisionsbegründung sich berufen hatte.

Im Zusammenhang mit Erörterungen über die Brauchbarkeit und Verwendbarkeit des Tonbands im Strafprozess214 ist allgemein davon ausgegangen worden, dass der Tonbandmitschnitt Bestandteil der Akten sei und somit allen Prozessbeteiligten zur Verfügung stehe. Den gerichtsinternen Gebrauch der Tonbandaufnahme hielt Arndt in zwei in den Jahren 1962 und 1966 veröffentlichen Beiträgen für bedenklich, da diese Zweckbestimmung der Tonbandaufnahme »dem Grundsatz der Transparenz und der Öffentlichkeit jeder Ausübung staatlicher Gewalt in einem Rechtsstaat nicht gerecht«215 werde. Arndt führte aus: »Entweder ist es überhaupt unzulässig, dass das Gericht in der Beratung sein Gedächtnis durch das Abspielen von Tonbändern [...] überprüft, weil es allein ›aus dem Inbegriff der Verhandlung‹ seine Überzeugung schöpfen darf (§ 261 StPO), oder die Tonbandaufnahme gehört zu dieser Verhandlung und ihrem ›Inbegriff‹, dann dürfen die am Verfahren Beteiligten, insbesondere Verteidiger und Staatsanwalt, nicht davon ausgeschlossen werden. Das Tonband [...] [ist] eine in der Verhandlung und durch sie entstandene Aufzeichnung des Gerichts, um jederzeit eine sinnlich wahrnehmbare Reproduktion der Verhandlung zu ermöglichen, nicht aber [ist sie] eine private Gedächtnishilfe eines einzelnen Richters für sich persönlich.«216 Der Grundsatz der Offenheit in einem Verfahren gebiete es, so Arndt, dass dem Gericht kein Wissen bzw. kein Mittel des Wissens zur Verfügung stehen solle, »das nicht auch für den Verteidiger und den Staatsanwalt zugänglich und nachprüfbar«217 sei.

 

Anders der BGH. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gehöre »eine lediglich als Gedächtnisstütze angefertigte Tonbandaufnahme [...] nicht zum Inbegriff der Verhandlung im Sinne des § 261 StPO« und werde »nicht als solche Bestandteil der Akten gemäß § 147 StPO«.218 Entscheidend sei der Zweck der Tonbandaufnahme, über den allein das Gericht bestimme. Der Zweck sei maßgeblich dafür, ob das Tonband Aktenbestandteil werde. Da das Gericht die Tonbänder unmissverständlich »nur zu seiner Gedächtnisstütze für ein in der Hauptverhandlung [...] erworbenes Wissen aufgenommen« habe, seien die Bänder »nicht selbst Erkenntnisquelle oder Teile der Sitzungsniederschriften, sondern ähnlich wie Notizen, Stenogramme usw. nur ein technisches Hilfsmittel für das Gedächtnis, demnach auch nicht Bestandteil der Akten«.219

