Gespräche mit Wildtieren

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3
Zootiere
Zu Gast bei den Löwen

Die Sommerhitze hatte sich bereits langsam ausgebrannt. Milde Herbstsonne tauchte die Natur sanft in einen goldenen Schimmer. Das satte Grün der Blätter begann sich mit jenem zarten Gelbstich zu überziehen, der die Wärme des Spätsommers einfing und eine südliche Umgebung simulierte, ehe die Pflanzen sich mit bunten Farben schmückten. Es war ein wunderschöner Tag für einen Ausflug zum Zoo, wo ich zum ersten Mal mit den wilden Insassen kommunizieren wollte. Fröhliches Vogelzwitschern in den hohen, alten Bäumen gab mir das Geleit, als ich mit Notizheft und Stift bewaffnet gespannt über die Wege wanderte und überlegte, welches Wildtier wohl geneigt wäre, mit mir ins Gespräch zu kommen. Sollten es die gewichtigen Elefanten sein? Oder unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen? Während ich noch zögerte und eben an der weitläufigen Löwenanlage vorbei schlenderte, näherte sich eine Horde Primarschüler und steuerte lärmend auf das Gehege zu. Sie lachten und stimmten ein gewaltiges Gebrüll an, einer suchte den andern zu übertrumpfen. Währenddessen thronte dort der majestätische König der Tiere auf einem Felsen und blinzelte ungerührt in die Sonne. Ich war ziemlich irritiert und ungehalten über den Krach und dachte, wie sehr wohl jener Mähnenlöwe dadurch gestört sein mochte. Dennoch hielt ich meine innere Ruhe aufrecht, eine entspannte Haltung, wie ich sie grundsätzlich bei jedem Streifzug durch den Zoo bewusst einzunehmen versuchte. Unvermittelt und unerwartet empfing ich eine Antwort:

Ärgere dich nicht über diese lauten Kinder, akzeptiere und lass sie, wie sie sind. Sie imitieren mich mit lautem Geschrei, aber sie nehmen mich wahr, auch mit dem Herzen. Sie spüren meine Löwenkraft, meine Stärke. Ich wecke ihre inneren Kräfte, sie möchten ein bisschen sein wie ich. Das ist gut. Es schafft Verbindung zu mir und den anderen Tieren. Ihre Herzen vergessen nicht. Selbst solch kleine Samen gehen auf und begleiten diese jungen Menschen, bis sie groß sind. Du weißt, Kinder werden die künftigen Erwachsenen sein und dereinst das Bild der Welt prägen, die Zukunft der Erde bestimmen.

Ich war verblüfft über des Löwen Ausführungen und mehr noch darüber, wie mühelos er meine innere Frage aufgefangen und sogleich offen und freundlich beantwortet hatte, ohne dass ich eine mentale Verbindung zu ihm suchen und ihn explizit um ein Gespräch bitten musste. Ruhig schaute er mich an. Ich bedankte mich freudig für seine freundliche Bereitschaft, sich auf einen Dialog mit mir einzulassen und ließ seine Worte auf mich wirken. Oh ja, jetzt konnte ich seine Wahrheit in den Augen der Schüler erkennen. Respekt für den König der Tiere glomm darin, Achtung. Und damit gewann das imitierte Löwen-Gebrüll plötzlich an Sinn. Die Schulklasse zog weiter und wohltuende Ruhe kehrte ein.

Stören dich Betrieb und Krach der Besucher nicht? fragte ich verwundert den sich in stoischer Ruhe an der Sonne räkelnden Löwenkater. Er meinte:

Ich habe mich daran gewöhnt. Dies ist eine Sache der Einstellung. Es gibt Stunden voller Betrieb und Zeiten von Stille. Jeder Zustand hat seinen Reiz. Je älter ich werde, desto häufiger dämpfe ich meine äußeren Wahrnehmungen und lasse mich in eine Art von Meditation, in meine innere Welt gleiten. Ich genieße die Abendstunden, wenn der Zoo sich leert, die Menschen weggehen und ihren Lärm mit sich nehmen. Dann werden die Naturgeräusche wach und die Stimmen der anderen Tiere hier. Und das Gefühl von Verbundenheit mit der Natur und allem, was existiert, schwillt an und füllt mein Herz.

Was für eine Lebensaufgabe erfüllst du im Zoo? war ich gespannt zu erfahren.

