Lektionen der Geschichte

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Vol­ker Herms­dorf

Lek­ti­o­nen der Geschichte

Hans Modrow über Kuba,

die DDR und die Peres­tro­ika


2019 • Ver­lag Wiljo Hei­nen, Ber­lin und Bök­lund

Im Jahr 2015 ver­öf­fent­lichte Vol­ker Herms­dorf gemein­sam mit Hans Modrow den Gesprächs­band »Amboss oder Ham­mer. Gesprä­che über Kuba«, der einen Teil ihres über Monate erfolg­ten Gedan­ke­n­aus­tau­sches über Kuba und über die DDR wie­der­gibt. Das Buch ist zugleich Zeit­do­ku­ment, Moment­auf­nahme und wert­volle Infor­ma­ti­ons­quelle.

Auf­grund der Ent­wick­lun­gen in Kuba und der Welt ent­schlos­sen sich Herms­dorf und Modrow eine auf wesent­li­che Gedan­ken redu­zierte Kurz­fas­sung der Erör­te­run­gen zusam­men­zu­stel­len und sie um aktu­elle Ein­schät­zun­gen und Per­spek­ti­ven zu ergän­zen.

»Lek­ti­o­nen der Geschichte« ist das Ergeb­nis die­ser Arbeit.

Der Ver­lag, im Sep­tem­ber 2019

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Vol­ker Herms­dorf


(1951) ist 1982 zum ers­ten Mal nach Kuba gereist und hat die Insel seit­dem jähr­lich besucht. Seit eini­gen Jah­ren ver­bringt er meh­rere Monate im Jahr in Havanna und berich­tet von der Insel, die ihm mitt­ler­weile zur zwei­ten Hei­mat gewor­den ist.

Er ist unter ande­rem stän­di­ger Autor der Tages­zei­tung »junge Welt«, der Zeit­schrift »Cuba Libre« und des Medi­en­por­tals »Cuba­in­for­ma­ción« in Bil­bao. Im Ver­lag Wiljo Hei­nen erschie­nen von ihm »Amboss oder Ham­mer«, »KUBA – Auf­bruch oder Abbruch?«, »Raúl Cas­tro – Revo­lu­ti­o­när und Staats­mann«, und als Her­aus­ge­ber und Mit-Autor »Kuba im Wan­del«.

Vol­ker Herms­dorf lebt in Ham­burg.

Hans Modrow


(1928) ist der deut­sche Poli­ti­ker mit den längs­ten und dif­fe­ren­zier­tes­ten Kuba-Erfah­run­gen. Zum ers­ten Mal reiste er 1970 mit einer DDR-Dele­ga­tion auf die sozi­a­lis­ti­sche Kari­bi­k­in­sel, ver­trat sein Land bei der Kund­ge­bung zum Nati­o­na­l­fei­er­tag am 26. Juli und ver­han­delte mit Kubas dama­li­gem Prä­si­den­ten Osvaldo Dor­ticós Tor­rado. In den letz­ten 45 Jah­ren war er rund ein dut­zend Mal dort, nach dem Ende der DDR unter ande­rem als Abge­ord­ne­ter des Bun­des­tags, des Eur­o­pa­pa­r­la­ments und Vor­sit­zen­der des Ältes­ten­rats der Par­tei DIE LINKE.

Hans Modrow lebt in Ber­lin.

Inhalts­ver­zeich­nis

  1. Hans Modrow und Kuba

  2. Annä­he­rung und Gemein­sam­kei­ten

  3. Inva­sion und Welt­kriegs­ge­fahr

  4. Part­ner­schaft und Freund­schaft

  5. Wirt­schafts­be­zie­hun­gen und gegen­sei­tige Vor­teile

  6. Peres­tro­ika und Sozi­a­lis­mus

  7. Unter­gang und Über­le­bens­kampf

  8. Erho­lung und neue Rolle in der Welt

  9. Krise des Kapi­ta­lis­mus und neue Gefah­ren

  10. Alter­na­ti­ven und Hoff­nun­gen

1. Hans Modrow und Kuba

Vol­ker Herms­dorf: Am 10. Februar 2019 wurde Ihnen in Havanna der Orden der Soli­da­ri­tät der Repu­blik Kuba ver­lie­hen. In sei­ner Wür­di­gung sagte José Ramón Bala­guer, Mit­glied des Sekre­ta­ri­ats des Zen­tral­ko­mi­tees der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Kubas und Lei­ter der Abtei­lung für Inter­na­ti­o­nale Bezie­hun­gen, Hans Modrows poli­ti­sches Wir­ken sei stets dem Kampf für die Gerech­tig­keit und die Inter­es­sen der am meis­ten Benach­tei­lig­ten gewid­met. Hans Modrow liebe Kuba, eine Nation, die er immer ver­tei­digt habe. Was bedeu­tet die Aus­zeich­nung für Sie Herr Modrow?

