Auschwitz vor Gericht

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5. Anklage gegen 24 NS-Verbrecher

Im April 1963 legte die Verfolgungsbehörde in ihrer 700 Blatt umfassenden Schwurgerichtsanklage112 das Ermittlungsergebnis vor, stellte somit bei der für die Eröffnung von Schwurgerichtsverfahren zuständigen Strafkammer des LG FFM Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens gegen 24 Angeschuldigte wegen Mordes. Die Verfahren gegen vier Beschuldigte, Fries, Rakers, Uhlenbroock und Staller, waren auf Antrag der StA113 durch Beschluss der 3. Strafkammer des LG FFM114 vorläufig eingestellt bzw. die Angeschuldigten außer Verfolgung gesetzt worden.

1. Fries war nicht nachzuweisen, dass er sich mit Entscheidungsbefugnis an Selektionen auf der Rampe beteiligt hatte. Seine Einlassung, auf der Rampe nur Handwerker für Arbeitskommandos ausgesucht zu haben, war dem Beschuldigten nicht zu widerlegen. Die StA wertete Fries’ Tätigkeit auf der Rampe als Beihilfe. Da Fries bereits von einem Nürnberger Schwurgericht zu 13 Zuchthaus verurteilt worden war, eine mögliche erneute Bestrafung im Frankfurter Verfahren mithin »nicht ins Gewicht« fiel, erschien der StA die »vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 154 StPO geboten«.

2. Im Falle Rakers, der vom LG Osnabrück wegen seiner im KZ Sachsenhausen und in Auschwitz verübten Verbrechen lebenslanges Zuchthaus erhalten hatte, war die Strafklage verbraucht.

3. Uhlenbroock, nur wenige Wochen Standortarzt in Auschwitz (August/September 1942), war nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörde »nicht hinreichend verdächtig, [...] an der [...] massenweisen Tötung von Menschen beteiligt gewesen zu sein«, da keine Zeugen zu ermitteln waren, die seine Beteiligung hätten bekunden können. Gegen die Außerverfolgungsetzung Uhlenbroocks wandte sich Hermann Langbein in mehreren Briefen an die StA. Langbein war der Überzeugung, dass der kurzzeitige Standortarzt mitverantwortlich war für die Ende August 1942 durchgeführte große Selektion im Häftlingskrankenbau. Wenig erfreut über Langbeins massive Kritik antwortete der Sachbearbeiter Vogel mit Schreiben vom 3. September 1963. Vogel wies den Kritiker Langbein darauf hin, das deutsche Strafrecht kenne weder eine »›Funktionshaftung‹« noch eine »Verdachtsstrafe« und machte Ausführungen zur Rechtsauffassung der StA, die in III.2. dieses Buches erörtert wird.115

4. Dem Funktionshäftling Staller, der eine Vielzahl von Häftlingen misshandelt hatte, war nicht nachzuweisen, dass einer der von ihm geschlagenen Lagerinsassen den Tod durch seine Hand gefunden hatte.

Angeklagt wurden 1. Baer, 2. Mulka, 3. Höcker, 4. Boger, 5. Stark, 6. Dylewski, 7. Broad, 8. Schoberth, 9. Schlage, 10. Hofmann, 11. Kaduk, 12. Baretzki, 13. Bischoff, 14. Breitwieser, 15. Lucas, 16. Frank, 17. Schatz, 18. Capesius, 19. Klehr, 20. Scherpe, 21. Nierzwicki, 22. Hantl, 23. Neubert und 24. Bednarek, in Auschwitz in den Jahren 1940 bis 1945 »durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen [...] Menschen getötet zu haben«.116 Die den Angeschuldigten zur Last gelegten Handlungen erfüllten den Tatbestand des Mordes § 211 aF und nF sowie §§ 43 aF, 47 aF, 74 aF StGB117. Als Beweismittel führte die StA die Einlassungen der Angeschuldigten, die Vernehmungsniederschriften von 252 Zeugen118, 17 Urkunden enthaltende Anlagebände, Lagerpläne, Fotos sowie eine Anzahl von Beiakten auf.