Ich bin Luxor, der Lichtträger. Durch mein Dasein hier bringe ich den Menschen Aufklärung, zeige den Besuchern unsere Lebensweise, die Löwen-Persönlichkeit. Ich bringe Licht in die herrschende Unkenntnis über die gefährdete Zukunft meiner Gattung, in das sorglose Verdrängen der unbequemen Wahrheit. Meine Präsenz macht die Menschen achtsam, sie werden vertraut mit uns, lernen mich und meine Familie kennen und sich an unserem Anblick freuen. So werden sie nachdenklich und wachen auf, der tatsächliche Stand der Dinge auf der Erde dringt in ihr Bewusstsein. Ich bin ein Hoffnungsträger. In meiner Heimat existieren von Jahr zu Jahr weniger Löwen, denn die Lebensgrundlagen schwinden mehr und mehr. Unsere Art - und nicht nur die - geht langsam unter. Ich lebe in Gefangenschaft für deren Fortbestand. Meine Kinder sind ebenfalls Väter und Mütter geworden andernorts in Zoos auf der ganzen Welt. Meine Samen gehen auf. Dies ist der Sinn meines Lebens, eine wundervolle Aufgabe.

Auf der Beschriftungstafel vor dem Gehege war zu lesen, die Art der in diesem Zoo lebenden, seltenen indischen Löwen, die in Freiheit einzig noch im Reservat des Gyr-Forests in Indien existieren, sei weltweit inzwischen auf etwa dreihundert geschrumpft, ihre endgültige Ausrottung rücke bedrohlich näher - Alarmstufe rot für diese majestätischen großen Katzen! Mein Gesprächspartner wies also nicht von ungefähr darauf hin. Eine bedenkliche - eine bedenkenswerte Situation.

Zu seinem Namen hatte ich eine grundsätzliche Frage: Du nanntest dich Luxor. Möchtest du gern namentlich angesprochen werden? Ist ein Eigenname für euch in irgendeiner besonderen Weise wichtig, vielleicht zur telepathischen Kommunikation zwischen Mensch und Tier? Ich habe schon oftmals erfahren, dass Haustiere sehr auf ihre Eigennamen achten und nicht immer zufrieden sind mit unserer Wahl für sie.

Nein, der Name ist unwichtig für mich, für alle hier im Zoo. Wir identifizieren uns nicht darüber. Dein Gefühl für mein Wesen, das Wahrnehmen meiner ureigenen Persönlichkeit ist das Wesentliche. In der mentalen Verbindung stehst du nur darüber mit mir in Kontakt. Wie ihr uns Tiere benennt, hat keinen Belang.

Aber wie kann ich so denn sicherstellen, dass ich tatsächlich mit jenem Partner verbunden bin, mit dem ich mich austauschen möchte? Damit derjenige genau weiß, dass gerade er gemeint ist?

Konzentriere deinen Fokus bewusst auf den gewünschten Gesprächspartner, sei er nun anwesend oder als Bild vor deinem geistigen Auge. Dabei ist nicht der Name, sondern das offene Herz die Adresse - das des Absenders ebenso wie jenes des Empfängers der Botschaft. Und das Band, die Leitung zueinander, diese Verbindung entsteht durch Liebe und Respekt. Jeder spürt sich in des anderen Herz hinein. So fließen Stimmungen, Gefühle und Gedankenbilder, Wissen, Fragen und Antworten hin und her. Du weißt, Tiere kommunizieren ohne Worte. Den Inhalt eines telepathischen Austausches übersetzt der Mensch, vielmehr dessen Gehirn in Worte, in seine Sprache.

Ich nahm des Löwenkaters Abgeklärtheit und Ruhe wahr, fühlte seine Freundschaft und Geduld, seine selbstlose Liebe. Mit einer Prise Demut vor der Größe seines Wesens bedankte ich mich für dieses Geschenk. Immerhin ist es ein Gebot von Respekt, dass man ein wenig Dankbarkeit zeigt für die Offenheit und Bereitwilligkeit eines Tieres, uns seine Aufmerksamkeit zu schenken und auf unsere Fragen einzugehen. Ich tue das am Ende einer Kommunikation automatisch, selbst wenn ich es in diesem Buch nicht jedes Mal ausdrücklich erwähne.