Hans Modrow: Ich emp­finde sie als Aner­ken­nung und Aus­druck der Ach­tung für Jahr­zehnte der Soli­da­ri­tät mit dem revo­lu­ti­o­nären Pro­zess in Kuba. Der Augen­blick der Ver­lei­hung war bewe­gend für mich und wird in mei­nem wei­te­ren Leben einen wich­ti­gen Platz ein­neh­men. In mei­nen Wor­ten des Dan­kes an die Kuba­ner habe ich zugleich auch Worte des Dan­kes an alle hie­si­gen Mit­strei­ter gerich­tet, die – ob in der Zeit der DDR oder aktu­ell – mit mir ihre Soli­da­ri­tät für die sozi­a­lis­ti­schen Bestre­bun­gen in Kuba zum Aus­druck brin­gen. Diese Aner­ken­nung gebührt allen Mit­glie­dern der ver­schie­de­nen Soli­da­ri­täts­grup­pen in Deut­sch­land und Eur­opa, die viel Kraft auf­brin­gen, um die Wahr­heit über Kuba zu ver­brei­ten. Ange­sichts der Bestre­bun­gen der USA aber auch reak­ti­o­närer Kräfte auf unse­rem Kon­ti­nent, den sozi­a­lis­ti­schen Pro­zess in Kuba zu been­den, ist unsere Soli­da­ri­tät so wich­tig wie sel­ten zuvor. Ich fühle mich dazu ver­pflich­tet, im Rah­men mei­ner Mög­lich­kei­ten dazu bei­zu­tra­gen. Ich hoffe, ich kann wei­ter nütz­lich sein indem ich etwas von mei­nen viel­fäl­ti­gen poli­ti­schen Erfah­run­gen ein­bringe.

VH: Sie sind seit mehr als sechs Jahr­zehn­ten poli­tisch aktiv, unter ande­rem als Abge­ord­ne­ter des Meck­len­bur­gi­schen Land­tags (1951/52), der DDR-Volks­kam­mer (1958–1990), des Deut­schen Bun­des­tags (1990–1994) und des Eur­opa-Par­la­ments (1999–2004). Vom Herbst 1989 bis zum Früh­jahr 1990 waren Sie der vor­letzte Minis­ter­prä­si­dent der DDR. Als Vor­sit­zen­der des Ältes­ten­rats der Par­tei DIE LINKE agie­ren Sie wei­ter poli­tisch. Ihr Lebens­weg ist der eines deut­schen und euro­pä­i­schen Poli­ti­kers. Was befä­higt Sie über Kuba zu spre­chen?

HM: Zunächst möchte ich fest­hal­ten, dass ich nicht zu den­je­ni­gen gehöre, die den Kuba­nern aus einer gesi­cher­ten, beque­men Posi­tion her­aus wohl­mei­nende Rat­schläge geben. Wenn wir wüss­ten, wie heute ein attrak­ti­ver, über­le­bens­fä­hi­ger Sozi­a­lis­mus aus­sieht, dann hät­ten wir in Deut­sch­land und Eur­opa andere Wahl­er­geb­nisse und eine fort­s­chritt­li­che Mas­sen­be­we­gung. Aber wir haben einige der Feh­ler, die zum Unter­gang des real exis­tie­ren­den Sozi­a­lis­mus in der DDR, der Sowje­t­u­nion und den Län­dern Ost­eu­r­o­pas bei­ge­tra­gen haben, ana­ly­siert und ich weiß, dass viele mei­ner Gesprächs­part­ner in Kuba ein Inter­esse an die­sen Erfah­run­gen, aber auch an unse­ren Feh­lern und Irr­tü­mern und deren Bewer­tung haben. Ich habe Kuba seit 1970 rund ein dut­zend Mal besucht. Bei allen Rei­sen konnte ich auf ver­schie­de­nen Ebe­nen Gesprä­che füh­ren und zahl­rei­che Kon­takte auf­bauen, die teil­weise bis heute nütz­lich sind.

