Vermisst in Nastätten

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7

Reiner hatte mehr als eine Stunde gebraucht, um auf seinem Arbeitsplatz anzukommen. Dementsprechend war er schlecht gelaunt und knurrte Jennifer an, die bereits am Computer saß.

„Sieben Unfälle in einer Stunde!“, rief sie ihm entgegen.

„Jaja, die fahren alle wieder mit Sommerreifen und wir haben die ganze Arbeit.“

„Wir eigentlich nicht. Wir sind ja nicht die Verkehrspolizei.“

„Ich habe eben Mitgefühl mit meinen Kollegen. Was liegt denn an?“

„Du und Mitgefühl? Na, lassen wir das. Es gibt einen Einbruchsversuch in die Stadtverwaltung in Nastätten.“

„Wer bricht denn im Amt ein? Wie blöd kann man sein? Was gibt es denn da zu stehlen?“

„Keine Ahnung. Lass uns mal hinfahren, aber erst müssen wir noch zum Chef.“

Reiner runzelte die Stirn. Er mochte es nicht, schon morgens bei seinem Vorgesetzten vorgeladen zu werden.

„Na dann los. Was will der denn?“

„Das wird er uns gleich sagen. Nerv mich doch nicht mit deiner schlechten Laune. Was denkst du, wie lange ihr zu deiner Mutter braucht, wenn solch ein Wetter ist?“

Damit hatte Jennifer einen weiteren wunden Punkt getroffen, an den Reiner noch gar nicht gedacht hatte. Bei Schnee auf den Autobahnen zu fahren gefiel ihm überhaupt nicht. Manche rasten rücksichtslos, dann stand man ewig im Stau und dann wäre da auch noch Undine, die den Schnee bewunderte, dauerhaft an seiner Seite. Ob er das aushielt?

Seufzend und mit noch schlechterer Laune klopfte er an die Tür des Dienststelleneiters. In dessen Büro war es eiskalt, weil er wie jeden Morgen ausgiebig lüftete.

„Du heizt mit dem Geld des Steuerzahlers ganz Sankt Goarshausen“, stänkerte Reiner.

Winfried Brötzeler ging nicht drauf ein, schloss die Fenster und bot Jennifer und ihm einen Platz an. Reiner dachte: Auch noch hinsetzen, das bedeutet sicher Unheil.

„Kaffee?“

„Nein“, antwortete er misstrauisch. „Was ist hier los?“

Der Dienststellenleiter strahlte über das ganze bärtige Gesicht, als er sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte.

„In diesem Jahr wird es eine große Weihnachtsfeier geben und ihr werdet sie organisieren. Ich möchte, dass es gemütlich wird, mit gutem Essen, einem guten Wein und fröhlicher Stimmung.“

„Wenn du jetzt auch noch Wichteln vorschlägst, lasse ich mich versetzen.“

Winfried Brötzeler sah Reiner begeistert an.

„Wichteln ist eine tolle Idee! Mensch, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Jetzt griff Jennifer ein.

„Wichteln ist nicht mehr üblich, Chef! Außerdem können wir nicht ohne Reiner auskommen. Wir werden gerne irgendwo eine Lokalität buchen und ein gemütliches Zusammensein organisieren, aber für mehr fehlt uns die Zeit.“

„Wieso das denn? Es ist gar nichts los im Moment, da habt ihr doch Zeit.“

Der Dienststellenleiter sah richtig enttäuscht aus. Reiner war froh, dass er jetzt mit Jennifer in die engere Planung ging. Weihnachtsfeier war eigentlich schlimm, aber ein bisschen Essen und Trinken würde er mitmachen. Oder er konnte sich entschuldigen.

„Das mit der Zeit werden wir sehen. Wenn das zutrifft, was Undine sagt, werden wir bald viel zu tun haben.“

Jennifer sah ihn fragend an.