Das Gesamtergebnis ihrer Ermittlungen stellte die Anklagebehörde in fünf Abschnitten dar. In den Abschnitten B bis D (Allgemeiner Teil) machte sie auf der Grundlage von Urkunden, Vernehmungsniederschriften und der vorliegenden Forschungsliteratur119 Ausführungen über Organisation und Aufgaben der SS, die Konzentrationslager im Allgemeinen und das Lager Auschwitz im Besonderen, in Abschnitt E wurden die Straftaten der Angeschuldigten aufgeführt. Die genauen und zutreffenden Erkenntnisse der Ankläger über das Gesamtgeschehen in Auschwitz, die Verwaltungsstruktur des Lagers, die Funktionen und Dienststellungen der Angehörigen der Lageradministration ermöglichten ihr eine präzise Darlegung der einzelnen Tätigkeitsbereiche, Verantwortlichkeiten, Befehlsgewalten und somit eine exakte Darstellung und Beurteilung der Tatbeiträge der einzelnen Angeschuldigten. Da die vormaligen Angehörigen der Auschwitzer SS-Besatzung sowie der Funktionshäftling (Bednarek) wenig zur Erhellung der Tatumstände beitrugen, im Gegenteil in ihren Einlassungen oftmals versuchten, Tatumstand und Tathergang zu entstellen, war die Ermittlung der Sachzusammenhänge durch die Anklagevertretung von herausragender Bedeutung. Die genaue Kenntnis der Befehlswege, der Unterstellungsverhältnisse, der Tätigkeitsbereiche und Zuständigkeiten erlaubte es den Frankfurter Staatsanwälten, das »Ausmaß von Tat und Schuld des einzelnen« festzustellen, indem sie »seine Funktionen innerhalb der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie« herausarbeiteten »und ihm seine verbrecherische Beteiligung im einzelnen konkret«120 nachwiesen. Die Darlegung der Ermittlungsergebnisse bezüglich der ehemaligen Adjutanten Mulka und Höcker sowie der damaligen SS-Zahnärzte Frank und Schatz, des SS-Arztes Lucas und des SS-Apothekers Capesius macht auf eindringliche Weise deutlich, dass der Nachweis der individuellen Schuld nur möglich war vor dem Hintergrund des Gesamtgeschehens, das die Strafverfolgungsbehörde auf eindrucksvolle Weise zu rekonstruieren wusste. Im Falle der drei Ärzte stützte sich die StA ausschließlich auf Aussagen ehemaliger Angehöriger der SS und den sich hieraus ergebenden zwingenden Schlussfolgerungen, die aus dem darlegten Sachzusammenhang zu ziehen waren.

Mit Verfügung vom 6. August 1963121 sowie in ihrer Schwurgerichtsanklage gegen Wilhelm Burger und Josef Erber122, ebenfalls vom 6. August 1963, beantragte die StA, das Verfahren gegen Burger und Erber mit dem Verfahren gegen Baer u.a. zu verbinden, da der Sachzusammenhang die gemeinschaftliche Verhandlung und Entscheidung rechtfertige. Die 3. Ferien-Strafkammer beim LG FFM lehnte mit Beschluss vom 10. September 1963 den Antrag ab, wogegen die Anklagevertretung erfolglos Beschwerde123 einlegte.

5.1. Hauptverfahren

Die 3. Strafkammer beim LG FFM eröffnete mit Beschluss vom 7. Oktober 1963124 das Hauptverfahren gegen 23 Angeschuldigte. Richard Baer war am 17. Juni 1963 in der Untersuchungshaftanstalt an einem Herz- und Kreislaufversagen125, noch nicht 52-jährig, verstorben. Der Eröffnungsbeschluss weist nicht unerhebliche Abweichungen in der rechtlichen Qualifikation der Taten auf, die den Angeschuldigten zur Last gelegt wurden. Während die StA Anklage wegen Mordes gegen alle 24 Angeschuldigte erhoben hatte, befand das LG FFM nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen Boger, Dylewski, Broad, Hofmann, Kaduk, Baretzki, Bischoff, Capesius, Klehr, Nierzwicki und Bednarek des Mordes, hingegen Mulka, Höcker, Schoberth, Schlage, Stark, Breitwieser, Lucas, Frank, Schatz, Scherpe, Hantl, Neubert (Dylewski und Broad in besonderen Fällen) lediglich der Beihilfe zum Mord verdächtig. Die StA legte keine Beschwerde ein, um das Verfahren nicht zu verzögern.126

