Vermisst in Nastätten

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4

Am nächsten Morgen war es ein bisschen milder, aber dicke Wolken kündigten etwas an, was es lange nicht mehr gegeben hatte: Schnee. Undine streckte ihre Na­se in den Morgen, als sie sich mit Zorro auf die übliche Runde machte und nickte.

„Es wird schneien. Es riecht förmlich nach Schnee. Komm Zorro, hol das Stöckchen!“

Sie warf den Ast von gestern, den der Hund aus dem Garten mitgeschleppt hatte, weit weg und Zorro raste los. Fröhlich hechelnd kam er zurück und legte den Ast in Undines Hände.

Jetzt fielen ihr Michelles Verletzungen ein. Das Mädchen war aufgeblüht, nachdem sie ihre belastenden Gedanken losgeworden war, hatte Freunde gefunden und war aktiver und ausgeglichener. Sie bereitete sich auf das Abitur vor und wollte Biologie studieren. Eigentlich sollte sie doch zuhause sitzen und lernen, wie konnte es denn passieren, dass sie sich so sehr verletzte?

Dann schüttelte Undine den Kopf.

„Quatsch, sie muss ja auch mal raus. Und in Nastätten kann man gut mit dem Fahrrad unterwegs sein. Wahrscheinlich hat sie bei einer Freundin gelernt.“

Sie wischte die Idee weg, dass jemand dem Mädchen etwas angetan hatte.

„Ach Zorro, da ist wohl die Fantasie mit mir durchgegangen. Ich werde einfach Sabine am Donnerstag fragen.“

Zorro sah sein Frauchen verständnisvoll an und rannte weiter. Als die beiden zurück waren, kochte sich Undine Kaffee und machte sich auf die Suche nach Geschenkpapier. Reiner wollte zum Mittagessen kommen und sie plante, vorher die Geschenke einzupacken. Für Reiner hatte sie einen Bildband über den Rheingau gekauft, denn er mochte diese Gegend und den Wein sehr. Für Jasmin hatte sie ein hübsches Seidentuch ausgesucht und Lene sollte einen neuen Krimi bekommen. Den hatte sie im Bücherland bestellt und musste ihn noch bei Anja Liefelt-Brünn abholen.

„Das mache ich nach dem Frühstück.“

Sie fand das Geschenkpapier hinten im Regal. Als alles eingepackt war, belegte sie eine Scheibe Brot mit Käse und knabberte daran herum.

„Ich brauche noch frisches Brot. Am besten schreibe ich mir einen Zettel, damit ich nichts vergesse. Also … Brot, Buch …“

Nachdenklich knabberte sie nun am Bleistift und schüttelte sich.

„Bäh, das schmeckt nicht. Ach, ich muss auch noch zu Günther und das Brettchen abholen.“

Während sie schrieb, dachte sie an die Überraschung, die sie noch für Reiners Mutter geplant hatte: Ein großes rundes Brett aus einer Baumscheibe, die Günther polieren und lackieren wollte. Das hatte sie beim letzten Mal bei ihm gesehen und es passte zur Tischdecke und dem bisschen Deko-Kram, den sie mitnehmen wollte.

Ihr Blick fiel auf die Uhr und sie stöhnte. Halb zehn, sie musste los, sonst würde sie nicht pünktlich zum Mittagessen zurück sein. Da es noch nicht schneite, fuhr sie zuerst nach Holzhausen.

Günther war wie erwartet in der Werkstatt. Er hatte sich über die kleine Tischkreissäge gebeugt und war ganz versunken. Undine ging auf die andere Seite der Säge und fuchtelte mit den Armen, damit er sie sehen konnte.

Günther hob den Kopf und schaltete die Säge aus.

„Was willst du denn schon so früh hier?“, begrüßte er sie gewohnt mürrisch.

„Hast du das Brett fertig?“

Auch Undine sparte sich die Begrüßung. Günther wischte sich die Hände an der Hose ab und ging zum Regal. Zum Vorschein kam ein glänzendes Brett von vierzig Zentimeter Durchmesser.