*

Der Herbst war endgültig ins Land gezogen. Der Himmel zeigte sich bewölkt, ein paar dunkelgraue Wolkenballen drohten mit Regengüssen. Das hielt mich nicht davon ab, wieder einmal einen Zoobesuch zu unternehmen und mit meinen Aufzeichnungen weiterzufahren. Mittlerweile hatte in meinem Geist das zuvor nur wage Vorhaben für ein mögliches Buchkonzept über Dialoge mit wilden Zootieren immer klarere Form angenommen - zumal meine Gesprächspartner immer wieder betonten, ihre wichtigen, teils sehr ernsten und brisanten Aussagen unbedingt den Menschen zugänglich zu machen und damit zur Klärung von Missverständnissen, Unwissenheit und Bedürfnissen beizutragen. Solch ein Buch würde Plattform für die wilden Tiere sein, sich zu äußern, damit könnte ich ihnen eine Stimme geben. Die Möglichkeit, den Wunsch der Tiere auf diese Weise zu erfüllen, beflügelte mich, meine Idee in die Tat umzusetzen. Frohgemut und unternehmungslustig steuerte ich das nächste Erlebnis einer telepathischen Kommunikation mit dem König der Tiere an.

Das Großkatzen-Gehege hier war wunderschön, die Außenanlage großzügig und spannend angelegt, samt Wasserlauf und kleinem See. Ein mächtiger Löwenmann und seine Partnerin durchstreiften ihr Revier. Der Kater legte sich auf einen erhöhten Felsplatz und überblickte gelassen sein Reich. Ich beneidete ihn ein wenig, hatte ich doch selbst im Augenblick ein wenig Mühe, innerlich Ruhe zu finden. Ein paar Alltags-Ärgernisse griffen immer wieder nach meinem Bewusstsein, stahlen sich in meine Gedanken hinein und belasteten mein Gemüt. Wie deutlich offenbar das für die Löwen vor mir geworden sein musste, zeigte sich sogleich, als ich einmal mehr, ohne Voranmeldung für einen Austausch mit ihnen, genau darauf angesprochen wurde. Tiere können in unseren Seelen lesen wie in einem offenen Buch.

Entspanne dich, tue es mir gleich und genieße die Vollkommenheit des Augenblicks.

Es war der beeindruckende Löwenkater, der sich an meine Adresse wandte.

Spüre dem Jetzt mit all seinen Schattierungen nach. Fühlst du den sanften Wind über dein Gesicht streichen, nimmst du die zahllosen Geruchsfacetten wahr? Hörst du die Laute der Natur? Spürst du die Entspannung in deine Glieder sinken? Lass alle Belastungen und Kümmernisse los, befreie dich. Mache dir nicht so viele Gedanken und unnötige Vorschuss-Sorgen. Die Menschen leben selten in der Gegenwart. Entweder malen sie sich künftige Probleme und Begebenheiten aus, meist unerfreuliche, und verlieren sich in bangen Befürchtungen, in allerlei bedrückenden Angst-Szenarien. Oder sie hängen vergangenen Erlebnissen nach.

 

Leben heißt jedoch, jeden einzelnen Moment wahrnehmen, Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen mit allen Sinnen entdecken und auskosten, sie freudig und in Ruhe annehmen und sich ihnen hingeben. Wie oft habt ihr euch doch vor etwas gefürchtet, das in Wahrheit niemals eingetroffen ist - und wie häufig dadurch die Schönheit eines gegenwärtigen Augenblicks verpasst, momentanen Frieden und Freude übersehen. Die Menschen behängen ihren Geist mit düsteren Bildern und laden dadurch ihrem Leben unnötig schwere Lasten auf. Denn die Empfindungen folgen immer der Vorstellung. Schöne Gefühle lassen euch leicht werden und das Herz, euer ganzes Dasein in strahlenden Farben leuchten.

Oh ja, wie rasch sich Stimmungen durch Gedanken beeinflussen lassen, wusste ich aus eigener Erfahrung.

Sei einfach da, verharre in Ruhe, selbst wenn Betrieb und Geräusche dich umwogen.

Er hatte Recht. Ich bemerkte meine leicht hochgezogenen Schultern und ließ sie rasch fallen, roch tausend Düfte und fühlte Windhauch im Gesicht.

Wenn dich jemand ärgert oder verletzt, lass dich nicht beeinflussen. Vergiss nicht, es ist deine Entscheidung, ob du dies zulässt.

Er sprach ein unerfreuliches Erlebnis an, mit dem ich tags zuvor konfrontiert worden war und das mich ziemlich erschüttert und noch heute nicht ganz losgelassen hatte.