5.2. Kein Jude kann den Vorsitz führen

Der Präsident des LG FFM bestimmte mit Verfügung vom 8. Oktober 1963 »den Zusammentritt des Schwurgerichts zu seiner nächsten, der 3. Tagung, auf den 20. Dezember 1963«.127 Laut Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1963128 war Senatspräsident Hans Forester (*1902) zum Vorsitzenden der 3. Schwurgerichts-Tagung bestellt. Forester machte jedoch am 9. Oktober 1963129 gemäß § 30 StPO Anzeige von dem Verhältnis, selbst »rassisch Verfolgter« zu sein. Außerdem sei sein Bruder »in dem KZ Lublin/Majdanek umgebracht« und seine Mutter in das »KZ Theresienstadt« verschleppt worden. Foresters Selbstanzeige beschied die 3. Strafkammer b. LG FFM positiv. Mit Beschluss vom 14. Oktober 1963130 wurde er »wegen Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung als Richter entbunden«. Fraglos hätten Verteidiger von einigen Angeklagten geltend gemacht, dass bei einem »Juden« auf der Richterbank ihre Mandanten die Besorgnis hegen mussten, bei Forester könnte Befangenheit vorliegen.

Auch der laut Geschäftsverteilungsplan des LG FFM für das Jahr 1963 als 2. Beisitzer der 3. Schwurgerichtsperiode zugeteilte Amtsgerichtsrat Johann Heinrich (Jan) Niemöller (*1925) zeigte am 11. November 1963131 an, Sohn von Martin Niemöller, der von 1938 bis 1945 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert gewesen war, zu sein. Obgleich Niemöller sich nicht für befangen hielt, rechtfertige das angezeigte Verhältnis die Annahme, dass die Angeklagten dies anders beurteilen würden. Auch Niemöller wurde mit Beschluss vom 13. November 1963132 wegen Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung als Richter an dem Verfahren entbunden.

Bereits am 1. Oktober 1963 hatten die Rechtsanwälte Hermann Stolting II (1911 – 1988) und Rainer Eggert (1931 – 2006) namens der Angeschuldigten Höcker und Nierzwicki Landgerichtsrat Richard Koch (1906 – 1996), Berichterstatter der 3. Strafkammer b. LG FFM, aus Besorgnis der Befangenheit133 abgelehnt. Laut Antrag der Verteidigung gehöre Koch »selbst zu dem Kreis der rassisch Verfolgten«, weshalb die Annahme naheliege, Koch habe »Verwandte, sonstige Angehörige oder Freunde und Bekannte in den Massenvernichtungslagern des sogenannten Dritten Reiches verloren«.134 Koch135 hielt sich selbst nicht für befangen, die 3. Strafkammer b. LG FFM erachtete den Ablehnungsantrag für unbegründet.136

 

Zum Vorsitzenden für die 3. Tagung des Schwurgerichts bestellte das Präsidium des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Beschluss vom 23. Oktober 1963137 Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer (1904 – 1992).138 Die beiden Beisitzer waren gemäß Geschäftsverteilung Landgerichtsrat Josef Perseke (1920 – 2005) und an der Stelle Niemöllers Amtgerichtsrat Walter Hotz (1917 – 1974). Hofmeyer ordnete die Zuziehung der Ergänzungsrichter Landgerichtsrat Werner Hummerich (1913 – 1997) und Landgerichtsrat Günter Seiboldt (1923 – 1977) an.

6. Auschwitz vor Gericht: Der Prozess

Die Hauptverhandlung begann am 20. Dezember 1963 im Plenarsaal der Stadtverordnetenversammlung des Frankfurter Rathauses139 gegen 22 Angeklagte, von denen neun in Haft140 waren. Das Verfahren gegen den Angeklagten Hans Nierzwicki war auf Antrag der StA vom 5. Dezember 1963141 mit Beschluss142 der 3. Strafkammer b. LG FFM vom 11. Dezember 1963 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten abgetrennt und gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt worden.143

Die Prozessbeteiligten

Schwurgericht: Vorsitzender Richter Hans Hofmeyer (1904 – 1992), Beisitzender Richter Josef Perseke (1920 – 2005) (Berichterstatter), Beisitzender Richter Walter Hotz (1917 – 1974), Ergänzungsrichter Werner Hummerich (1913 – 1997), Ergänzungsrichter Günter Seiboldt (1923 – 1977).