„Was sagt denn Undine?“

„Fremde in Nastätten, höchst verdächtig. Und sie sagt, das bringe Unheil mit sich.“

„So ein Quatsch. Verbrechen hängen doch nicht mit … ach, du willst mich veräppeln. Jetzt hör auf. Ein bisschen Geselligkeit würde dir auch mal guttun.“

„Ich habe ausreichend Gesellschaft.“

„Kinder!“, rief Winfried Brötzeler. „Schön, dass ihr euch kümmert. Dann mal ab an die Arbeit. Und Reiner! Nicht so brummig, wir haben bald Weihnachten, das Fest der Liebe! Familie, Freunde, Geschenke, das gehört nun mal dazu, wenn man in festen Händen ist. Die Zeiten des einsamen Wolfes sind vorbei.“

Reiner presste seine Lippen fest aufeinander, damit ihm nichts Unbedachtes herausrutschen konnte und verließ fluchtartig das Büro.

„Das wird schon, Chef, ich bin ja auch noch da.“

Jennifer winkte und folgte Reiner. Er saß schon am Schreibtisch und durchforstete den Computer nach aktuellen Fällen. Aber es gab nichts, nur den versuchten Einbruch in der Stadtverwaltung in Nastätten. Als Jennifer das Büro betrat, warf er ihr die Jacke zu und drängte zum Aufbruch.

„Bloß weg hier. Wie kommt der Kerl darauf, ausgerechnet uns zu diesem Mist zu bestimmen?“

„Ich weiß nicht, wahrscheinlich sind wir gut im Organisieren.“

„Pah, das kann was werden. Aber meine Liebe: Nur Essen und Trinken in einer Kneipe. Mehr nicht!“

„Darf es auch ein besseres Restaurant sein?“

„Bucher Hof! Wenn, dann will ich was Ordentliches auf den Teller.“

„Einverstanden. Hoffentlich haben die noch was frei.“

„Wir fahren sofort hin!“

Mittlerweile waren die Straßen geräumt, alle waren geschäftig unterwegs und das Leben hatte den Rhein-Lahn-Kreis wieder fest im Griff, sodass sie den Weg zum Bucher Hof rasch hinter sich gebracht hatten. Das Restaurant war geschlossen, aber Reiner klopfte trotzdem. Nach einer Weile öffnete die Besitzerin.

„Nanu? Polizei bei mir?“

„Morgen! Gut, dass Sie da sind. Das hier ist ein Notfall! Wir haben Weihnachtsfeier und wollen etwas Ordentliches essen und trinken.“

Lachend ließ die Frau sie eintreten und holte ihr Reservierungsbuch.

„Wollen Sie einen Kaffee?“

„Gerne“, sagte Jennifer freundlich.

„Sie haben Glück, dass ich hier bin, ich hatte zufällig etwas Wichtiges vergessen. Um diese Zeit bin ich eigentlich nicht da, das muss wohl ein gutes Omen sein.“

Sie blätterte hin und her.

„Wie viele Personen?“

„Zwanzig bis fünfundzwanzig.“

„Sie haben Glück. Ich habe genau noch einen Termin frei. Morgen in einer Woche um sieben Uhr abends?“

„Passt! Einige Kollegen müssen arbeiten, aber der Rest kommt sicher gern“, rief Reiner und informierte gleich den Dienststellenleiter.

Der war zufrieden und lobte Reiner ausgiebig. Nachdem der Kommissar aufgelegt hatte, rollte er mit den Augen.

„Es soll mir niemand nachsagen, ich sei nicht gesellig. Danke. Hier weiß ich wenigstens, dass ich etwas Vernünftiges zu essen bekomme.“

„Ich danke Ihnen. Essen Sie dann à la carte oder darf ich Ihnen ein schönes Büfett anbieten?“

„Wie es unkomplizierter ist.“

„Alles klar, dann sehen wir uns nächste Woche. Wie geht es denn Undine?“

„Gut. Wir freuen uns auf Weihnachten.“

Jennifer dachte: Der wird nicht mal rot beim Schwindeln. Sie lachte und verabschiedete sich. Reiner nickte freundlich und folgte ihr nach draußen.