„Hier! Macht zwanzig.“

„Gut, das gefällt mir sehr.“

Undine kramte im Portemonnaie und gab ihm einen Zwanzig-Euro-Schein. Günther nickte und wollte sich wieder der Arbeit zuwenden, aber dann schien ihm etwas einzufallen.

„Was macht dein Kommissar? Fängt er noch Verbrecher? Ich habe lange nichts mehr gehört.“

„Er fängt noch Verbrecher, doch nur kleine. Im Moment ist es ruhig, aber das sollte auch zu Weihnachten so sein.“

„Pah! Weihnachten! Lass mich mit dem Gedusel in Ruhe. Es ist ein Tag wie jeder andere, nur dass mehr gefressen wird.“

„Ach komm, ein bisschen Besinnlichkeit würde dir auch mal guttun. Dann findest du vielleicht mal eine Frau.“

Günther lachte und winkte ab.

„Wer braucht schon Weiber? Die machen ja sowieso nur, was sie wollen. Keine will mehr auf einen Mann hören und es muss alles nur gut und teuer sein. Nein, nein, Weiber kommen mir nicht ins Haus.“

„Das ist schade, denn du verpasst etwas.“

„Was denn? Sowas wie dich oder diese Anna?“

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, da stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht.

„Rede mir nicht von der! Die denkt, sie hat das Sagen, seit sie im Gemeinderat mitmischt. Aber Politik ist Männersache, basta!“

Undine hatte keine Lust mehr, Günthers Sprüchen zuzuhören, also nickte sie und verließ das Grundstück. In diesem Moment kam Anna aus dem Kindergarten.

„Nanu? Habe ich etwas verpasst?“, fragte Undine lachend.

„Nein, absolut nichts. Ich habe meine Nichte weggebracht, weil meine Schwägerin einen frühen Termin hat. Wie geht es dir? Was machst du hier?“

„Ich habe deinen Lieblingsmenschen besucht und ein Geschenk für Reiners Mutter abgeholt.“

Undine zeigte Anna das Brett.

„Naja, das kann er wirklich gut, aber ansonsten ist der Mann eine Plage. Ich bin immer froh, wenn ich ihn nicht sehen muss. Letztens auf der Gemeindesitzung hat er sich wieder wichtig gemacht und in einem Anlauf alle Fettnäpfchen genommen. Die anderen, die zum öffentlichen Teil gekommen waren, haben nur den Kopf geschüttelt. Aber vergessen wir mal Günther. Ich freue mich so auf Donnerstag!“

Jetzt strahlte Anna, als würde sie in zwei Tagen in die Südsee fliegen. Undine konnte sie gut verstehen. Waren doch die Mädelstreffen voller Wärme und Fröhlichkeit, dazu kam das gute Essen.

„Ich zehre auch immer tagelang von der entspannten Stimmung. Hoffentlich kommen dieses Mal alle.“

„Es wäre schade, schließlich ist das unser Abschluss für dieses Jahr. Denkst du dabei an Sabine?“

Undine nickte.

„Ich finde es schon immer merkwürdig, dass ihr Robert sie so früh abholt. Als könne sie nicht selbst heimgehen.“

„Ja!“, rief Anna. „Ich mag den Kerl nicht, auch wenn er gut aussieht, höflich und charmant ist. Ich finde, er strahlt … ähm, … so eine eigenartige Kälte aus.“

„Genau, ich mag den auch nicht. Je länger ich ihn kenne, desto unangenehmer ist er mir.“

„Denkst du, er ist gut zu Sabine und Michelle?“

Undine zuckte mit den Schultern. Darüber hatte sie sich schon so viele Gedanken gemacht, und seit Jasmin von Michelles Verletzungen berichtet hatte, spukten ihr böse Bilder im Kopf herum. Sollte sie Anna davon erzählen? In Gedanken sah sie Lene und Jasmin vor sich, die empört den Kopf schüttelten und entschied sich dagegen. Sie würde Sabine am Donnerstag ein bisschen auf den Zahn fühlen.

„Ich hoffe es. Wir können ja Sabine fragen, wie er ist.“

Jetzt schaute Anna auf die Uhr.