Vielleicht verdient jener Mensch dein Verständnis, weil ihn ein Problem plagt, weil er Schmerzen oder Trauer empfindet und gerade nicht anders handeln kann. Versuche, nicht zu werten, weder dich noch andere. Betrachte die Situation von außen, wie ein Zuschauer das Schauspiel auf einer Bühne verfolgt. Richte deine Aufmerksamkeit auf das Positive, statt auf den negativen Aspekt darin. Das halbvolle oder halbleere Glas ist eine zentrale Lebensregel. Beide beschreiben denselben Zustand. Doch bei einem Gedanken empfindest du Zufriedenheit, den anderen begleiten Mangelgefühle. Deine Vorstellung wird zu deiner Wirklichkeit. Es kommt auf den Fokus an.

Der mächtige Löwe verstummte und ich empfand Weisheit und unbegrenzte Liebe um seine Gestalt herum. Sie dehnte sich wie eine riesige Blase aus, die auch mich umschloss. Mit dankbarer Freude für die mir gewährte freundschaftliche Zweisamkeit und seine hilfreichen Botschaften verließ ich die Löwenanlage.

*

In modernen Zoos wird die Gemeinschaftshaltung von zwei bis mehr Tiergattungen angestrebt, um möglichst naturgetreue Lebensbedingungen für die Tiere zu erreichen. Dies natürlich in einer für die zusammen wohnenden Arten möglichst ungefährlichen Form. Vergesellschaftung nennt man diese Gemeinschaftshaltung, deren Ziel eine Anreicherung der Umgebung ist, um die Lebensumstände für die Tiere interessanter, spannender zu machen. Die Anlagen und Gehege müssen dabei so gestaltet werden, dass sich die Tiere aus dem Weg gehen können.

In der neuen, entsprechend konzipierten Löwenanlage eines größeren Zoos wurden denn auch auf Bäumen lebende Sittiche einquartiert. Diese Vögel würden nicht auf den Boden hinunter fliegen und waren auf den Bäumen für die Löwen nicht erreichbar. So dachte man. Doch eine erfinderische Löwin entdeckte eine ganz besondere, strategisch ungewöhnliche Jagdmethode auf die verlockende, gefiederte Beute. Sie schüttelte die Bäume, auf denen sich die Sittiche aufhielten, dermaßen energisch, dass die Vögel doch zu Boden flogen. Dort konnte sie die kluge Löwin erfolgreich jagen und hatte innerhalb kürzester Zeit drei Opfer erbeutet und gefressen. Der Zoo brach die Gemeinschaftshaltung sofort ab.

Dieses Ereignis verlockte mich natürlich dazu, den Ort des Geschehens aufzusuchen. Mit Notizblock und gezücktem Stift richtete ich mich auf einer Bank vor ihrem weitläufigen Revier ein, wandte mich an die fragliche Löwin und wagte sie anzusprechen in der Hoffnung, sie würde sich vielleicht zu ihrem unerwarteten Beutezug äußern. Erstaunlich bereitwillig gab sie mir Auskunft.

Wisse, dass das Leben ein Spiel von Energien ist. Menschen haben dieses selbstverständliche Bewusstsein nicht, für uns Tiere hingegen bedeutet solche Erkenntnis Normalität. Dieses Wissen gehört zum Rüstzeug für unsere Lebenszeit auf der Erde. Jedes Wesen ist eine Form von Energie, ob Pflanze, Tier oder Mensch. Sogar Steine, Erde, Wasser sind Manifestationen von Energie, von einer bestimmten Schwingungsform. Auch du, so wie ich, bestehst aus Energie. Und die will gestärkt und genährt werden. Nahrungsaufnahme bedeutet also Energiezufuhr.

Löwen stehen an der Spitze der Nahrungskette. Ihr nennt Wesen wie wir Raubtiere, Räuber und drückt dieser Bezeichnung den Stempel von Brutalität und Gefahr auf. Damit verdammt ihr uns, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Es ist eine menschliche Schwäche, Wesen nach euren Gutdünken zu werten, oft abzuwerten und rasch zu verurteilen. Unserem Namen heftet ihr den Beiklang von Negativität an. In eurer Vorstellung verbreiten wir Furcht und rauben unschuldigen Wesen brutal und rücksichtslos ihr Leben. Doch in Wirklichkeit verhalten wir uns nach dem Gesetz allen Lebens und handeln in vollkommener Übereinstimmung mit dem Kreislauf der Natur.

Kannst du mich aufklären, wie dies aus Sicht eines Beutetieres aussieht? Leben die nicht in ständiger Angst? Oder muss ich mich da an ein potentielles Opfer wenden?