„Du lügst ohne rot zu werden!“

„Warum lüge ich denn? Weihnachten ist super.“

Lachend machten sie sich auf den Weg in die Stadtverwaltung, wo Martin Lähgrich schon auf sie wartete.

„Was klaut man denn hier?“, fragte Reiner sofort.

„Ich weiß nicht“, sagte der Bürgermeister missmutig. „Es ist ja nichts weggekommen. Die Spurensicherung war schon da und sie meinten, es ist niemand eingedrungen. Aber das Türschloss ist kaputt und muss schnell ersetzt werden. Sicher waren es irgendwelche Typen, die mutwillig Sachen kaputtmachen. Ich hasse das!“

„Ich verstehe Sie völlig.“

Jennifer und Reiner gingen in die einzelnen Büros und fragten, ob den Mitarbeitern irgendetwas aufgefallen war. Doch keiner hatte etwas gesehen.

„Es tut mir leid“, sagte Jennifer zum Bürgermeister, „aber die Chance, etwas zu ermitteln, geht gegen null. Sie werden wohl auf den Kosten für das neue Schloss sitzenbleiben.“

„Das dachte ich mir schon, aber ohne Anzeige wäre es so, als würden wir aufgeben gegen diese Knallköpfe. Da macht man etwas neu und schön und dann kommen ein paar Vandalen und zerstören es. Ich verstehe nicht, welche Erziehung diese Leute genossen haben.“

„Wahrscheinlich gar keine“, sagte Reiner trocken.

Im Flur kam ihnen Alina Barolsen entgegen. Reiner dachte nur: Die fehlt mir noch! Er hatte noch genug von ihr wegen des Drucks, den sie ihm lautstark wegen der verschwundenen Schuhe gemacht hatte.

„Guten Morgen, Herr Kommissar, guten Morgen, Jennifer!“

„Morgen“, brummte Reiner.

„Haben Sie den Einbrecher schon gefasst oder legen Sie direkt die Hände in den Schoß?“

„Natürlich setzen wir den gesamten Polizeiapparat von Rheinland-Pfalz in Bewegung.“

„Wie lustig er heute wieder ist. Arme Jennifer, wie halten Sie es nur mit diesem muffeligen Kerl aus? Und Undine erst!“

„Ach Alina, er ist schon in Ordnung, man muss ihn nur lange genug kennen. Vor Weihnachten ist er immer ein bisschen unruhig, noch dazu, wo jetzt Schnee liegt.“

„Ich gehe mal davon aus, dass er Schnee hasst und Weihnachten mag er auch nicht?“, fragte Alina mit einem süffisanten Lächeln.

Jennifer grinste, während aus Reiners Augen Blitze schossen.

„Gute Frau, kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Kram. Komm, Jennifer, es gibt Arbeit.“

Er zog seine lachende Kollegin in Richtung Ausgang.

„Und Spaß versteht er auch nicht!“, rief ihnen Alina hinterher.

8

Am Donnerstagmorgen war Sabine schon früh wach. Robert schnarchte und ein Arm hing aus dem Bett. Sabine fragte sich seit einiger Zeit, wie lange das noch gutgehen würde. Sie hatte versucht, eine Erklärung für sein verändertes Verhalten zu finden. Hatte er Ärger im Job? Dann könnte er doch darüber sprechen. Wenn er sie küsste, musste sie sich beherrschen, um nicht angewidert den Kopf wegzudrehen. Sie war nur froh, dass er sie sonst nicht mehr anrührte.