Geschworene: Else Häbich, Gerhard Baum, Gertrud Flach, Erna Grob, Wilhelm Hartung, Adolf Holzhäuser. Ergänzungsgeschworene: Ernst Kadenbach, Emma Kotzur, Elise Knodel, Ferdinand Link, Anna Mayer.

An die Stelle von Baum und Hartung traten Kadenbach und Kotzur.

Anklagevertretung: EStA Hanns Großmann (1912 – 1999), StA Georg Friedrich Vogel (1926 – 2007), StA Joachim Kügler (1926 – 2012), StA Gerhard Wiese (*1928).

Nebenklagevertretung: RA Henry Ormond (1901 – 1973)144 und RA Christian Raabe (*1934).

Nebenkläger: Yehuda Bacon (Israel, vormals Tschechoslowakei), Aron Bejlin (Israel, vormals Polen), Milton Buki (Brasilien, vormals Polen), Albert Ehrenfeld (Schweden, vormals Rumänien), Eugen Kiraly (Israel, vormals Rumänien), Werner Krumme (Bundesrepublik), Jelena Madaric (Jugoslawien), Noe Nysenbaum (Frankreich, vormals Polen), Sucher Torenhajm (Belgien, vormals Polen), Anna Sara Fels-Kupferschmidt (Niederlande), Luciano Mariani (Italien), Frederic A. Sandow (Fryderyk Adam Schneikart) (England, vormals Polen), Lajos Schlinger (Rumänien), Franziska Vesely (Österreich) und Mieczyslaw Kieta (Polen) (15 Nebenkläger; Klage gegen alle Angeklagten mit Ausnahme von Schoberth, Schlage und Bednarek)145 vertraten.

Nebenklagevertretung: RA Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981).146

Nebenkläger: Margarete Dombrowsky, Käthe Jaffe, Erwin Naphtali, Hans Spicker, Paula Rosenberg und Günter Schall (allesamt DDR). Klage gegen Mulka, Höcker und Klehr.

Die Nebenkläger, die Eltern, Kinder, Geschwister oder Ehegatten in Auschwitz verloren hatten, schlossen sich in den genannten Fällen der öffentlichen Klage der StA gegen die Angeklagten an.

Verteidigung: RA Rudolf Aschenauer (1913 – 1983) vertrat die Angeklagten Boger und Lucas; RA Georg Bürger (1926 – 2015) den Angeklagten Schlage; RA Rainer Eggert (1931 – 2006) die Angeklagten Mulka, Höcker, Lucas und Bednarek; RA Benno Erhard (1923 – 2011) den Angeklagten Stark; RA Hans Fertig (1929 – 2015) die Angeklagten Schlage, Klehr und Breitwieser; RA Eugen Gerhardt (*1928) die Angeklagten Baretzki und Neubert147; RA Gerhard Göllner (1907 – 1980) die Angeklagten Hofmann und Klehr; RA Rudolf Heymann (†1968) den Angeklagten Hofmann; RA Engelbert Joschko (1918 – 2012) die Angeklagten Schoberth, Baretzki und Hantl; RA Friedrich Jugl (1922 – 1976) den Angeklagten Kaduk; RA Hans Herbert Knögel (1924 – 1978) den Angeklagten Scherpe; RA Hans Laternser (1908 – 1969) die Angeklagten Broad, Frank, Schatz, Capesius und Dylewski; RA Herbert Ernst Müller (1915 – 1976) den Angeklagten Mulka; RA Herbert Naumann (1904 – 1971) den Angeklagten Hantl; RA Anton Reiners (1902 – 1982) die Angeklagten Kaduk und Scherpe; RA Hans-Joachim Rönsch den Angeklagten Bischoff148; RA Hans Schallock (1902 – 1965) die Angeklagten Boger, Bischoff und Neubert; RA Karl Heinz Staiger (1927 – 2007) die Angeklagten Stark, Schoberth und Hofmann; RA Fritz Steinacker (1921 – 2016) die Angeklagten Broad, Frank, Schatz, Capesius und Dylewski; RA Hermann Stolting II (1911 – 1988) die Angeklagten Mulka, Höcker und Bednarek; RA Wolfgang Zarnack (1902 – 1980) den Angeklagten Breitwieser.149