VH: Sie haben von 1952 bis 1953 in Mos­kau an der Kom­so­mol-Hoch­schule stu­diert. Wel­che Rolle haben Latein­ame­rika und Kuba 1953 bei den Stu­den­ten in Mos­kau gespielt?

HM: Für uns stan­den beim Stu­dium andere The­men im Vor­der­grund. Es gab damals poli­ti­sche Ent­wick­lun­gen, die uns und die Welt beweg­ten. Der Korea-Krieg ging in die End­phase, in China wurde eine sozi­a­lis­ti­sche Volks­re­pu­blik auf­ge­baut und in Eur­opa herrschte der Kalte Krieg. Was sich auf Kuba ereig­nete, haben wir jun­gen Stu­den­ten erst spä­ter dis­ku­tiert.

VH: Seit wann beschäf­ti­gen Sie sich inten­si­ver mit Kuba?

HM: Meine Erin­ne­run­gen an Kuba begin­nen im Jahr 1960. In die­ser Zeit dis­ku­tier­ten junge Leute in der DDR über die dor­tige Ent­wick­lung. Wir hör­ten von der Revo­lu­tion, von Fidel und Raúl Cas­tro. Doch wer von uns wusste bis dahin genau, wo Kuba lag? Dann trat unter den Inseln der Kari­bik mit einem Mal eine für uns in den Vor­der­grund. Das war zu einer Zeit, als wir in der DDR eigene Pro­bleme hat­ten. Wir merk­ten, dass wir die Jugend nicht mehr oder zumin­dest immer schwie­ri­ger erreich­ten. Ich war damals Sekre­tär im Zen­tral­rat der FDJ und für uns stand der Auf­bau einer sozi­a­lis­ti­schen Gesell­schaft im Zen­trum. Die Kuba­ni­sche Revo­lu­tion stand zunächst nicht auf unse­rer Tages­ord­nung. Ich hatte zwar 1959 meine erste Reise nach China unter­nom­men, aber der Sieg der dor­ti­gen Kom­mu­nis­ten im Volks­krieg lag schon eine Zeit zurück. Die Grün­dung der Volks­re­pu­blik China durch Mao Tse­tung war am 1. Okto­ber 1949 erfolgt.

 

Plötz­lich hör­ten wir von Kuba. Dort war die Ent­wick­lung völ­lig anders ver­lau­fen als bei uns. Es gab eine wirk­li­che, von der Bevöl­ke­rung getra­gene Revo­lu­tion. Wir began­nen, das mit unse­ren eige­nen Erfah­run­gen zu ver­glei­chen. Dies geschah in einer Phase, in der sich die Kon­flikte zwi­schen Ost und West immer mehr zuspitz­ten. Kuba erlebte zu die­ser Zeit eine ganz andere Situa­tion. Dort stand die große Mehr­heit des Vol­kes mit Begeis­te­rung hin­ter der Revo­lu­tion. Inso­fern war meine erste intel­lek­tu­elle Begeg­nung mit Kuba auch mit der Hoff­nung ver­bun­den, dass es auch anders geht. Meine Alters­ge­nos­sen und mich beein­druckte außer­dem, dass dort Gleich­alt­rige ein Volk anführ­ten, das seine Geschi­cke zum ers­ten Mal in die eige­nen Hände nahm.

VH: Die Bun­des­re­pu­blik bezeich­nete die Ent­wick­lung Kubas Anfang 1960 als »Gefahr für Latein­ame­rika« und warnte vor dem »Aus­bau roter Brü­cken­köpfe vor den Pfor­ten der USA«. Wie hat die DDR das ein­ge­schätzt ?