Der als Gedächtnisstütze in den Beratungen verwendete Tonbandmitschnitt diente dem BGH auch als Argument für die Zurückweisung der mit gutem Grund in dem Großverfahren vorgebrachten Rüge, das Gericht habe über das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht »nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung« (§ 261 StPO) entschieden. Den angesichts der Prozessdauer und der Zeugenanzahl unstreitig bestehenden Erinnerungsschwierigkeiten des Gerichts hatte dem BGH zufolge durch das technische Hilfsmittel Tonbandaufnahme begegnet werden können. »Alle Mitglieder des Gerichts«, führte das Revisionsgericht aus, »hatten [...] die Möglichkeit, ihre Erinnerung durch Abhören des Tonbandes wieder aufzufrischen, sich jeden Verhandlungsteil wieder genau zu vergegenwärtigen und dann aus eigenem Wissen zu beraten und abzustimmen.«220 Ob bei der vom BGH als unbedenklich erachteten Notwendigkeit der Verwendung von Hilfsmitteln in der Urteilsberatung noch von freier Überzeugung die Rede sein kann, nach der das Gericht gemäß § 261 StPO über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheiden muss, hat Hofmeyer in einem Vortrag auf dem 46. Deutschen Juristentag in Frage gestellt. Im Rückblick auf das »Mammut-Verfahren«, wie er es nennt, gelangte Hofmeyer zu der Einsicht, die Art der Urteilsfindung im Auschwitz-Prozess grenze »sehr hart an ein schriftliches Verfahren« und sei »daher äußerst bedenklich«.221 Er legte seine rechtlichen Bedenken ausführlich dar: »Die Strafprozessordnung schreibt vor, dass das Urteil aufgrund des frischen und unmittelbaren Eindrucks des Gerichts von den Angeklagten, den Zeugen und den Sachverständigen gefällt werden soll. Aus diesem Grund verbietet sie eine Unterbrechung des Prozesses auf eine Dauer von mehr als 10 Tagen. Mutet es aber nicht geradezu grotesk an, dass auf der einen Seite ein Verfahren nicht länger als 10 Tage unterbrochen werden soll, während auf der anderen Seite geurteilt werden muss über Aussagen, die fast 2 Jahre zurückliegen? Es ist praktisch ausgeschlossen, dass die einzelnen Gerichtsmitglieder, insbesondere die Laienrichter, nach so langer Zeit die wörtlichen Aussagen und die Person eines jeden Zeugen noch im Gedächtnis haben. Man muss notgedrungen bei der Beratung von Aufzeichnungen der einzelnen Gerichtsmitglieder und eventuell von Tonbandaufnahmen Gebrauch machen, um überhaupt den gesamten Prozessstoff wieder richtig in Erinnerung zu bringen.«222

Die 103 Tonbänder enthalten neben den Vernehmungen von 320 Zeugen die Plädoyers von Staatsanwalt Kügler223, RA Kaul224, zehn Verteidigern225, die Replik von Kaul226, die Schlussworte der Angeklagten227 sowie die zehneinhalbstündige mündliche Urteilsbegründung.228

Der Verlauf der Beweisaufnahme ließe sich anhand des Tonbandmitschnitts, der Mitschrift des Berichterstatters Perseke229 und der Vernehmungsniederschriften aus dem Vorverfahren nachzeichnen. Anzumerken bleibt, dass die auf Tonband mitgeschnittene Befragung der Zeugen durch das Gericht, die StA, die Vertreter der Nebenkläger und die Verteidigung die immensen Schwierigkeiten vor Augen führt, die ein Beweis der gegen die Angeklagten erhobenen Tatvorwürfe mit sich brachte. Da nach dem Strafprozessrecht der Nachweis der individuellen Schuld des einzelnen Angeklagten zu erbringen war, erwiesen sich angesichts der gebotenen Vorhalte nicht wenige Aussagen als zweifelhaft.

6.5. Ortsbesichtigung hinter dem Eisernen Vorhang

Die Vertreter der Nebenkläger, die durch die Herbeischaffung von Beweismitteln (Urkunden und Zeugen) eine bedeutsame Rolle im Verfahren spielten, die Stimme der Opfer zu Gehör brachten, mithin mehr als nur Gehilfen der StA darstellten, waren für das Zustandekommen des Ortstermins in Auschwitz von ausschlaggebender Bedeutung. Mit Schriftsatz vom 8. Juni 1964 stellte RA Ormond Antrag230 auf Augenscheinseinnahme des Tatortes Auschwitz. Die Ortsbesichtigung sollte als Teil der Beweisaufnahme zur Klärung von Fragen beitragen, die im Verlauf der Hauptverhandlung sich ergeben hatten. Zweifel der Verteidigung an der Glaubwürdigkeit von Zeugen, am Beweiswert von Aussagen, ließen sich am ehesten durch einen Ortstermin in Auschwitz zerstreuen. RA Kaul231 schloss sich mit Schriftsatz vom 11. Juni 1964 Ormonds Antrag an und versuchte, die von Vertretern der Verteidigung vorgebrachten Bedenken bezüglich der Vornahme einer Amtshandlung eines deutschen Gerichts auf dem Boden eines anderen Staates zu entkräften.