 

Hatte er eine andere? Dann könnte er doch einfach gehen. Warum quälten sie sich denn so? Sie sah, dass er oft mit den Gedanken woanders war. Und war es nicht meistens eine Frau, an die ein Mann dachte? So, wie er sich ihr und Michelle gegenüber verhielt, hoffte sie sogar, dass er eine andere hatte. Sollte sie ihn danach fragen? Er würde sie nur wieder schlagen oder - was noch viel schlimmer war - seine Wut an Michelle auslassen.

Sorgenvoll kam ein Seufzer aus ihrer Brust. Sie stand leise auf, um Robert nicht zu wecken. Er hatte sich den Wecker gestellt, um später zu seiner zweitägigen Dienstreise zu starten. Heute Abend war der Mädelsabend, es war der einzige Lichtblick, der sie im Moment glücklich machte. Sie stand vor dem Spiegel und schaute sich an. Sie sah ganz gut aus, aber die Ringe unter den Augen zeugten von den Sorgen, die sie belasteten. Am Anfang war es so schön gewesen, wieder einen Partner zu haben und Schmetterlinge im Bauch zu spüren. Die Schmetterlinge waren fort und Kälte und Angst hatten Einzug gehalten.

Sabine bereitete das Frühstück vor und bald zog frischer Kaffeeduft durch das Haus. Der lockte Michelle im Schlafanzug in die Küche. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange.

„Guten Morgen, mein Kind. Was liegt heute an?“

„Ich gehe in die Schule und am Abend zu Resi lernen. Bio kriegt sie nicht allein hin, aber mit meiner Hilfe wird das schon gut gehen.“

„Sehr gut, dann setz dich, damit wir zusammen frühstücken können.“

„Kommt Robert auch?“

Sabine nickte.

„Dann esse ich in meinem Zimmer.“

„Aber Michelle …“

„Nein Mama, ich setze mich mit dem Schläger nicht mehr an einen Tisch.“

„Er hat sich doch entschuldigt und es wird nicht wieder vorkommen.“

Sabine schämte sich abgrundtief.

„ER hat sich entschuldigt?“, sagte Michelle aufbrausend. „DU hast das in seinem Namen getan, denn dieser Typ hätte es niemals gemacht. Wenn du es mit ihm aushältst, bitte, aber ich bin raus. Ich wurde geschlagen und du solltest ihn vor die Tür setzen.“

„Wenn hier jemand vor die Tür gesetzt wird, dann wohl eher du!“, kam eine tiefe Stimme von hinten.

Sabine und Michelle zuckten zusammen. Wie viel hatte er von ihrem Gespräch mitbekommen? Robert baute sich vor Michelle auf. Er zitterte vor Wut. Mit festem Griff packte er ihr ins Haar und stieß sie gegen die Wand. Das Mädchen schrie auf. Er ließ los und starrte sie an.

„Fräulein, reiß dein dummes Maul nicht so weit auf. Mich schmeißt niemand aus dem Haus. Geh vor!“

Er drängte sie aus der Küche und in Richtung Kellertreppe.

„Runter!“

Schritt für Schritt und mit der Angst im Nacken, der Freund ihrer Mutter würde sie stoßen, ging Michelle die Treppe hinunter. Robert schob sie zum Heizungskeller, öffnete die Tür und stieß sie hinein. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, der Schlüssel drehte sich und wurde abgezogen. Michelle rappelte sich auf und trommelte mit beiden Fäusten dagegen.

„Mach auf, du Arsch, ich muss zur Schule!“

Er schlug mit der Faust gegen die Tür und brüllte: „Du musst nirgendwo hin!“

Oben in der Küche stand Sabine wie versteinert. Als Robert wieder vor ihr stand, war er immer noch wütend. Er packte Sabine am Arm.

„Kannst du mir mal sagen, was hier los ist?“

In einem Anflug von Leichtsinn sagte Sabine: „Das frage ich dich! Was haben wir dir denn getan, dass du so böse bist? Hast du Sorgen oder Ärger? Dann rede mit mir! Hast du eine andere?“

Robert gab ihr eine schallende Ohrfeige und lachte laut.