Noch während ich diese Fragen stellte, bezweifelte ich, sie bei der Löwin an die richtige Adresse gerichtet zu haben. Doch diese zerstreute meine Bedenken und meinte ohne Zögern:

Ich kenne auch diese Antworten, wir Tiere wissen alle um Sinn und Aufgabe jedes Wesens. Denn alle Geschöpfe sind in einer großen Gemeinschaft verbunden, der Mensch eingeschlossen. Alles was existiert, ist in diese Einheit eingebunden. Auch das ist uns Tieren bewusst, im Gegensatz zu den meisten von euch, die den Zugang zu diesem Lebenskreis verloren haben. Unsere Seelen sind eins miteinander, wir fühlen die Herzen anderer Wesen, die Stimmungen, Bedürfnisse und Absichten ganz automatisch. Das ist wichtig zu wissen, bevor ich dir die Funktion von Jäger und Opfer erkläre. Die Form der Kommunikation und Verbindung untereinander, wie du sie ja nun auch kennen und anzuwenden gelernt hast mit uns, ist für euch Menschen eine große Herausforderung und eine ungewohnte Fähigkeit, die ihr euch mit viel Training wieder aneignen müsst. Einst standet auch ihr auf diese Weise in Verbindung mit der Schöpfung. Doch im Laufe der Zeit in die heutige menschliche Zivilisation hinein ist euch diese natürliche Gabe verloren gegangen. Für Tiere hingegen läuft sie so natürlich und selbstverständlich ab, wie sich das Sehen, Hören und Riechen mit den körperlichen Sinnen für euch Menschen anfühlt.

Zügig notierte ich alle Eingebungen, die ich von der Löwin empfing. Ich hatte inzwischen dieses Thema bereits auch von anderen Dialogpartnern erklärt bekommen. Es schien, neben dem Bewusstsein für die Geschichte mit den Energien, ein weiterer zentraler Unterschied zwischen den Tieren und unserer eigenen Spezies zu sein.

Geduldig fuhr die Löwin fort mit ihren Erläuterungen:

Und nun zu deiner Frage nach dem Leben eines Beutetieres. Für alle Wesen, Tiere und Pflanzen, bedeutet Leben ein Dasein zum Wohle der gesamten Schöpfung, ein sich Hingeben. Und auf der anderen Seite ein dankbares Annehmen des freiwillig Dargebotenen. Weil jedes Geschöpf bereit ist zu geben, da zu sein für andere, für den ganzen Lebenskreis, resultiert daraus ein natürlicher Austausch. Dies gilt eben auch für den eigenen Körper, der einem anderen als Nahrung und damit zu dessen Überleben dient.

Fressen und Gefressen werden, blitzte mir durch den Kopf. Und bei dem Gedanken war mir wie immer unwohl, ich mochte diese Vorstellung nicht gern. Die Löwin las in mir und meinte:

Versuche es als natürlichen Vorgang anzusehen. Vergiss nicht, es ist der Kreislauf des Lebens. Wie du ihn empfindest, bestimmt dein eigener Fokus darauf. Es ist die Sicht der Menschen, weil ihnen der wahre Sinn dahinter fremd ist: sich hingeben zum Nutzen eines anderen, zum Erfüllen dessen Bedürfnisses. Es ist niemals Töten aus Mordlust, Egoismus und Gier. Das sind Regungen eurer Gattung. Der Mensch fragt selten nach, meist nimmt er sich rücksichtslos, was er will. Er denkt auf sich bezogen und die Auswirkungen seines Verhaltens kümmern ihn kaum.

Trotz dieser wenig erbaulichen Wahrheit empfing ich von der Löwin warme Empfindungen von Verständnis und Mitgefühl für unsere fehlbare Spezies. Wie jedes Tier wertete sie nicht, sondern nahm uns samt allen Schwächen liebevoll an.

Wesen wie wir, die von den Körpern anderer Tiere leben, sind sich unseres Handelns und dessen Konsequenzen bewusst. Wir sind dankbar für den liebevollen Akt des Beutetieres, das uns seinen Körper opfert, damit wir nicht verhungern. Denn es geschieht aus selbstloser Liebe, dass sich ein Wesen zur Verfügung stellt und sein irdisches Leben aufgibt, damit ein anderes dafür weiter existieren kann. Es kennt den tieferen Sinn seines Daseins.

Aber lebt ein Beutetier nicht in ständiger Angst, überall und zu jeder Zeit unverhofft angegriffen und gefressen zu werden?