Mit Schriftsatz vom 22. Juni 1964 legten die RAe Laternser/ Steinacker ihre Bedenken dar. »In materieller Beziehung« sei eine Ortsbesichtigung 20 Jahre nach dem Tatgeschehen »ein Widerspruch in sich selbst«, sei doch der Tatort durch die Einrichtung eines Museums auf dem Lagergelände, durch Instandsetzungen, durch »Verdeutlichungen« derart verändert worden, dass eine »Gewinnung sicherer Beweisanzeichen nach 20 Jahren [...] nicht mehr einwandfrei möglich« scheine. »In formeller Beziehung« setze eine »Durchreise durch die SBZ« bzw. eine »Durchreise durch die Tschecho-Slowakei« eine »Vereinbarung mit der SBZ« bzw. eine zwischenstaatliche Vereinbarung mit Prag voraus. Ebenso habe die Durchführung einer richterlichen Tätigkeit auf polnischem Boden eine Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Voraussetzung. Überdies sei eine »Reise hinter den Eisernen Vorhang [...] unter den augenblicklichen politischen Verhältnissen in keinem Falle zumutbar«.232 Gleichfalls mit Schriftsatz vom 22. Juni 1964 gab die Strafverfolgungsbehörde eine »Stellungnahme« ab, in der sie die Durchführung eines Lokaltermins bejahte. Eine Augenscheinseinnahme schien der StA im Interesse der Wahrheitsfindung zweckdienlich, weil sie »im besonderen Maße geeignet« sei, »dem Gericht eine eindeutige Kenntnis der räumlichen Gesamtsituation und räumlichen Zusammenhänge zu geben«.233

Ormond234 war es gewesen, der in Verhandlungen mit Jan Sehn, dem Beauftragten der polnischen Regierung, die Möglichkeiten einer Ortsbesichtigung durch das Schwurgericht erörtert hatte. In der Anlage zu seinem Schreiben vom 8. Juni 1964 übergab er dem Gericht eine vom polnischen Minister der Justiz erteilte Vollmacht Sehns235, dem Frankfurter Schwurgericht gegenüber zu erklären, die Regierung der Volksrepublik Polen wolle einen etwaigen Antrag des Gerichts auf Abhaltung eines Ortstermins wohlwollend prüfen. Das Gericht hatte über die gestellten Anträge236 zu entscheiden. Mit Schreiben vom 23. Juni 1964 wandte es sich an den Hessischen Minister der Justiz, stellte den Sachverhalt dar und bat um die Prüfung der Frage, »ob von Seiten des Ministeriums geeignete Schritte unternommen werden sollen, eine Amtshandlung des Schwurgerichts im Raum des polnischen Staates zu ermöglichen«.237 Das Justizministerium wandte sich mit Schreiben vom 30. Juni 1964 an den Bundesminister der Justiz und hob hervor, dass die Frage, »ob ein deutsches Schwurgericht in Polen Amtshandlungen vornehmen« könne, einer »Klärung auf diplomatischem Wege« bedürfe, weshalb eine »Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zu der Frage« herbeizuführen sei, »ob es auf diplomatischem Wege möglich ist, mit der polnischen Regierung Verhandlungen über einen etwaigen Augenscheinstermin in Auschwitz und den Nebenlagern durch das Schwurgericht«238 zu führen. Am 23. Juli 1964 fand eine Ressortbesprechung239 im Bundesministerium der Justiz wegen der Behandlung der Frage des Rechtshilfeersuchens betr. Lokaltermin in Auschwitz statt. Vertreter des Bundesministeriums der Justiz, des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums des Innern und des Bundeskanzleramtes nahmen an der Besprechung teil. Das Auswärtige Amt und das Bundesjustizministerium sahen die Möglichkeit, mit der Volksrepublik Polen, mit der die BRD keine diplomatischen Beziehungen unterhielt, eine Vereinbarung bezüglich des geplanten Ortstermins zu treffen. Mit Schnellbrief vom 31. Juli 1964240 an den Hessischen Minister der Justiz bat das Bonner Ministerium um eine erneute Stellungnahme des Schwurgerichts, die dieses mit Datum vom 21. August 1964241 vorlegte. Eine Entscheidung über die Notwendigkeit einer Beweiserhebung am Tatort, wie sie von den Bonner Stellen erwartet wurde, traf das Gericht jedoch noch nicht. Die Situation war unklar: Das Auswärtige Amt machte die Aufnahme von Verhandlungen mit Polen von dem ausstehenden Beschluss des Schwurgerichts abhängig. Das Schwurgericht wiederum betrachtete den Abschluss einer zwischenstaatlichen Vereinbarung als Voraussetzung für einen eigenen Beschluss über die von Ormond und anderen gestellten Beweisanträge.