„Mann, ich habe keine andere und auch keine Sorgen. Ich bin halt manchmal sauer und ihr macht nur, was ihr wollt. Ihr seid total egoistisch!“

„Nur weil ich einmal alle zwei Wochen die Mädels treffe, bin ich doch nicht egoistisch. Ich kümmere mich doch sonst immer um dich. Bitte lass uns reden.“

„Ich mag aber nicht reden. Du hast ein gutes Zuhause und musst nirgends hin. Bleib einfach mit deinem Arsch hier und mach deine Arbeit.“

„Ich werde heute Abend in die Gondola gehen.“

„Du wirst was?“

„Ich gehe in die …“

Weiter kam Sabine nicht. Roberts Gesichtszüge veränderten sich zu einer zornigen Grimasse. Rasend vor Wut zerrte er sie zu Michelle in den Keller, steckte den Schlüssel ins Schloss des Heizungskellers und öffnete die Tür. Michelle dachte, Robert lässt sie wieder raus, aber stattdessen fiel ihr Sabine weinend vor ihre Füße. Das Mädchen konnte nicht mehr atmen, der Anblick ihrer Mutter auf dem Boden hatte ihr einen Schock versetzt.

„So, jetzt zeige ich euch mal, wo ihr hingeht. Nämlich nirgends!“, brüllte Robert, um gleich darauf mit gefährlich leiser Stimme weitersprach. „Schreit ruhig, euch hört niemand. Ich bin Freitagabend wieder da. Und bis dahin verhaltet ihr euch ruhig, sonst passiert was.“

Dabei trat er nach Sabine, die immer noch zusammengekauert auf dem Boden lag. Er verließ den Keller. Michelle half Sabine auf und nahm die zitternde Frau schützend in den Arm. Nach zehn Minuten hörten Sabine und Michelle Robert noch einmal zurückkommen. Die Tür wurde aufgerissen und ein Eimer flog hinein.

„Das ist euer Klo! Hier ist Wasser und etwas zu essen.“

Er schob einen Einkaufskorb mit dem Fuß hinein und knallte die Tür zu. Sabine und Michelle blieben sprachlos und überwältigt zurück. Unfassbares Entsetzen hatte sie ergriffen und sie sahen sich ängstlich an.

„Oh mein Gott“, schluchzte Sabine. „Was machen wir denn jetzt?“

Michelle nahm sie wieder in den Arm.

„Ich weiß es nicht. Die in der Schule werden mich vermissen und deine Freundinnen heute Abend auch. Hast du dein Handy?“

„Nein, er hat es mir weggenommen. Du?“

„Liegt in meinem Zimmer.“

Sie hielten sich fest, bis Michelle in dem düsteren, stickigen Raum eine alte Picknickdecke und ein paar Kartons in der Ecke hinter dem Wasserkessel entdeckte. Sie schaute in die Kartons, aber die waren leer. Darum zerrte sie so lange an ihnen, bis eine glatte Pappe vor ihr lag. Darauf legte sie die Decke und zog den Korb heran. Sabine schluchzte, setzte sich aber zu Michelle.

„Wenigstens ist es warm. Komm, Mama, wir frühstücken.“

„Ich schäme mich so!“

„Das musst du nicht.“

„Doch, ich bin deine Mutter und hätte dich beschützen müssen. Und nun bist du die Starke und hast viel mehr Mut als ich.“

Endlich fasste Sabine Mut und erzählte Michelle, was in den letzten Wochen geschehen war. Die Erniedrigungen, die Schläge, die Drohungen – all das hatte sie verändert und zu einem zitternden Wrack gemacht, das sich alles gefallen ließ. Das musste sich ändern!

„Wenn wir hier lebend rauskommen, gehen wir zur Polizei.“

Michelle nickte und verbarg ihre Angst. Ob sie hier jemals wieder rauskamen? Auf jeden Fall hatten sie jetzt zwei Tage Ruhe vor diesem unberechenbaren Mann da oben. Es fühlte sich an, als habe er sich wie ein Parasit in ihr Leben geschlichen, um es zu zerstören.