Um die prozessualen Schwierigkeiten des Großverfahrens zu meistern, hatte Vorsitzender Richter Hofmeyer laut Vermerk von RA Ormond vom 7. November 1963, der eine eineinhalbstündige »Aussprache« zwischen dem Schwurgerichtsvorsitzenden und dem Nebenklagevertreter festhält, zunächst die Absicht, Zeugen »für bestimmte Komplexe und Angeklagte« zu laden, »die Beweisaufnahme gegen einen oder mehrere Angeklagte« durchzuführen, »hierzu plädieren zu lassen und dann das Urteil« zu verkünden. Hofmeyer wollte Ormond zufolge eine »Abtrennung von Verfahren innerhalb des Gesamtverfahrens« erreichen, »so dass nach und nach immer weitere Angeklagte und deren Verteidiger aus dem Prozess ausscheiden«. Laut Ormond versprach sich der Vorsitzende »hiervon eine übersichtliche Handhabung und Erleichterung für die Abwicklung des Verfahrens«. Seine Absicht konnte Hofmeyer150 nicht verwirklichen, auch wenn er von der Richtigkeit einer solchen Prozessführung überzeugt war.

6.1. Beweisaufnahme

An drei Verhandlungstagen wurden die Angeklagten zur Person vernommen, am Ende des dritten Verhandlungstags (6.1.1964) verlas Berichterstatter Perseke, nach § 243 StPO den Eröffnungsbeschluss.151 Die Vernehmung der Angeklagten zur Sache endete nach zwölf Verhandlungstagen am 6. Februar 1964. Der Sitzungsniederschrift ist zu entnehmen, dass im Verlauf der Vernehmungen zur Sache seitens der StA eine Vielzahl von Urkunden in das Verfahren eingeführt wurde. Die Angeklagten, die durchweg die im Eröffnungsbeschluss aufgeführten Tatvorwürfe bestritten, konnten nicht umhin, die Echtheit der Urkunden, die oftmals ihre Unterschriften trugen, zu bestätigen. Durch Vorhalte auf der Grundlage des verfügbaren Beweismaterials versuchte die StA, die Verteidigungspositionen der Angeklagten zu erschüttern. Fragen von Seiten der Nebenklagevertreter beantworteten einige Angeklagte, wohl auf Anraten ihrer Verteidiger, nicht.

6.2. Zeithistorische Gutachten

Die StA informierte am 29. Januar 1964152 das Schwurgericht, sie beabsichtige, »an mehreren der [...] Sitzungstage zu Beginn der Beweisaufnahme vier Sachverständige gemäß § 245 StPO zu präsentieren«. Die von Fritz Bauer153 angeregten Gutachten, als wissenschaftliches Fundament der Beweiserhebung gedacht, sollten nach Auffassung der Strafverfolgungsbehörde allen Verfahrensbeteiligten ein Gesamtbild von dem Geschehen in der Zeit des Nationalsozialismus geben, Aufklärung über den geschichtlichen Hintergrund liefern. Nur auf der Grundlage einer umfassenden zeithistorischen Darstellung war nach Auffassung der StA eine zutreffende Bewertung der gegen die Angeklagten vorgebrachten Tatvorwürfe möglich.

In einer Besprechung im November 1962154 machte Bauer Sinn und Zweck der Gutachten deutlich. Seiner Ansicht nach hatte in vorausgegangenen NS-Prozessen die Verteidigung durch »prozessuale Argumente de[n] eigentliche[n] Sinn« der NS-Verfahren verschleiert. Mit dem Hinweis, das Gesamtgeschehen, der historisch-politische Kontext seien nicht in den Prozess eingeführt worden und könnten deshalb auch nicht zur Bewertung der den Angeklagten zur Last gelegten Taten zu Grunde gelegt werden, verfolge die Verteidigung die Strategie, die Handlungen der Täter zu isolieren, sie nicht als Teil des Gesamtgeschehens zu verstehen.155 Mit Hilfe der Sachverständigen ließen sich dagegen die allgemeinen politischen und historischen Vorgänge in die Hauptverhandlung einführen. Einmal zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, konnten die durch die Gutachten aufgeklärten historischen Hintergründe darüber hinaus dazu dienen, die »subjektiven Voraussetzungen bei den einzelnen Tätern« erklären zu helfen.