„Oh, ich muss los, die Schule fängt sonst ohne mich an.“

Sie lachten.

„Dann beeil dich! Die Kinder müssen etwas lernen.“

„Bis übermorgen!“

Undine sah ihr nach, bis sie in ihr Auto geschlüpft war. Dann fuhr sie zurück nach Nastätten. Im Buchladen hielt sie ein Schwätzchen mit Anja Liefelt-Brünn und machte sich danach auf den Weg zum Bäcker.

Kornelia Krinkmann begrüßte sie freundlich.

„Hallo Undine, wie geht es dir? Was machen die Verbrecher?“

„Guten Morgen, meine Liebe. Die Verbrecher haben auch Advent, da müssen sie sich zusammenreißen. Machst du mir einen Kaffee?“

Undine lag gut in der Zeit, also konnte sie sich auch ein Schwätzchen mit Kornelia gönnen. Vielleicht wusste die etwas Spannendes über Robert und Sabine.

Aber leider hatte Kornelia keine Zeit zum Reden, denn ständig kamen Kunden. Missmutig machte sich Undine auf den Heimweg.

5

„Wage es nicht, irgendjemandem davon zu erzählen! Ich weiß, dass ihr Undine einen Brief schreiben wolltet.“

„Was … woher?“

„Denkst du, ich bin blöd? Ich habe ihren Briefkasten kontrolliert und werde das jeden Tag tun. Was, glaubst du, passiert, wenn ich auch nur einen winzigen Zettel von dir dort finde? Weihnachten ohne Michelle, weil sie im Krankenhaus liegt? Wie wäre das?“

Robert stand mit zornigem Blick vor Sabine. Sie schüttelte den Kopf und zitterte. Er hatte das Gespräch zwischen ihr und Michelle belauscht, in dem das Mädchen geplant hatte, Undine über Robert zu informieren. Sabine hatte sie ängstlich gebeten, vorsichtig zu sein. Robert zerrte an ihrem Oberarm und es tat höllisch weh. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr wehtat, aber als er Michelle vor ihren Augen geschlagen hatte, nur um Sabine zu zeigen, welche Macht er über sie hatte, war sie in eine Art Starre verfallen, hoffnungslos und voller Angst. Sabine fühlte sich in der Falle: Verhielt sich Michelle nicht so, wie Robert es wollte, tat er Sabine weh. Verhielt sich Sabine nicht so, wie er es erwartete, tat er Michelle weh.

„Ich schwöre, ich sage nichts!“

Seit er den beiden vor einer Weile eine Ansage gemacht hatte, wie es in Zukunft hier laufen würde, war das Mädchen aufsässig gewesen. Da musste er sie in die Schranken weisen.

„Ich muss zur Arbeit. Wenn ich zurückkomme, seid ihr besser zuhause!“

Statt sich wie sonst mit einem Kuss zu verabschieden, nahm Robert Sabines Kinn in die Hand und drückte zu.

„Ich kann noch ganz anders, meine Schöne. Wenn du nicht machst, was ich will, dann hat Michelle nächstes Mal vielleicht nicht so viel Glück.“

 

Sabine schluckte und atmete erst auf, als Robert aus dem Haus war. Sie schleppte sich die Treppe hinauf, klopfte an Michelles Tür und trat ein.

„Liebes, wie geht es dir?“

„Kannst du ihn nicht rauswerfen? Ich hasse den!“, schleuderte ihr Michelle vorwurfsvoll entgegen.

Sie lag auf dem Bett und lernte. Der Arzt hatte sie krankgeschrieben, weil sie sich so nicht in der Schule blicken lassen wollte.

„Ach Süße, er ist ja nicht immer so, nur, wenn er auf der Arbeit Stress hat.“

„Mama! Er hat mich geschlagen!“

„Das hat er nicht so gemeint, ich bin mir sicher.“

Sabine wollte Michelle keine Angst machen, also hatte sie nichts von den sehr konkreten Drohungen gesagt, auch nichts von dem, was bereits passiert war.

Michelle sprang auf.