In der Küche frühstückte Robert und ließ sich Zeit. Die Frauen waren gut untergebracht. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sich auf eine Beziehung einzulassen? Ja, er hatte ein paar Probleme, aber in seiner kleinen Wohnung in Frankfurt hätte er auch gut allein zurechtkommen können. Dann war alles schief gegangen. Zuerst war es ein Glücksfall gewesen, als er Sabine getroffen hatte. So konnte er bei ihr unterkommen.

Jetzt fiel ihm dieser Mädelsabend ein und er nahm ihr Handy aus der Tasche. Er tippte: „Liebe Undine, ich kann heute Abend nicht bei euch sein, denn ich muss zu meiner Tante nach Düsseldorf. Sie ist ausgerutscht und hat sich ein Bein gebrochen. Ich werde ihr ein wenig zur Seite stehen. Deine Sabine.“

Weil er vorher andere Nachrichten gelesen hatte, um Sabines Art zu schreiben nachzuahmen, fand er den Text sehr gelungen, als er ihn laut vorlas. Bei Undine hatte sie sich immer mit „Deine Sabine“ verab­schiedet, also passte alles. Er drückte auf Senden und schaltete das Handy aus. Ohne sich weiter um die beiden Frauen im Keller zu kümmern, machte er sich auf den Weg.

9

Undine hatte am Donnerstagmorgen auch allein gefrühstückt. Nun überlegte sie, was sie alles erledigen musste.

„Ach ja, heute Abend ist Mädelsabend!“

Rasch räumte sie den Tisch ab, schrieb Reiner einen Morgengruß auf dem Handy und ging hinüber in die Werkstatt. Sie hatten gestern die Keramik gebrannt, deshalb war der Ofen heute tabu. Es war immer etwas Besonderes, so eine Art Geburt, und Undine war jedes Mal aufgeregt, bis sie endlich den Ofen öffnen durfte. Aber sie wusste, dass Geduld wichtig war. Eigentlich könnte sie schon heute Abend nachschauen, doch da war ja das Treffen in der Pizzeria „La Gondola“.

Sie räumte die kleine Küche auf, stapelte Schalen und Eimer ineinander, aber das machte ihr nach einer Weile keinen Spaß mehr. Draußen war es kalt, also beschloss sie, ein wenig Anfeuerholz zu hacken. Sie zog sich warm an, nahm das Beil vom Haken und ging hinaus. Eine Stunde später tat ihr zwar der Arm weh, aber ein Berg schmaler Holzscheite lag neben dem Hackklotz. Diesen räumte sie in Kisten und Körbe.

Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und machte sich auf, Jasmin zu wecken. Die Freundin hatte gestern gesagt, dass sie ausschlafen wolle. Jasmin hatte ab heute Urlaub bis Anfang Januar, weil die Firma, in der sie seit einiger Zeit arbeitete, Betriebsferien machte.

Sie klopfte und trat ein. Jasmin saß bereits mit einer Tasse Kaffee und ihrer geliebten Zeitung in der Küche.

„Guten Morgen, Jasmin.“

„Morgen“, brummte die Angesprochene.

„Was gibt es Neues?“

„Nichts Besonderes. Nur einen Einbruch in der Stadtverwaltung.“

„Was? Davon hat Reiner gar nichts erzählt. Wer bricht denn ins Amt ein? Was gibt es dort zu klauen?“

„Sie schreiben, es war nur ein versuchter Einbruch und nichts wurde gestohlen.“

„Wenn, dann sucht man dort ja nur Technikkram oder … wichtige Informationen. Vielleicht hat jemand etwas über eine andere Person gesucht. Eine Adresse oder so.“

Jasmin sah Undine an und schüttelte den Kopf.