Die prozessuale Bedeutung der Gutachten unterstrich auch OStA Hanns Großmann in seinem Schlussvortrag, in dem er mehrfach auf die Expertisen der Sachverständigen Bezug nahm, sowie in einem ein Jahr nach dem Ende des Verfahrens gehaltenen Referat. Der Zweck der Gutachten sei gewesen, zeitgeschichtliche Erkenntnisse156 in die Hauptverhandlung einzuführen, »für die Urteilsfindung die historischen Zusammenhänge als Gegenstand der Hauptverhandlung auszuweisen«.157 Indem mittels der Gutachten das Gesamtgeschehen, in dessen Rahmen die Angeklagten gehandelt hatten, zum Verfahrensgegenstand gemacht wurde, war überdies eventuellen Einwänden der Verteidigung hinsichtlich des Umfangs des Prozessstoffes vorgebeugt. Wohl nicht zu Unrecht nahm die StA auch an, dass Prozessbeteiligte158 über die für die Wahrheitsfindung gebotene Sachkunde nicht verfügten.

Das Gericht159 bat sein Mitglied, Ergänzungsrichter Werner Hummerich, um eine Stellungnahme zu den geplanten Sachverständigengutachten. Im Unterschied zu einem Zeugen, der einzig Tatsachenbekundungen zu machen hat, gibt ein Sachverständiger Erkenntnisse, Auffassungen, Interpretationen, Schlussfolgerungen, Analysen zum Ausdruck. In einer Einschätzung (datiert: 26.1.1964) des angekündigten Gutachtens »Über Gliederung und Aufbau von SS und KZ«160 führte Hummerich aus, Tatsachen (historischer Provenienz) könnten allein auf der Grundlage von Urkundenbeweisen in die Hauptverhandlung eingeführt werden, nicht aber von Sachverständigen. Etwaige Deutungen und aus den dargelegten Sachverhalten zu ziehende Schlussfolgerungen lägen ausschließlich in der Zuständigkeit des Tatgerichts. Ein Gutachten161 sei folglich »in aller Regel [...] wertlos«, da das Gericht »keine Zeitgeschichte« treibe. »Allgemeine Gutachten« führten darüber hinaus zu einer »historisch zwar interessanten, für das Schwurgericht jedoch gefährlichen Ausweitung des Stoffes«.

Bezüglich des Problems der Echtheit und Vollständigkeit von Urkunden erblickte Hummerich hingegen eine Aufgabe der Historiker als sachverständige Zeugen. Ihm zufolge hätte die StA in Vorbereitung des Verfahrens eine von Sachverständigen mit den Methoden wissenschaftlicher Quellenkritik erarbeitete Zusammenstellung von Urkunden vorlegen müssen. Die sodann in den Prozess einzuführenden Urkunden hätten dem erkennenden Gericht »vernünftigen Aufschluss über die Machtbefugnisse der einzelnen Angeklagten und die der Vorgesetzten« geben können.

Die von der StA bezweckte Aufklärung über die den Angeklagten zur Last gelegten Taten hinaus fand beim Gericht keinesfalls Zustimmung. Hofmeyer machte dies rückblickend zu Beginn seiner mündlichen Urteilsbegründung sehr deutlich. So meinte er: »Es ist verständlich, dass in diesen Prozess der Wunsch hineingetragen worden ist, die Grundlagen zu einer umfassenden geschichtlichen Darstellung des Zeitgeschehens zu schaffen, die Hintergründe, die zu dieser Katastrophe führten, zu erkennen, die politische Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg aufzuzeigen und die Phänomene zu ergründen, die zu diesem furchtbaren Geschehen in Auschwitz führten. So wurden dem Gericht fleißige und umfassende Gutachten und zahlreiche Literatur vorgelegt, um ein möglichst vollständiges Bild der psychologischen, politischen, sozialen und rechtsphilosophischen Situation der Ära des nationalsozialistischen Staates zu ermöglichen. Die verwirrende Vielzahl der hieraus resultierenden Fragen durfte jedoch das Gericht nicht in die Versuchung bringen, den ihm vom Gesetz vorgeschriebenen Weg zu verlassen und sich auf Gebiete zu begeben, die ihm verschlossen sind. Aufgabe jedes Strafverfahrens ist es, die Begründetheit der Anschuldigungen zu überprüfen, die von der StA erhoben werden, und nur die Umstände zu erforschen, die zur Entscheidung über diese Angeschuldigten geklärt werden müssen. Das Gericht hat nicht das Recht, andere Ziele anzustreben, und würde, wenn es den ihm vorgezeichneten Weg verlassen wollte, in eine Uferlosigkeit geraten, die ihm eine Entscheidung unmöglich machen würde.«162