Nein, Tiere fürchten sich nicht vor dem Tod. Und es geschieht auch nicht unerwartet. Denn Verfolger und Opfer stehen in Verbindung miteinander. Es entsteht eine kurze Absprache. Der Jäger vermittelt sein Bedürfnis nach Nahrung und ein Tier stellt sich zur Verfügung. Oft ist es krank oder schwach und eine sinnvolle Aufgabe seiner Existenz ist, mit seinem Körper einem anderen Wesen Lebenskraft zu schenken. Kein Geschöpf jagt ein anderes, wenn dieses nicht bereit dazu wäre und eine andere Lebensaufgabe vor sich hat. Es ist stets ein Akt des Schenkens und Beschenktwerdens in Liebe und Dankbarkeit.

Ich war ziemlich überwältigt von diesen Äußerungen und die für Menschen ungewohnt altruistische und schwer nachvollziehbare Lebensweise im Tierreich. Aber noch eine Frage beschäftigte mich:

Wenn die Tiere keine Angst vor dem Sterben haben und dessen Sinn kennen, wieso flüchten sie dann vor dem jagenden Raubtier? Ich fühlte die Löwin lächeln. Sie hatte bereits vor der Fragestellung gewusst, worauf ich hinaus wollte.

Jedes Geschöpf hat seine besondere Gestalt mit eigenen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Anlagen, um zu funktionieren und sein Leben auf der Erde zu meistern. Die Grundvoraussetzungen zum Überleben sind genetisch bedingt und von Art zu Art verschieden. Jedes Wesen wird angetrieben von automatisch sich abspulenden, physiologischen Abläufen ebenso wie von Reaktionen auf Umweltsituationen, die seine Existenz sichern und das Fortbestehen einer ganzen Gattung ermöglichen. Gefahren wahrnehmen und ihnen ausweichen, sich von ihnen weg entfernen durch Flucht, ist eine natürliche Handlungsweise - das tun auch Menschen, wenn sie erkennen, dass sie bedroht sind und ein Gegner oder Angreifer ihnen überlegen ist. Tiere, die in der Nahrungskette unter uns Jägern stehen, reagieren denn auch automatisch mit Flucht auf unser Erscheinen. Ihr nennt sie ja auch Fluchttiere. Das schließt jedoch nicht aus, dass der Informationsaustausch zwischen einem Geschöpf, das Nahrung nötig hat und darum bittet und jenem, das sich selbstlos zur Verfügung stellt, ungehindert abläuft. Die Reflexreaktion des Flüchtens resultiert aus der Veranlagung heraus, genauso wie die des Nachjagens und Eroberns von unserer Seite. Auch diese Vorgänge gehören dazu und sind notwendig, um unsere jeweiligen Charaktereigenschaften ausleben zu können. Denn sie sind Teil der Persönlichkeit und Einzigartigkeit jeder Wesensart auf dem Planeten. Wir sind damit geboren worden, um sie einzusetzen und zu erfahren.

Das leuchtete mir ein. Ich wollte mich eben bei der Löwin bedanken für ihre unendliche Geduld und meine Notizen zusammenpacken. Da fiel mir ein, dass sie sich zu ihrer Vogelfang-Aktion in der Löwenanlage noch nicht geäußert hatte. Ob es wohl unverschämt war, sie ebenfalls darauf anzusprechen? Noch während ich zögerte, kam sie mir hilfreich entgegen:

Du möchtest gern erfahren, was zwischen den Sittichen und mir geschehen ist. Wie du weißt, heißt Nahrungsaufnahme Energiezufuhr. Und zwar nicht nur im Sinne von Kalorien, sondern vor allem auf der Ebene von Schwingungen, von Lebensenergie, die alle Geschöpfe durch Verspeisen anderer Wesen aufnehmen. Bei den vegetarisch sich ernährenden Arten geschieht dies durch die Pflanzen, auch sie sind Energieformen. Wir Tiere, die in Gefangenschaft leben, erhalten nur totes Futter. Das ist energetisch bedeutend weniger wertvoll und stärkend. Denn es handelt sich um Wesen, die in den meisten Fällen nicht freiwillig ihr Leben und ihren Körper geopfert haben in dem üblichen liebevollen Akt zum Nutzen eines anderen. Es sind Geschöpfe, die gedankenlos getötet worden sind, ohne Dank für das Geschenk ihres Lebens und oft nach unwürdiger Leidenszeit in Angst bis zu ihrem traurigen Ende.