Nachdem das Gericht am 16. Oktober 1964 Untersuchungsrichter Düx242 über seine Wahrnehmungen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz anlässlich einer Auschwitz-Reise im Juli 1963243 befragt und Vorsitzender Richter Hofmeyer bei einer Besprechung im Bundesministerium der Justiz244 am 21. Oktober 1964 eine Klärung offener Fragen erlangt hatte, beschlossen die Frankfurter Richter am 22. Oktober 1964245, durch ein richterliches Mitglied des Schwurgerichts als beauftragten Richter eine Augenscheinseinnahme durchführen zu lassen. Eine zwischenstaatliche Vereinbarung erachtete das Gericht jedoch als notwendige Voraussetzung für die Durchführung des Lokaltermins.

Da die Ortsbesichtigung nicht von dem gesamten Schwurgericht, sondern durch einen beauftragten Richter durchgeführt werden sollte, war die in Auschwitz vorzunehmende Beweiserhebung nicht Teil der Hauptverhandlung. Die Anwesenheit der Prozessbeteiligten war (§§ 224, 225 StPO) nicht vorgeschrieben. Den Vertretern der Verteidigung und den auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten wurde anheimgestellt, an der kommissarischen Augenscheinseinnahme teilzunehmen. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1964246 an den polnischen Justizminister ersuchte das Gericht, dem beauftragten Richter eine Vornahme der Augenscheinseinnahme zu genehmigen. Auf einer Besprechung in Frankfurt am Main, die am 2. Dezember 1964 stattfand und an der von Seiten der Regierung Polens die Beauftragten Jan Sehn und Eugeniusz Szmulewski (1912 – 1990), von Seiten des Gerichts Hofmeyer sowie je ein Mitarbeiter des Bundesjustiz- und Außenministeriums teilnahmen, erklärten die Vertreter der polnischen Regierung247 das Einverständnis des polnischen Ministers der Justiz mit den im Schreiben vom 27. Oktober 1964 vorgebrachten Wünschen der Frankfurter Richter. Mit Schreiben vom 2. Dezember 1964248 gab der Justizminister Polens seine Einwilligung zur Vornahme der Ortsbesichtigung, somit zur Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit auf polnischem Boden.

Die Teilnehmer249 am Lokaltermin flogen am 12./13. Dezember 1964 von Stuttgart über Wien nach Warschau und setzten die Reise per Bus nach Krakau fort. Am Morgen des 14. Dezember 1964 fuhren sie nach Oświęcim und wurden von Sehn, Szmulewski und dem Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau Kazimierz Smoleń (1920 – 2012) willkommen geheißen. Sehn hielt eine Ansprache und endete mit den Worten: »Und nun, Herr Amtsgerichtsrat Hotz, bitte, walten Sie Ihres Amtes.«250 Hotz hatte einen Aufgabenkatalog mit rund 40 Fragen ausgearbeitet, in dem er neben den Zeugen, auf welche die zu prüfenden Beweistatsachen zurückgingen, auch die entsprechenden Angeklagten aufgeführt hatte.

 

Der Fragenkatalog und das am 7. Januar 1965 verlesene dreiundzwanzigseitige richterliche Protokoll251 der Augenscheinseinnahme, dem in der Anlage 37 Fotos beigefügt sind, gibt Aufschluss über das Bemühen des beauftragten Richters252, die durch die Aussagen der Zeugen aufgekommenen Fragen und Zweifel anhand einer genauen Besichtigung des Tatorts zu klären. Sichtverhältnisse wurden überprüft, Sichtmöglichkeiten durch das Abmessen der Örtlichkeiten genauestens getestet, die Erkennbarkeit von Personen durch Sehproben verifiziert, die Hörbarkeit von Stimmen in den Zellen von Block 11 experimentell festgestellt. Die beim Ortstermin gewonnenen Erkenntnisse253 bestätigten im Großen und Ganzen die Aussagen der Zeugen.

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