HM: Die Ent­wick­lung auf Kuba war für meine Gene­ra­tion zunächst eine klare Absage an die von den USA unter­stützte Dik­ta­tur Bati­stas. Die Revo­lu­tion stand für uns aber auch im Gegen­satz zur Poli­tik der USA. Unsere Begeis­te­rung für Kuba war des­halb sehr groß. Dort fand eine Revo­lu­tion statt, die zuneh­mend im Zen­trum des Inter­es­ses lin­ker Jugend­li­cher in aller Welt stand. Die offi­zi­elle Kom­mu­nis­ti­sche und Arbei­ter­be­we­gung suchte aber noch nach ihrer Posi­tion. So berich­tete Wal­ter Ulbricht zum Bei­spiel im Dezem­ber 1960 auf der 11. Plen­ar­ta­gung des Zen­tral­ko­mi­tees der SED von einer Tagung der Kom­mu­nis­ti­schen- und Arbei­ter­par­teien in Mos­kau: »Auf der Kon­fe­renz wurde ver­ein­bart, das kuba­ni­sche Volk, das seine nati­o­nal­de­mo­kra­ti­sche Revo­lu­tion zum Siege geführt hat, mit allen Kräf­ten zu unter­stüt­zen.« Das klingt ganz gut, war aber zwei Jahre nach dem Sieg der Rebel­len­ar­mee doch etwas wenig. Ich will nicht sagen, dass dies ein Miss­trauen aus­drückte, aber eine Distanz, ein Abwar­ten des­sen, was sich im Hin­ter­hof der USA ent­wi­ckeln würde, war spür­bar. Zugleich gab es aber auch schon ein Inter­esse an wirt­schaft­li­cher Zusam­me­n­a­r­beit.

2. Annä­he­rung und Gemein­sam­kei­ten

Vol­ker Herms­dorf: Das erste Wirt­schafts­ab­kom­men wurde im Dezem­ber 1960 zwi­schen dem DDR-Außen­han­dels­mi­nis­ter und ehe­ma­li­gem Spa­ni­en­kämp­fer Hein­rich Rau und Che Gue­vara ver­ein­bart. Wie haben Sie Che Gue­va­ras DDR-Besuch in Erin­ne­rung?

Hans Modrow: Damals bemühte sich der Rat für gegen­sei­tige Wirt­schafts­hilfe (RGW) Han­dels­be­zie­hun­gen zu Kuba auf­zu­neh­men. In der DDR wurde Che Gue­vara der Part­ner von Hein­rich Rau. Rau war ein Mann, den wir als junge Leute sehr geach­tet haben, weil er aus der kom­mu­nis­ti­schen Jugend­be­we­gung kam und nun zum Gestal­ter einer sozi­a­lis­ti­schen Wirt­schaft wurde. Che Gue­vara war damals für viele, die in der DDR und den ande­ren sozi­a­lis­ti­schen Län­dern in Ver­ant­wor­tung stan­den, nicht rich­tig ein­schätz­bar. Einer­seits war er der junge Revo­lu­ti­o­när, zugleich hatte er aber bereits damals einen kri­ti­schen Blick auf unsere Ent­wick­lung. Es gab von ihm Wer­tun­gen über die Sowje­t­u­nion, in der er Büro­kra­tis­mus, man­gelnde Effi­zi­enz, Dis­zi­plin­lo­sig­keit und Kor­rup­tion gese­hen und deut­lich gemacht hatte, dass er so etwas für Kuba nicht als Vor­bild sehe. Das war bei uns wie­derum für viele Was­ser auf die Müh­len. Zur Zeit von Wal­ter Ulbricht in den 1960er Jah­ren hat­ten wir in der DDR eine Phase, in der wir das Modell der Sowje­t­u­nion nicht unver­än­dert über­neh­men woll­ten. Damit war die DDR für Che Gue­vara ver­mut­lich ein RGW-Land, das er mit Inter­esse betrach­tete. Als Lei­ter der Nati­o­nal­bank inter­es­sierte ihn, wie Betriebe und Wirt­schaft in der DDR gelei­tet wur­den. Er hat nicht nur den Blick für die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung im All­ge­mei­nen gehabt, son­dern auch ver­sucht, die inne­ren wirt­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen und Ent­wick­lun­gen in den sozi­a­lis­ti­schen Län­dern Eur­o­pas zu ana­ly­sie­ren. Aus den posi­ti­ven Ein­drü­cken bei sei­nem Besuch lässt sich wohl die Tat­sa­che erklä­ren, dass die DDR unter allen RGW-Län­dern gegen­über Kuba immer eine her­aus­ra­gende Posi­tion inne­hatte.

VH: Im Wes­ten erfolgte die Iden­ti­fi­ka­tion jun­ger Leute mit Che Gue­vara aus Abgren­zung und im Kon­flikt mit der Obrig­keit. In der DDR wurde die Iden­ti­fi­ka­tion mit Che und der Revo­lu­tion geför­dert. Wel­che Fol­gen hatte das?