„Da geht mit dir wieder mal die Fantasie durch, du Hobbydetektivin! Ich denke mal, es wollte jemand einen Locher stehlen. Oder einen Computer.“

Undine lachte. Ja, Jasmin hatte recht: In solchen Momenten spielte ihr Kopfkino einen Krimi ab, denn sie wollte immer wissen, was dahintersteckte.

„Einen Locher, natürlich. Der ist sehr wertvoll.“

„Du weißt, wie ich das meine. Außerdem hat ja niemand irgendetwas gestohlen. Also Schluss. Kommen heute Abend alle?“

„Bisher hat niemand abgesagt.“

„So, ich gehe jetzt zum Frisör. Kommst du mit in die Stadt?“

„Ja, wir treffen uns in zehn Minuten im Hof.“

Undine lief ins Haus und zog sich um. Sie wollte mitgehen, aber nicht zum Frisör. Sie wollte sich ein bisschen umhören, was man in der Stadt über den Einbruchsversuch wusste. Und wenn Reiner ermittelte, konnte sie ihn mit ihrem Wissen unterstützen. Lene war unterwegs und erst am Nachmittag erreichbar, also musste sie auf eigene Faust etwas herausfinden. Jasmin musste davon nichts wissen, darum begleitete sie sie zuerst zum Frisör und machte sich danach auf den Weg zum Bäcker.

Kornelia Krinkmann war selbst erstaunt über den versuchten Einbruch, allerdings las sie die Zeitung immer erst mittags. Sie fragte ihren Mann und Joshua, aber die beiden hatten auch noch nichts gehört.

„Sowas, da passiert nach langer Zeit mal wieder etwas in Nastätten und dann weiß man so wenig.“

„Frag doch Reiner, der hat sicher eine Ahnung.“

Undine grinste.

„Nein, lieber nicht. Ich finde erstmal selbst etwas heraus und rede dann mit ihm. Ich halte euch auf dem Laufenden.“

Sie wanderte durch die Stadt, traf Bea, die auch nichts wusste und stand auf einmal vor Günther.

„Na, wieder mal am Herumschnüffeln?“

„Hast du uns belauscht? Das gehört sich aber nicht!“

„Ihr habt so laut geschnattert, da wären sogar die Weihnachtsgänse neidisch. Wo ist Anna? Die ist doch beim Tratschen auch immer mit von der Partie.“

„Ich gehe einkaufen und rede mit den Leuten, aber das geht dich eigentlich auch nichts an.“

„Vielleicht weiß ich ja etwas über den Einbruch.“

„Was denn?“, fragte Undine und war sehr neugierig.

 

„Weil du es bist, erzähle ich es dir. Die eine von der Meldestelle hatte bei mir was bestellt und sagte, dass der Einbrecher es sicher nicht auf materielle Sachen abgesehen hatte.“

„Worauf denn dann?“

„Dienstliche Geheimnisse. Daaaaaaten!“

Dachte ich es mir doch, sagte sich Undine, setzte aber ein Pokerface auf, um nicht zu zeigen, dass sie sich brennend dafür interessierte.

„Ach komm, Daten kannst du doch heutzutage auch im Internet herausfinden. Und das geht noch dazu schneller. Daten … das glaube ich nicht.“

„Dann glaubst du es eben nicht. Aber ich sage dir: Die in den Ämtern wissen genauso viel über uns wie das Internet. Nur, dass es in Schränken liegt.“

„Na, auch in den Ämtern ist alles auf dem Computer gespeichert, aber eben Daten, die nicht jeder recherchieren kann.“

„Nur die Polizei.“

„Eben, Reiner wird schon wissen, worauf es der Einbrecher abgesehen hatte. Er wird es mir heute Abend erzählen.“

Günther lachte und winkte ab.