 

Mein Dasein hier im Zoo verbietet mir, jemals meine Veranlagung auszuleben und ein Beutetier zu fangen, im Einverständnis mit einem Wesen zu sein, das sich und seine wunderbare Lebenskraft mir bewusst und liebevoll hingibt. Diese neu und unerwartet in unserem Revier eingezogenen Mitbewohner wussten dies und haben mir freiwillig die niemals wiederkehrende Gelegenheit geboten, meine Jägernatur wenigstens ein einziges Mal zu erfahren. Ich danke ihnen voll Demut für das selbstlose Opfer, ihr Vogeldasein für mich aufgegeben und mir ihre hochwertige Energie zur Verfügung gestellt zu haben. Und dafür, mich meinen angeborenen Jagdinstinkt einen Augenblick lang ausleben zu lassen.

Dies war ein denkwürdiger und außergewöhnlich ausführlicher Austausch gewesen. Ich lockerte mein verkrampftes Handgelenk und steckte die vielen beschriebenen Notizblätter ein. Glücklich über dieses lange Gespräch mit der Löwin, die sich mir mit soviel Wohlwollen und unendlicher Geduld geöffnet hatte, verabschiedete ich mich von ihr und machte mich ganz erfüllt von all den interessanten Erkenntnissen auf die Heimfahrt.

*

Böige Novemberwinde fielen mir in den Rücken und schubsten mich beinahe die Treppe zur Löwenanlage hinauf. Wolkenfetzen zogen rasch über das Himmelsblau und spielten Verstecken mit der Spätherbstsonne. Rundherum schnitten Gärtner die Sträucher und Bäume zurück, kappten Äste und lichteten aus, rodeten einzelne Stellen der Bepflanzung. Ganze Wagenladungen von Zweigen wurden abtransportiert. Ein Teil würde Verwendung finden in verschiedenen Gehegen, damit die Tiere damit spielen, daran knabbern und die Rinden abschälen konnten.

Die Löwen wanderten durch ihr Revier. Der mächtige Kater verharrte im Schritt und ließ sein lautstarkes Brüllen durch den Zoo schallen. Wollte er damit wohl etwas ausdrücken?

Ich zeige anderen Tieren meine Stärke. Ich habe viel Kraft und gebe davon an meine Umgebung ab. Laute sind mächtig, sie haben große energetische Auswirkungen auf die Umwelt.

Das nahe Kreischen einer Motorsäge, die sich durch ein paar dicke Äste frass, lenkte mich ab. Der Löwe fing mein leises Bedauern mit dem Baum auf und fuhr fort:

Ebenso große Energie tragen eure Gedanken und Vorstellungen in sich. Sie bewirken viel mehr, als sich der Mensch bewusst ist. Was ihr sagt, denkt und euch ausmalt, damit beeinflusst ihr, dadurch kreiert ihr die künftige Welt. Zahlreiche Menschen machen sich ernste Gedanken über das Aussterben von Tierarten, die Abholzung des Regenwaldes.

Ja, genau dies war mir eben durch den Sinn geschossen und er ging postwendend auf meine Empfindungen ein:

Und ihr fühlt euch machtlos. Das seid ihr nicht. Jede Veränderung beginnt im Kleinen und wächst an wie ein großer Fluss, in dem sich unzählige einzelne Rinnsale vereinen und zu einem gewaltigen Strom anschwellen können. Aufklärung geht auf manche Weise vonstatten. Ein Weg, andere Menschen zu berühren und wachzurütteln, ist der durch Gedankenarbeit und Informationen, wie durch dieses mit dem Herzen geschriebene Buch. Das ist dein Beitrag für ein Umdenken zu Achtsamkeit und Respekt gegenüber der Schöpfung. Jedes Wesen hat die Macht, unsere Welt zu verändern, auch du. Notiere alles, was aus deinem Herzen strömt. Schreibe auf, was wir in unseren Gesprächen mit dir teilen. Lass andere Menschen über deine Brücke gehen, über diese Brücke zu uns Tieren.

Dankbar für seine Botschaft fragte ich den Löwen, ob er mir noch etwas auf den Weg geben mochte, eine Empfehlung an mich oder für alle Menschen.

Denke an die Schlangenhaut, die du sahst.

Ach ja, bei meinem Streifzug durch den Zoo hatte ich kurz zuvor in den Terrarien eine farblose schlauchförmige Hülle entdeckt, jenes selten zu entdeckende, geisterhafte Abbild einer Schlange. Aber woher weißt du das? wollte ich verblüfft wissen.