HM: Sein Bei­spiel hatte einen gewis­sen Ein­fluss auf Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Linie in der FDJ und der SED. Che Gue­vara war für die jun­gen Leute in der DDR eine Per­sön­lich­keit, die viel ausstrahlte. Ich erin­nere mich an Dis­kus­si­o­nen dar­über, wie wir davon in unse­rer Jugend­a­r­beit pro­fi­tie­ren könn­ten. Diese Ansich­ten hat beson­ders Alfred Kurella stark ver­tre­ten. Er war sehr daran inter­es­siert, den revo­lu­ti­o­nären Pro­zess in Kuba bei uns stär­ker dar­zu­stel­len. Kurella war als jun­ger Mann noch mit Lenin zusam­men­ge­trof­fen, den er 1919 als Kurier der KPD in Mos­kau ken­nen­ge­lernt hatte. Spä­ter wurde Kurella zum Mit­be­grün­der der Kom­mu­nis­ti­schen Jugend­in­ter­na­ti­o­nale. Aus heu­ti­ger Sicht muss ich sagen, dass uns damals gar nicht so bewusst war, wel­che Tiefe und wel­che Über­le­gun­gen hin­ter dem steck­ten, was Kurella uns zu ver­mit­teln ver­suchte. Er war über­zeugt, dass die Aus­ein­an­der­set­zung mit revo­lu­ti­o­nären gesell­schaft­li­chen Pro­zes­sen, die Bereit­schaft zur Soli­da­ri­tät bei jun­gen Men­schen viel stär­ker för­dert, als zum Bei­spiel die Dis­kus­si­o­nen über Han­dels­be­zie­hun­gen. Ich denke dass Kurella damit recht hatte. Ein Bei­spiel dafür ist Tamara Bunke.

VH: Bei Gue­va­ras Besuch in der DDR arbei­tete Tamara Bunke als Dol­met­sche­rin für ihn. Ein hal­bes Jahr spä­ter ging sie nach Kuba, kämpfte spä­ter mit Che als Revo­lu­ti­o­nä­rin »Tania La Gue­ril­lera« in Boli­vien. Kann­ten Sie Tamara Bunke per­sön­lich?

HM: Ja, meine Bekannt­schaft mit Tamara Bunke begann mit Auf­nahme ihres Stu­di­ums an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in Ber­lin. Unsere Jugend­be­we­gung war sehr inter­na­ti­o­na­li­siert. Wir pfleg­ten den Aus­tausch mit Genos­sen in vie­len Län­dern und Tamara war für uns wich­tig, weil sie spa­nisch sprach. Wegen ihrer Sprach­kennt­nisse und wegen ihres mit­rei­ßen­den Enga­ge­ments war sie über­all dabei. Wir tra­fen uns oft beim Essen im Spei­se­saal. Sie war damals eine der enga­gier­tes­ten Mit­strei­te­rin­nen in der FDJ. Durch ihre Über­set­zun­gen für Jugend­funk­ti­o­näre hatte sie ein inter­es­san­tes und für DDR-Ver­hält­nisse abwechs­lungs­rei­ches Betä­ti­gungs­feld. Tamara war eine gut aus­se­hende junge FDJlerin, viel­sei­tig aktiv, doch nie­mand von uns hätte damals gedacht, dass sie ein­mal die »Gue­ril­lera Tania« wird. Der Besuch von Che Gue­vara in der DDR hatte nach mei­nem Ein­druck eine große Wir­kung auf Tamara und for­derte sie als Revo­lu­ti­o­nä­rin her­aus. Danach wollte sie mehr für die Ver­wirk­li­chung ihrer Ziele tun, als sie das in der FDJ konnte. Sie ver­stand sich selbst als Inter­na­ti­o­na­lis­tin.

VH: War sie eher Roman­ti­ke­rin oder Rea­lis­tin? Wie haben Sie Tamara Bunke erlebt?

HM: Ich habe Tamara als eine sehr selbst­be­wusste, gesell­schaft­lich aktive junge Mit­strei­te­rin erlebt. Sie stand immer im Zen­trum, war abso­lut kon­takt­freu­dig, immer begeis­te­rungs­fä­hig – aber auf kei­nen Fall unre­a­lis­tisch oder gar fana­tisch. Tamara war für uns nicht nur die Dol­met­sche­rin, son­dern auch die enga­gierte Jugend­funk­ti­o­nä­rin, die Ausstrah­lung hatte, die andere gewin­nen und begeis­tern konnte. Sie war trotz ihrer Jugend eine Per­sön­lich­keit, vor der alle Respekt hat­ten.