 

Die von den Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführten Erkenntnisse waren gleichwohl Grundlage der Feststellungen, die im allgemeinen, einführenden Teil des Urteils (1. und 2. Abschnitt) getroffen wurden. Ausdrücklich hob das Gericht hervor, es habe sich den »überzeugenden und fundierten Darlegungen« der Sachverständigen »in vollem Umfang«163 angeschlossen.

Nach Abschluss der Vernehmung zur Sache, am 7. Februar 1964 (16. Verhandlungstag), trug Hans Buchheim (1922 – 2016) (Institut für Zeitgeschichte, München) zum Beweisthema »Die Organisation von SS und Polizei unter nationalsozialistischer Herrschaft« sein Gutachten vor. Helmut Krausnick (1905 – 1990) und Martin Broszat (1926 – 1989) (beide Institut für Zeitgeschichte) erstatteten am 17. Februar 1964 (17. Verhandlungstag) ihre Gutachten über »Nationalsozialistische Judenpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Judenverfolgung« sowie über »Nationalsozialistische Polenpolitik« (Fortsetzung von Broszats Gutachten am 28. Februar 1964 (21. Verhandlungstag)). Über »Die Entwicklung der nationalsozialistischen Konzentrationslager« referierte Broszat am 21. Februar 1964 (18. Verhandlungstag). Da im Verlauf des Verfahrens seitens der Verteidigung die Frage des Befehlsnotstands in den Mittelpunkt gestellt wurde, trug Buchheim am 2. Juli 1964 (60. Verhandlungstag) zum Thema »Das Problem des Befehlsnotstandes bei den vom nationalsozialistischen Regime befohlenen Verbrechen in historischer Sicht« ein weiteres Gutachten164 vor. Am 14. August 1964 (77. Verhandlungstag) sprach Hans-Adolf Jacobsen (1925 – 2016) (Universität Bonn) über den »Kommissarbefehl«.

RA Friedrich Karl Kaul teilte mit Schreiben vom 21. Februar 1964165 dem Schwurgericht mit, dass er für den 28. Februar 1964 beabsichtige, den Sachverständigen Jürgen Kuczinski (1904 – 1997) (Humboldt-Universität Berlin) zu dem Beweisthema »Die Verflechtung staatssicherheitspolizeilicher und wirtschaftlicher Interessen als Grundlage für die Errichtung und den Betrieb des Konzentrationslagers Auschwitz und seiner Nebenlager«166 sowie als sachverständigen Zeugen zu dem Beweisthema »Die Widerstandsbewegung der Häftlinge im Bereich des KZ in Auschwitz, ihre Grundlage, Ziele und Wirksamkeit« den ehemaligen Auschwitz-Häftling und Mitglied des Lagerwiderstands Bruno Baum (1910 – 1971)167 präsent zu stellen. Nach zwei Ablehnungsanträgen der RAe Laternser und Steinacker168 wurde Kuczinski am 19. März 1964 wohl gehört, sein Gutachten aber durch Beschluss des Schwurgerichts169 wegen Einseitigkeit abgelehnt.