Dieses Erlebnis haftet noch in deinem Herzen, es hat dich beeindruckt, lächelte der mächtige Mähnenlöwe und schaute mir in die Augen. Seine Präsenz zog mich magisch in Bann. Es fühlte sich an, als blickte er mir direkt ins Herz hinein. Ich nahm unsere mentale Verbindung als sehr intensiv wahr.

Häutet euch. Streift alte, begrenzende und einengende Hüllen ab, lasst Neues wachsen. Ehrt die Stärken in euch und gebt sie freudig weiter. So verändert ihr die Welt. Und seid euch stets eurer Gedanken und Worte bewusst. Sie sind mächtig, achtet gut darauf, wie ihr denkt und was ihr sagt.

Der Löwe schüttelte seinen wundervollen Mähnenkranz, reckte den Kopf und ließ erneut sein weit tragendes Brüllen hören. Es war ein imposantes, beeindruckendes Bild, ein machtvolles Schauspiel. Seine wahrhaft königliche Präsenz veranlasste mich zu der Frage, wie ein Löwenmann die Position als Oberhaupt der Familie sah, in welcher Form er seine Macht wahrnahm und ausübte.

Ich muss ein starker, verlässlicher Rudelführer sein zum Nutzen und zur Sicherheit aller Familienmitglieder. Jeder Löwenkater verteidigt mit seiner Kraft Mütter und Junge gegen Eindringlinge, die ihnen gefährlich werden könnten. Unsere dichte Mähne ist geeignet, Prankenhiebe und Bisse abzufangen. Wir haben den Drang, die Familie zu schützen, dem Nachwuchs ein guter Führer und Vater zu sein.

Verbreitet ihr manchmal auch Angst durch eure dominante Präsenz?

Nein, das männliche Oberhaupt ist kein Despot, wir leben in einer harmonischen Gemeinschaft. Familie und ihr Zusammenhalt ist einem Rudelführer ausgesprochen wichtig.

Wieso gehen nur die Löwenweibchen Beute jagen?

Ein Kater muss seine Kräfte sparen. Er darf sich nicht verausgaben, denn er muss jederzeit gewappnet sein für Angriffe von allein umherziehenden jungen Löwenmännern. Dies ist eine wichtige und sehr ernste Aufgabe. Solche starken Einzelgänger versuchen von Zeit zu Zeit immer wieder neu, einen Rudelführer in gefährlichen Kämpfen zu besiegen und dessen Familie zu übernehmen. Dabei töten sie oft anschließend den ganzen Nachwuchs. Die Menschen verstehen unsere Haltung meist nicht, weil sie den wahren Grund nicht kennen. Sie stufen uns vielfach als faule Profiteure ein, welche die Löwinnen für sich Beute schlagen lassen.

Auch er erklärte sich ganz ohne Vorwurf. Tiere werten und verurteilen andere Geschöpfe niemals. Dies ist wohl eine leider unrühmliche menschliche Eigenart. Er fuhr fort:

Wenn die Löwinnen auf die Jagd gehen, bleibt immer eine Mutter bei allen Jungen zurück und beaufsichtigt den gesamten Nachwuchs, sie sind sehr fürsorgliche Wesen. Die Familie steht für einen Löwen im Vordergrund.

Es war Abend geworden. Dämmerung verschluckte langsam die Farben und kroch unter Büsche und in Mauerecken. Bald würden die Tore schließen. Ich wollte mich nicht verspäten und den Nachtausgang benutzen müssen, verabschiedete mich herzlich von meinem gesprächsbereiten, beeindruckenden Gegenüber und verließ, einmal mehr reich beschenkt durch all die bereitwilligen, freundlichen Tierlehrer, den Zoo.

*

Schneeduft lag in der kalten Morgenluft. Der Zoo präsentierte sich noch ziemlich leer und ruhig. Warm eingepackt marschierte ich zügig durch die Wege Richtung Löwenhaus. Ich war ein wenig traurig. In den Zeitungsberichten war kürzlich zu lesen gewesen, dass eine der Löwinnen vor zehn Tagen zwei Junge zur Welt gebracht hatte, die beide nicht überlebten. Eines war bei der Geburt schon tot, das zweite verstarb kurz danach ebenfalls. Das Wechselbad der Gefühle, welches durch diese Geschehnisse bei mir und vielen Menschen ausgelöst worden war, wollte ich mit dem Löwenvater zu bereden versuchen: