Zuckermausalarm

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Ute Dombrowski



Zuckermausalarm





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Inhaltsverzeichnis





Titel







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Impressum neobooks







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Zuckermausalarm





Ute Dombrowski



















1. Auflage 2018



Copyright © 2018 Ute Dombrowski



Umschlag: Ute Dombrowski mit www.canva.com



Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs



Satz: Ute Dombrowski



Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach



Druck: epubli




Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.





 Luna hatte gerade fünf Minuten lang versucht, das Knopfloch über den Knopf ihrer Jeans zu ziehen. Vergeblich, nun taten ihr die Finger weh und sie lag schwer atmend und mit hochrotem Kopf auf dem Bett.



„Scheiße, wenn der schon nicht zugeht, dann kann ich den Reißverschluss erst recht vergessen.“



Sie richtete sich auf, riss die Hose von ihren Beinen und stellte sich mit geschlossenen Augen vor den großen Spiegel. Langsam öffnete sie ein Auge und schloss es direkt wieder. Sie zog den Bauch ein, hielt die Luft an, lächelte und öffnete nun mutig beide Augen.



„Oh Mann“, flüsterte sie, und als sie jetzt die Luft hastig ausstieß, war da wieder dieser Bauch. „Ich bin fett. So wird er mich nie ansehen.“



Luna Bergis war fünfzehn und das erste Mal richtig verliebt. Der neue Sinn ihres Lebens hieß André Reifeltz, war ebenfalls fünfzehn und vor sechs Wochen mit seiner Mutter neu in die Nachbarschaft gezogen. Er hatte grüne Augen, fast schwarze Haare, die er modisch kurz nach hinten gekämmt trug, und eine glatte, schön gebräunte Haut. Seufzend schlüpfte sie in ihre ausgebeulte Jogginghose und ging nach unten. Doretta Bergis, Lunas Mutter, hatte eine Gemüselasagne auf den Tisch gestellt. Lunas Bruder Joago holte drei Teller dazu und kramte im Schrank nach dem Besteck.



„Was ist das? Warum kann Papa nicht für uns kochen?“, fragte Luna und schaute auf die grünliche Masse in der Auflaufform.



Joago ließ sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches fallen und grinste fies. Er schaute zuerst die Lasagne an, dann wanderte sein überheblicher Blick am Outfit seiner Schwester hinunter und blieb an der Jogginghose hängen.



„Wag ja nicht, etwas zu sagen!“, drohte Luna.



„Warum nicht? Ich kann doch nichts dafür, dass du in der letzten Zeit solche Zelte anziehst. Finde dich damit ab: Du bist eben unförmig.“



In diesem Moment fuhr Dorettas Kopf herum.



„Bitte lass deine Schwester in Ruhe! Ich finde, das war gerade keine höfliche Bemerkung. Luna ist gut so, wie sie ist.“



„Ja klar, in ihrem Format mag sie nett sein“, stichelte der Sechzehnjährige weiter. „Aber so fett kriegt sie nie einen Mann ab.“



„Joago!!!“, rief seine Mutter.



Sie setzte sich zu ihren Kindern an den Tisch und schaute Luna, die den Tränen nahe war, mitleidig an.



„Du hast halt weibliche Formen und musst dich nicht schämen, meine Kleine. Das bisschen Babyspeck verwächst sich.“



Jetzt brach Luna in Tränen aus, stieß den Stuhl zurück und rannte in ihr Zimmer, wo sie die Tür zuknallte. Mit diesen Menschen da unten wollte sie nie wieder etwas zu tun haben. Weinend warf sie sich auf das Bett.



Bald legte sich Luna auf den Rücken und strich sich im Liegen über den weichen flachen Bauch. Sie war schon immer ein hübsches Mädchen gewesen und das hatte sich auch jetzt nicht geändert. Aber was brachten die strahlenden blauen Augen, die wallenden blonden Locken, um die sie alle anderen Mädchen aus der Klasse beneideten, wenn sie fett war? Mit ihren ebenmäßigen Zähnen knabberte sie an ihrer Unterlippe.



Wenn Joago, der große Bruder, der aussah wie ein Surfer mit seinen langen blonden Locken, auch gemein zu ihr gewesen war, ihre Lieblingsjeans hatte deutlich gesagt, dass er recht hatte. Weil alles klemmte und unförmig aussah, hatte sie oft Hosen mit Gummizug und zu große T-Shirts an. Es fiel nicht sehr auf, weil viele in der Schule ihre Markensporthosen trugen, aber sie wagte es auch nicht, ihre Mutter nach einer neuen Jeans zu fragen.



Doretta war sechsunddreißig, blond wie die Kinder, gertenschlank und wunderschön. So empfand es nicht nur ihre Tochter, auch Piet Bergis, ihr Mann, machte ihr ständig Komplimente. Sie achtete auf ihre Ernährung und lächelte über ihren Ehemann, der einen kleinen Bauchansatz vor sich hertrug.



„Schatz, wenn ich dich nicht wie verrückt lieben würde, müsstest du sofort eine Diät machen“, sagte Doretta immer und dann küsste sie ihn liebevoll.



Luna aß gerne bei ihrem Vater im italienischen Restaurant. Er war dort Koch und Teilhaber. Doretta betrieb in der Nähe ein kleines Café mit Laden, wo es hauptsächlich Vollkornprodukte und Dinkelkuchen gab. Die Eltern waren auch im Lebensstil das genaue Gegenteil, aber die Beziehung funktionierte schon seit neunzehn Jahren perfekt. Joago ging wie Luna in die Gesamtschule, er war in der zehnten Klasse und hatte jeden Monat eine neue Freundin, Luna besuchte die neunte Klasse und hatte bisher nur mit ihren Freundinnen über die Jungs gekichert.



Luna hatte sich in ihrem Körper immer wohlgefühlt, sogar die Veränderungen hin zum Erwachsenwerden machten ihr keine Probleme. Sie war sportlich und agil, also machte es ihr nichts aus, dass sie nicht so dürr war wie ihre Freundin Gianna.



Aber jetzt war André in ihr Leben getreten und alles hatte sich verändert. Als es leise klopfte, setzte sie sich auf und Doretta, die wieder ihren besorgten Mutterblick zeigte, trat ein. In ihrer Hand hielt sie einen Teller mit einer winzigen Portion Gemüselasagne und drei Scheiben Gurke.



Luna kroch an das Kopfende ihres Bettes und sah ihre Mutter beleidigt an.



„Das kannst du alleine essen“, schmetterte sie ihr entgegen.



„Aber Kind, Luna, du bist ein hübsches Mädchen, ich verstehe nicht, was sich jetzt verändert hat. Komm, rede mit mir. Wir haben doch sonst auch über alles gesprochen.“



Luna überlegte, aber sie konnte ihrer Mutter nicht lange böse sein, denn diese hatte recht: Sie waren wie Freundinnen, die über alles reden konnten.



„Ach Mama, Joago ist zwar ein Arsch, aber ich bin wirklich fett.“



„Arsch sagt man nicht. Er ist dein Bruder, da ist ein bisschen Spaß normal.“

 



„Der hat gut reden: Waschbrettbauch, tausend Weiber, die an ihm kleben und der darf auch schon viel mehr als ich. Außerdem bin ich echt fett geworden. Ich brauche eine neue Jeans. Leider eine Nummer größer.“



„Echt? Ach darum läufst du immer in dem Ding da herum. Wir gehen morgen einkaufen, in Ordnung? Und lass dir nichts einreden, du wirst eine Frau, da verändert sich der Körper nun einmal. Du wächst dann wieder und schon bist du rank und schlank.“



„Meinst du? Also gut, ich bete mal dafür und bis dahin esse ich den Matsch hier und nicht mehr bei Papa.“



„Am Wochenende gönnst du dir was, ja?“



„Nein, nie wieder. Nie, nie, nie, nie wieder.“



„Aber sonst war doch immer … ah … ich denke, ich verstehe. Hm, Süße, bist du etwa verliebt?“



Luna nickte und schon bekam sie diesen sanften Mäuschen-Blick, wenn sie an André dachte. Er war ja so süß.



Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Mutter: „In wen denn? Mag er dich auch? Seid ihr zusammen?“



„Das ist noch nichts, was ich dir erzählen kann. Außerdem weiß er nichts davon. Wenn es soweit ist, sage ich es dir, ja?“



„Aus deiner Klasse oder älter?“



„Auch fünfzehn, keine Sorge, alte Kerle interessieren mich nicht.“



„Gut, dann drücke ich dir die Daumen.“



Doretta küsste Luna auf die Wange und ging aus dem Zimmer.





2




Gianna Krömmeck war ebenfalls fünfzehn Jahre und seit dem Kindergarten Lunas beste Freundin. Sie saßen in der Schule nebeneinander und verbrachten viel Zeit gemeinsam. Seit sie elf war, trug Gianna einen Büstenhalter, der mit merkwürdigen Gel-Kissen ausgefüllt war.



Damals hatten die Mädchen gelacht, als sie das Teil in der Sport-Umkleidekabine gesehen hatten, aber im letzten Jahren war es dann selbstverständlich geworden, dass alle Mädchen einen Büstenhalter trugen. Außerdem hatte Gianna schon einen Freund und darum war sie für viele ein großes Vorbild. Oft verschwand sie mit mehreren Mädchen auf der Schultoilette, um die Fortschritte bei der Suche nach der Liebe zu besprechen.



Heute kam Gianna mit hautengen Jeans und einem bauchfreien Top in die Schule. Natürlich war sie direkt von mehreren Jungs umringt, aber sie ließ sie stehen und trat zu Marvin Leitzerich aus der zehnten Klasse. Er legte einen Arm um sie und küsste sie auf den Mund.



Luna ging hinterher und zog Gianna mit sich.



„Was soll denn das? Ich wollte noch ein bisschen mit Marv knutschen“, empörte sich die Freundin.



„Das kannst du jeden Tag, aber ich muss dringend mit dir reden.“



„Oh Süße, du klingst ganz verzweifelt. Marv, Schatz, ich muss meiner Freundin helfen. Bis in der Pause, ja? Also, schieß los!“



„Ich bin fett.“



„Nein Süße, du bist doch nicht fett. Du bist weiblich.“



„Du hast gut reden, meine Lieblingsjeans geht nicht mehr zu und genau jetzt bin ich verliebt.“



„Das ist nicht dein Ernst! Da passiert etwas so Spannendes und du sagst das ganz nebenbei. Wer ist denn der Glückliche?“



Nun begannen Lunas Augen zu leuchten und sie sah in Richtung Haupteingang, wo soeben André durch das Tor trat. Sie seufzte.



„Ist er nicht süß?“



„Der Freak? Du hast ja Geschmacksverirrungen. Ih, nein, der geht gar nicht. Schau dir nur mal an, was er anhat. Der sieht ja schlampiger aus als du.“



Luna sah genauer hin. Der schlanke Junge hatte eine schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine abgegriffene schwarze Lederjacke an, seine Füße steckten in ehemals weißen Turnschuhe.



„Nein“, sagte Gianna nochmals und sie schien einer Ohnmacht nahe. „Der geht gar nicht. Der ist in der Parallelklasse, oder?“



Luna nickte fasziniert, als André seinen Kopf hob und auf die Mädchen zukam. Sie wurde blass vor Aufregung, aber Gianna rümpfte arrogant die Nase. André war einen Kopf größer als Luna und jetzt zog er einen Mundwinkel leicht in die Höhe und lächelte.



„Sag mal“, begann er, „meine Mutter hat deine Mutter getroffen und gefragt, ob du mir Nachhilfe in Englisch und Französisch geben könntest. Hast du mal Zeit?“



Luna war rot geworden und starrte den Jungen an. Gianna stieß sie in die Seite.



„Ja … ja, ich denke schon, dass wir, … dass du … ähm … mal rumkommen kannst.“



„Okay, heute Nachmittag um vier?“



Luna nickte entgeistert und dann war André auch schon weg. Gianna öffnete ihre riesige Handtasche, die sie statt einer Schultasche benutzte und holte flache Schuhe heraus, sie ließ sie auf den Boden fallen, griff nach ihren Highheels und stopfte die in die Tasche, während sie in die flachen Ballerinas schlüpfte. Sofort war sie genauso groß wie Luna.



„Na prima, er ist auch noch doof“, sagte sie mitleidig.



„Nur weil ich ihm in Englisch helfen soll, ist er noch lange nicht doof. Du bist manchmal echt oberflächlich.“



„Ach Süße, ich habe eben Erfahrungen mit Jungs, da musst du noch viel lernen.“



Luna presste die Lippen fest zusammen und dachte: Gianna ist eine Diva geworden, wo ist die Freundin, die alle Sorgen und Freuden mit mir geteilt hat?



Als es jetzt zur Stunde läutete, machten sich die beiden auf den Weg in die Klasse. Dort herrschte wie immer Chaos, irgendwer hatte alle Stühle aufeinandergestapelt. Frau Leitzerich, die Mutter von Giannas Freund, begrüßte die Mädchen, die vor der Tür stehengeblieben waren.



„Los, geht rein, wir müssen die Klassenarbeit vorbereiten.“



„Geht nicht“, sagte Gianna kurz angebunden, denn sie mochte ihre „Schwiegermutter“ nicht.



Die Mathematiklehrerin war eine korrekte und strenge Person, der die Freundin ihres Sohnes ein Dorn im Augen war. Ganz im Gegenteil zu Marvins Vater, der Kunstmaler war und nicht im Geringsten zu seiner Frau passte. Aber er mochte Gianna und diskutierte viel mit der kreativen Jugendlichen über seine Bilder.



Jetzt steckte die Lehrerin den Kopf durch die Tür und sah, was passiert war. Sie ahnte, wer es gewesen war und fauchte den kleinen Schüler an, der mit diesen Streichen sein Defizit an Körpergröße kompensierte. Nun entdeckte sie auch, dass hinter dem Wall aus Stühlen noch jemand steckte. Ronja Kuschanikov war regelrecht eingemauert worden.



„Räumt das ab, sofort!“, wandte sich Frau Leitzerich an die anderen und die wagten nicht zu widersprechen, denn ihre Mathematiklehrerin hatte diesen Blick aufgesetzt, der stets Unheil bedeutete.



Als Ronja befreit war, rannte sie aus dem Klassenraum und verschwand weinend um die Ecke. Die Lehrerin bat Luna hinterherzugehen.



„Ihr seid doch befreundet. Schau mal, was los ist. Ach, was müssen die auch immer die arme Ronja ärgern, nur weil sie dick ist.“



Sie betrat die Klasse und alle eilten an ihren Platz, auch Gianna. Luna war Ronja gefolgt und öffnete die Tür der Mädchentoilette. Drinnen saß die Mitschülerin, die immer nur schwarze Kleidung trug, auf dem Boden und weinte. Luna setzte sich neben sie.



„Warum hast du dich denn nicht gewehrt? Du könntest den kleinen Affen doch mit einer Hand zerquetschen.“



„Ich kann gar nichts. Ich bin fett und hässlich, das ist alles.“



„Nein, das bist du nicht. Los, wir müssen Mathe machen, sonst flippt die Leitzerich aus.“



Sie war aufgestanden und half Ronja auf. Die wischte sich die Tränen ab und folgte Luna zurück in die Klasse. In der Pause stand sie zusammen mit ihren Freundinnen und Marvin auf dem Hof in ihrer Lieblingsecke und gemeinsam betrachteten sie die Jungs aus den oberen Klassen.



„Gianna, komm mit, wir knöpfen uns den kleinen Giftzwerg mal vor, damit er aufhört auf Ronja herumzuhacken.“



„Was willst du denn machen?“



„Keine Ahnung, eben mal die Meinung sagen.“



Gianna stieß sich von der kleinen Mauer ab, an der sie gelehnt hatte und folgte Luna. Ronja und Lia schauten den beiden hinterher. Bei den Jungs auf der anderen Seite des Hofes wurde Timon Büschel gerade herum geschubst. Nach einem Stoß gegen die Brust landete er auf dem Hosenboden und lachte, um seinen Ärger zu überspielen.



„Hör zu, Giftzwerg, was sagt wohl deine Polizistenmutter dazu, dass ihr Kleiner die Mädchen mobbt?“, fragte Luna und sah ihn von oben herab an.



Timon sprang auf und baute sich vor dem einen Kopf größeren Mädchen auf.



„Kann die Fette nicht für sich selbst sprechen? Schickt sie ihre dummen Freundinnen vor?“



Luna wollte etwa erwidern, da wurde sie an der Schulter zurückgezogen. Es war André und dumpfe Wut glühte in seinen Augen. Er ging einen Schritt auf Timon zu und tippte ihm gegen die Brust.



„Ich hasse es, wenn sich jemand an Mädchen vergreift. Merke dir: Wenn ich noch einmal sehe oder höre, dass du jemanden ärgerst oder belästigst, dann finde ich dich und mache dich kaputt. Hast du mich verstanden?“



Die anderen Jungs aus der Klasse waren in einen Halbkreis zurückgetreten und immer mehr Schüler versammelten sich, um nichts zu verpassen.



„Timon, tritt ihm in die Eier!“, rief einer.



„Lass dir nichts gefallen von dem Freak“, tönte ein anderer höhnisch.



André achtete nicht darauf und hatte seinen Blick immer noch fest auf Timon gerichtet. Der wusste nicht, was er davon halten sollte.



„Das war doch nur Spaß, Mann. Jetzt lass mich in Ruhe.“



Er drehte sich zu den anderen um und schlich davon. Langsam löste sich die Gruppe auf und jetzt war die Pause auch schon wieder vorbei und alle eilten in die Klasse.



„Danke“, sagte Luna, aber André winkte nur ab und ging davon, ohne sie anzusehen.



Luna zuckte mit den Schultern.





3




Pünktlich um vier Uhr läutete es an der Tür. Luna hatte nichts zum Mittag essen können, so aufgeregt war sie. Ihre Mutter dachte immer noch, dass ihre Tochter wegen der zu engen Hose nichts aß und bedrängte sie nicht weiter. Als Luna zur Tür rannte, schaute sie verwundert aus der Küche.



„Na du“, sagte André und seine grünen Augen leuchteten.



„Komm rein.“



Der düstere Junge folgte Luna erst in die Küche, wo er Doretta begrüßte, und danach in ihr Zimmer. Er sah sich kurz um und ließ seine Tasche auf den Boden fallen. Das gleiche tat er mit der Jacke. Achtlos stieg er darüber hinweg und sah Luna erwartungsvoll an. Es klopfte.



„Kinder, ich bringe euch noch etwas zu trinken, dann lasse ich euch alleine. Luna, ich muss los ins Café, die Rike ist krank. Nimm du bitte nachher die Wäsche aus dem Trockner und lege sie zusammen. Wir sehen uns um sieben bei Papa. Und jetzt viel Spaß.“



Sie grinste scheinheilig und Luna warf ihr einen bösen Blick zu. André stand immer noch mitten im Zimmer und wartete.



„Ähm, wo wollen wir uns hinsetzen?“, fragte er.



„Ach ja, wir lernen Englisch. Komm, wir gehen hinunter ins Wohnzimmer. Ich habe nur einen Stuhl.“



„Wir können uns auch auf das Bett setzen. Ich muss für morgen bloß Vokabeln lernen.“



Luna war rot geworden, stotterte ein paar unzusammenhängende Worte und wischte die Sachen von Bett. Jetzt nahm sie das Englischbuch und setzte sich auf die eine Seite. André grinste und setzte sich ans gegenüberliegende Ende.



„Seite?“, fragte Luna und die Aufregung fiel von ihr ab.



„Keine Ahnung. Sechste Lektion.“



Sie begannen zu lernen und Luna entspannte völlig, denn André war locker und hatte die englischen Wörter schnell im Kopf. Anschließend hörte er sie ebenfalls ab. Nachdem sie fertig waren, herrschte eine unangenehme Stille.



„Danke nochmal, dass du uns heute unterstützt hast“, sagte Luna leise, als der Junge aufstand und seine Jacke aufhob.



„Dieses kleine Stück Dreck denkt, es darf sich alles erlauben. Wenn ich den mal alleine erwische, ist er dran.“



„Wie meinst du das?“, fragte Luna und hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl.



„Wenn jemand sich an Schwächeren vergreift, vergesse ich mich. Und ehe es herum getratscht wird: Ich bin von meiner alten Schule geflogen, weil ich einem Kerl beide Arme gebrochen habe, nachdem er ein dickes Mädchen fast in den Selbstmord getrieben hat. Sie ist meine Cousine.“



Luna hatte große Augen bekommen und rang mit sich. Sollte sie ihn bewundern oder sich distanzieren? André ahnte, was das Mädchen dachte.



„Ich weiß, Gewalt ist keine Lösung, aber Tina ist fast gestorben und dieses Arschloch hatte es verdient. Jetzt trage ich halt die Konsequenzen. Und umziehen mussten wir auch, denn der Alte von dem Kerl hat uns überall angeschwärzt.“

 



„So ein Arsch, sein Sohn hat doch den Fehler gemacht!“



Luna hatte sich entschieden, zu André zu stehen und ihn zu bewundern. Der Junge lächelte jetzt und zog seine Jacke an.



„Danke für die Nachhilfe. Wenn du magst, können wir morgen bei mir Französisch lernen. Mir fehlt ein bisschen der Anschluss. Ich durfte eine Weile nicht zur Schule, als das alles noch ein offenes Verfahren war.“



„Gern, dann komme ich morgen um vier zu dir.“



Luna begleitete André zur Tür und sah ihm hinterher, als er zum Nachbargrundstück ging. Sie seufzte. Ach, er ist ein Held und er sieht super aus, dachte sie.



Sie lief in den Keller und erledigte die ihr aufgetragenen Aufgaben. Zufrieden sah sie sich anschließend um. Es war gerade mal sechs Uhr, also konnte sie noch eine knappe Stunde zu Lia, die um die Ecke wohnte. Luna klingelte Sturm. Als die Tür aufgerissen wurde, floss laute Musik heraus und dumpfe Bässe ließen den Boden zittern.



„Komm rein, Luna!“, rief Lia und zog die Freundin hinter sich her in ihr Zimmer im Obergeschoss.



Dort schloss sie dir Tür und verdrehte die Augen.



„Ich dachte, du hörst diese krasse Musik“, sagte Luna laut.



„Nein, das ist mein Vater, er hat das Wohnzimmer zu einem Atelier umgebaut und malt verrückte Bilder. Das geht schon eine ganze Woche so. Ich muss mit Kopfhörern Hausaufgaben machen, sonst werde ich bekloppt. Papa sagt, er ist kreativer mit lauter Musik. Dabei ist das auf den Bildern Kinderkram. Nur Kreise. In allen Farben. Ich hoffe, es geht bald vorbei.“



„Wann will er denn wieder arbeiten?“



„Keine Ahnung. Kreative Auszeit – so ein Blödsinn. Dem ist sicher schon langweilig, aber er zieht das echt durch, nur um Recht zu behalten.“



In diesem Moment verstummte die Musik, der Boden hörte auf zu beben. Die Mädchen atmeten auf.



Lia setzte sich mit einer elfenhaften Bewegung auf den Teppich vor dem großen Balkonfenster und klopfte auf den Platz neben sich. Sie strich ihre glatten braunen Haare zurück, drehte sie zusammen und sah Luna mit ihren rehbraunen Augen an. Luna mochte die Freundin und fand sie atemberaubend schön. Sie beneidete Lia um die schlanke Figur, die reine, leicht gebräunte Haut und die ebenmäßigen weißen Zähne.



„Du glaubst nicht, wer eben bei mir war“, begann sie und Lia horchte auf.



„André?“



„Woher … ach so. Du hast mitbekommen, dass wir uns verabredet haben. Wir haben Englisch gelernt.“



„So nennt man das also. Du stehst doch total auf den Kerl mit den schönen grünen Augen. Erzähl! Was habt ihr wirklich gemacht?“



Luna sah die Freundin böse an.



„Wir haben Englisch gelernt.“



„Du bist verknallt.“



Nun wurde Luna das Gespräch noch unangenehmer, denn Lia stichelte weiter.



„Das sieht doch ein Blinder, wie du ihm auf dem Schulhof hinterher starrst. Hat er dich geküsst?“



„Was denkst du denn von mir?“, fragte Luna eingeschnappt und beschloss, André nicht mehr so offensiv anzuhimmeln. „Wir haben Englisch gelernt, wirklich! Und wir haben uns nicht geküsst. Der ist mir viel zu arrogant. Du kannst ihn haben. Wir lernen zusammen, weil meine Mutter seine kennt.“



Lia grinste, wusste sie doch, dass es eine glatte Lüge war. Sie selbst konnte in der letzten Zeit an keinen anderen mehr denken als an André. Die beiden waren sich einmal auf dem Nachhauseweg begegnet und sie hatte sich Hals über Kopf verliebt, als er mit sanfter Stimme zu ihr sprach. Dabei hatte er sie mit diesen wahnsinnig grünen Augen angesehen.



„Mal sehen, vielleicht versuche ich es bei ihm und verdrehe ihm den Kopf.“



Luna war zusammengezuckt. Oh nein, dachte sie, wenn Lia in ihn verliebt ist, dann habe ich keine Chance, sie ist viel schöner. Sie war traurig, ließ sich aber nichts anmerken. Später machte sie sich auf den Weg zu ihrem Vater ins Restaurant, wo sie fast jeden Tag um sieben Uhr zusammenkamen und zu Abend aßen.



„Hallo Papa!“



„Na, meine Prinzessin, wie war dein Tag?“



Luna küsste ihren Vater auf die bärtige Wange. Er trug seine Arbeitskleidung, die weiße Kochjacke und eine schwarze Hose, dazu eine rote Schürze, und wedelte mit einer Serviette herum. Das italienische Restaurant war fast voll und Luna setzte sich an den einzelnen runden Tisch, der für die Familie reserviert war. Joago kam gleich nach ihr, grinste fies, sparte sich aber jeden Kommentar, als Piet Berg