„Das darf er gar nicht. Datenschutz! Wenn der dir das alles auf die Nase bindet, macht er sich strafbar.“

„Das muss er nicht, ich finde eh alles selbst heraus. Und jetzt muss ich los. Auf Wiedersehen und frohe Weihnachten.“

Undine ließ Günther einfach stehen. Natürlich hatte er recht und Reiner durfte ihr nichts Dienstliches erzählen, aber manchmal tat er es trotzdem, wenn er ihren Rat benötigte. Er wusste ja, dass Undine nichts herumtratschte. Auch Lene war verschwiegen wie ein Grab. Es war ein Teil ihres Erfolges, denn alle wussten, dass man den beiden Frauen Geheimnisse erzählen konnte.

Kurz entschlossen betrat sie die Metzgerei und kaufte ein paar Scheiben Schinken. Dabei ließ sie eine Bemerkung über den Einbruch fallen.

„Ach!“, rief die Metzgersfrau neugierig. „Wissen Sie mehr? Sie sind doch mit dem Kommissar verheiratet.“

„Nicht verheiratet, aber wir leben zusammen.“

„Er ist ein interessanter Mann.“

Sie kam um den Ladentisch herum, weil gerade sonst kein Kunde in Sicht war.

„Ich habe gehört, der Verbrecher hat den Generalschlüssel geklaut, um heute oder morgen Nacht nochmal zu kommen. Aber von mir haben Sie das nicht!“

Sie sah sich um wie eine wichtige Zeugin in einem Agentenfilm. Undine nickte und legte einen Finger auf ihre Lippen.

„Da müssen die die ganzen Schlösser austauschen, um sich zu schützen. Stellen Sie sich mal vor, die klauen persönliche Dinge wie Geburtsurkunden.“

Den letzten Satz hatte sie geflüstert.

„Nicht auszudenken!“, flüsterte Undine zurück und verabschiedete sich.

Draußen atmete sie tief ein und aus.

„Und Jasmin sagt, mit MIR geht die Fantasie durch. Mal sehen, ob Herbert etwas weiß.“

Fröhlich vor sich hin pfeifend stand der Feuerwehrmann in der Halle und sah unter ein Fahrzeug. Undine tippte ihm auf die Schulter und er fuhr herum.

„Mann, hast du mich erschreckt.“

„In die Stadtverwaltung haben sie versucht einzubrechen. Hast du davon gehört?“

Herbert nickte geheimnisvoll und zog Undine in eine Ecke.

„Der Bürgermeister hat es mir erzählt. Aber es wurde nichts gestohlen, darum denke ich, es war ein Spion.“

„Ach.“

„Ja“, flüsterte Herbert und duckte sich, „der hat sicher nach Beweisen für Korrumtion gesucht.“

„Das heißt Korruption, Herbert.“

„Eben, danach haben die gesucht. Wegen der Wahlen.“

Undine seufzte. Herbert redete ja noch mehr Unsinn als die Metzgerfrau. Hier waren auch keine wichtigen Auskünfte zu bekommen, also gab Undine vor, sich weiter umzuhören und Herbert auf dem Laufenden zu halten. Sie verließ das Feuerwehrhaus und überlegte. Es gab nur eine Frau, die etwas wissen konnte: Alina Barolsen.

Es war fast Mittag, als sie den steilen Schulberg hinaufstieg und schnaufend den Finger auf den Klingelknopf drückte. Enttäuscht zog sie wieder los, als Alinas Sohn öffnete und ihr sagte, dass seine Mutter unterwegs sei. Auf dem Weg nach Hause schob sie die Gedanken an den Einbruch beiseite und freute sich auf den Abend. Sie wollte am Handy auf die Uhr schauen, aber ihr Handy lag daheim. Sie zuckte mit den Schultern, denn es war ja egal, wie spät es war.

Zuhause sah sie enttäuscht und sauer die Nachricht von Sabine. Vielleicht hatte Reiner recht und Sabine wollte nicht mehr dazugehören. Das mussten sie heute Abend besprechen.

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