Die Gutachten170 lassen sich an dieser Stelle weder darstellen noch würdigen. Kurz eingegangen sei auf eine von dem Sachverständigen Buchheim vorgetragene Auffassung, die mit der ständigen Rechtsprechung, an der sich auch das erkennende Gericht orientierte, unvereinbar war. Ein Ergebnis der »Untersuchung der geistig-politischen Gesamtsituation«171, der »Geisteshaltung der Täter«172 aus historischer Sicht war Buchheim173 zufolge, dass die Vernichtungsbefehle der Staatsführung nicht als »Befehle in Dienstsachen«, vielmehr als »Befehle in Weltanschauungssachen«, nicht als militärische, sondern als politische Befehle zu verstehen waren, als Befehle mithin, die außerhalb aller normativen Ordnung standen. Das Befehls-Gehorsams-Verhältnis bei Befehlen in Weltanschauungssachen gründete nach ihm nicht mehr in übergeordneter staatlicher Normativität. Der Gehorsam des einen Mordbefehl ausführenden SS-Mannes resultierte nicht aus rechtverstandener, aus geltendem Gesetz sich herleitender staatsbürgerlicher Pflicht und soldatischer, die militärische Ordnung anerkennender Tradition. Der Führerbefehl war »aus jeder normativen Bindung herausgenommen«174, er setzte »die Entschlüsse der Geschichte in die Tat« um, stand »jenseits der gesetzlichen Ordnung«.175 Für den Befehlsempfänger war es demnach keine von ihm eigenverantwortlich zu prüfende Frage, ob der Befehl ein Strafgesetz verletzte. Die offensichtliche Ungesetzlichkeit, Rechtswidrigkeit der Führerbefehle war im Bewusstsein der Täter unbeachtlich angesichts der auf der geschichtlichen Sendung sich gründenden Legitimität der verabsolutierten Führergewalt. Wohl war den Befehlsausführenden durchaus irrtumsfrei erkennbar, dass die Befehle die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und die sittlichen Normen ignorierten oder suspendierten. Unter Berufung auf § 211 StGB bzw. § 47 Militärstrafgesetzbuch (MStGB)176 die Mordbefehle zu verweigern, kam dem im ideologischen Konsens mit der Staatsführung handelnden, in Treuepflicht zum »Führer« stehenden SS-Angehörigen177 gleichwohl nicht in den Sinn. Gegenüber Befehlen in Weltanschauungssachen gab es keine Gehorsams-, keine Rechtspflicht, die sich auf militärische bzw. staatliche Normen gründete. Gefordert war hingegen der in unverbrüchlicher Treue zum »Führer« bestehende Gehorsam des weltanschaulichen Kämpfers, des befehlsergebenen Gefolgsmannes. Der in Treuepflicht zu Hitler handelnde Untergebene führte Befehle aus, die weder Recht noch Gesetz kannten, jegliche Staats- und Rechtsordnung missachteten. Von einer Tatbestandsverwirklichung im Sinne des § 47 MStGB könne sonach angesichts der spezifischen Art des Befehls nicht gesprochen werden. § 47 MStGB war Buchheim zufolge suspendiert.

Für die herrschende Rechtsprechung waren die Befehle zur Vernichtung der Juden hingegen bloße Befehle in Dienstsachen. Der gehorchende Untergebene, angeblich im Rahmen einer von ihm als gültig erachteten Rechtsordnung handelnd, konnte nicht straffrei bleiben, wenn er im sicheren Wissen um den verbrecherischen Charakter der befolgten Befehle und im Wissen um die Geltung des § 47 MStGB178 gehandelt hatte.

Buchheim legte weiterhin dar, die Täter hätten im Allgemeinen ein aus ideologischen Gründen »partiell suspendiertes Unrechtsbewusstsein«179 gehabt, insofern sie glaubten, außerhalb aller Normativität das geschichtlich Notwendige im – angeblich dem deutschen Volk aufgezwungenen – »Rassenkrieg«, aus dem nur der Stärkere als Sieger und Herrscher hervorgehen könne, verwirklichen zu müssen. Überzeugt von der geschichtlichen Notwendigkeit ihres Handelns, in einem sozialen Ausnahmezustand befindlich, in dem es vorgeblich um Leben und Tod des deutschen Volkes ging, handelten sie in ideologischer Übereinstimmung mit der uneingeschränkt und gläubig anerkannten Staatsführung. War die Verbindlichkeit des Befehls für die Täter keine Rechtsverbindlichkeit, sondern außernormativ eine Verbindlichkeit der weltanschaulichen und politischen Treue, so war das Unrechtsbewusstsein keins, das durch die Verletzung von zur Tatzeit und heute geltenden Rechts sich hätte bilden können.

Wiederum stand Buchheims Auffassung der herrschenden Meinung entgegen, die die strafrechtlich zu beurteilende Situation der Täter simplifizierte, um ihre Taten auf der Grundlage des deutschen Strafrechts justiziabel zu machen. Die NS-Täter hatten schlicht geltendes Recht, d.h. NS-Recht180 verletzt und um die Rechtswidrigkeit ihres Tuns, das ihnen von der obersten Staatsführung befohlen worden war, gewusst.