VH: In der DDR wur­den 242 Jugend­bri­ga­den, Frau­en­grup­pen, Kin­der­gär­ten und Schu­len nach Tamara Bunke benannt. Wel­che Bedeu­tung hatte sie für die Jugend in der DDR?

HM: Kuba trat mehr und mehr in den Blick­punkt der DDR-Öffent­lich­keit und mit der Erklä­rung der Revo­lu­tion zu einer sozi­a­lis­ti­schen wuch­sen bei uns das Inter­esse und die Soli­da­ri­tät mit Kuba. Damals galt Kuba vor allem bei der Jugend als Insel der Hoff­nung. Damit rück­ten auch Tamara Bunke und ihr Schick­sal in die Öffent­lich­keit. Über ihr revo­lu­ti­o­näres Enga­ge­ment und den Kampf, den Che Gue­vara in Boli­vien begann, wurde bei uns berich­tet. Obwohl wir etwas rat­los vor der Frage stan­den, warum Ches Ver­such in Boli­vien nicht einen ähn­li­chen Ver­lauf genom­men hatte wie die Ent­wick­lung auf Kuba, wuchs in die­ser Debatte ein unge­heu­rer Respekt und eine Ach­tung vor den Men­schen, die in Boli­vien ihr Leben ein­ge­setzt hat­ten. Wir, die wir von der Roten Armee befreit wor­den waren, hat­ten ja nie die Gefah­ren des revo­lu­ti­o­nären Kamp­fes ken­nen­ge­lernt. Für uns war der Ein­satz von Tamara Bunke in Boli­vien ein Vor­bild und ich will nicht ver­heh­len, dass wir das auch brauch­ten und nutz­ten. Schu­len beka­men nicht nur ihren Namen, son­dern auch Infor­ma­ti­o­nen zu ihrer Bio­gra­fie. Das war für uns ein Teil der revo­lu­ti­o­nären Bil­dung und Erzie­hung in der DDR. Das Leben und Wir­ken von Tamara Bunke wur­den von vie­len jun­gen Leu­ten als Bei­spiel ange­nom­men. Denn sie war ja eine Per­son wie wir alle, eine von uns, aus unse­ren Rei­hen, eine der man selbst mit sei­ner eige­nen DDR-Bio­gra­fie nahe war. Sie war das Vor­bild einer jun­gen kämp­fen­den Frau, einer jun­gen, kämp­fen­den Revo­lu­ti­o­nä­rin. Tamara war eine Per­son, mit der viele von uns stu­diert, dis­ku­tiert, gestrit­ten, gelacht und getanzt haben. Ihre Geschichte spielte im Hier und Jetzt. Und zugleich erfuh­ren wir durch sie etwas über einen revo­lu­ti­o­nären Kampf, der auf einem ande­ren Kon­ti­nent statt­fand. Aller­dings muss ich ein­räu­men, dass wir in den spä­ten 1970er und den 1980er Jah­ren in der DDR immer mehr den Bezug zur Jugend ver­lo­ren haben. Es reicht mei­ner Mei­nung nach aber nicht, dies zuzu­ge­ben, son­dern wir soll­ten auch ver­su­chen, die Ursa­chen zu ana­ly­sie­ren.

VH: Ver­mut­lich ist es für viele Jugend­li­che schwie­ri­ger, sich mit einer Per­son wie Tamara Bunke zu iden­ti­fi­zie­ren als mit einem Idol aus der Film-, Musik- oder Mode­welt. Oder?

HM: Ja, gewiss. Die Iden­ti­fi­ka­tion mit einem Model oder einem Film­star ist ja sehr ein­fach und ver­langt Jugend­li­chen nichts ab. Wenn man sich dage­gen eine Revo­lu­ti­o­nä­rin wie Tamara Bunke zum Vor­bild nimmt, dann hat das auch Kon­se­quen­zen für einen selbst. Des­halb ist es schwie­ri­ger, dafür Begeis­te­rung zu wecken. Trotz­dem fand das Enga­ge­ment, das Tamara den Jugend­li­chen in der DDR vor­lebte, gro­ßes Inter­esse. In den kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern wird es heute lie­ber gese­hen, dass junge Leute sich für Cas­ting-Shows inter­es­sie­ren und davon träu­men, Super­stars oder Top-Modelle zu wer­den, statt sich für eine gerech­tere Welt ein­zu­set­zen.