„Wie blind bist du eigentlich?“

„Ich … er …“

„Der Typ hat mir gedroht, wenn ich jemandem davon erzähle, dass er dir noch mehr wehtut.“

„Ich …“, begann Sabine, aber sie konnte nicht weiterreden, denn Tränen der Verzweiflung traten in ihre Augen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich nicht mache, was er sagt, tut er dir etwas an.“

Sie strich Michelle sanft über die Hand und ging aus dem Zimmer. Wir müssen zusammenhalten, dachte sie. Robert hatte Michelle mit dem Handrücken mitten ins Gesicht geschlagen, als Sabine ihr erlaubt hatte, bei einer Freundin zu übernachten. Einfach so war seine Hand auf ihre Tochter losgeflogen und Michelles Lippe war sofort aufgeplatzt.

„Du bleibst zuhause!“, hatte er angeordnet.

Michelle hatte nicht gewusst, wie ihr geschah und war schreiend in ihr Zimmer gerannt, wo sie sich eingeschlossen hatte. Er war hinterhergekommen und hatte so heftig gegen die Tür geschlagen, dass sie vorsichtshalber öffnete. Danach hatte er den Schlüssel abgezogen und in seine Hosentasche gesteckt. Sein Blick war eisig und Michelle hatte Angst um ihre Mutter bekommen.

„Worauf habe ich mich da nur eingelassen?“, flüsterte Sabine, als sie in der Küche saß. „Was mache ich nur?“

Sie wollte stark sein für Michelle, aber es klappte nicht. Gleichzeitig schämte sie sich abgrundtief. Sie hatte gesehen, wie er ihr Kind geschlagen hatte, und war nicht zur Polizei gegangen. Die Angst vor Robert war zu groß. Er hatte sie voll im Griff, wenn er drohte, Michelle noch mehr wehzutun.

Seufzend machte sie sich an den Abwasch, dann ging sie zur Arbeit ins Versicherungsbüro. Der Chef sah ihre verweinten Augen, fragte aber nicht nach. Sabine machte gute Arbeit, war still und freundlich. Wer weiß, vielleicht war sie ein bisschen depressiv. Außerdem wollte er sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen, zumal sie nur ein paar Stunden hier arbeitete.

Nach der Zeit im Büro lief Sabine eilig heim, um zu schauen, wie es Michelle ging.

„Mir geht es gut“, brummte das Mädchen. „Wann kommt er heim?“

„Ich weiß es nicht. Komm, wir essen etwas.“

„Ich habe keinen Hunger und muss noch viel lernen.“

Sabine zuckte resigniert mit den Schultern, ging in die Küche und trank eine Tasse Kaffee. Danach saß sie unruhig auf der Couch und hoffte insgeheim, dass Robert wegbleiben und niemals wiederkommen würde. Um sieben Uhr abends kam er und warf seinen Schlüssel auf das Schränkchen im Flur. Er pfiff fröhlich vor sich hin.

„Was gibt es zu Essen, Schatz?“, flötete er in die Küche, wo Sabine gerade den Salat mischte.

„Steak und Salat.“

Sabine war froh, dass er gute Laune hatte und stellte Teller auf den Tisch.

„Wo ist Michelle?“

„Sie lernt und hat keinen Hunger.“

„Gut, dann können wir reden.“

Es klang unheilvoll und das war es dann auch. Sabine zog automatisch den Kopf ein. Ein eisiger Ball explodierte in ihrem Bauch.

„Ich muss übermorgen für zwei Tage auf Dienstreise.“

„Hm. Wohin denn?“

In ihre Erleichterung mischte sich ein Gefühl von bevorstehendem Unheil.

„Das geht dich nichts an. Du bleibst in der Zeit zuhause. Du gehst nirgendwo hin, triffst keinen Menschen und verhältst dich korrekt, bis ich wieder zuhause bin.“

„Aber ich muss arbeiten.“

„Melde dich krank!“

„Das geht nicht, wir bereiten den Jahresabschluss …“

In diesem Moment packte Robert ihr Handgelenk und zerrte sie zu sich herüber. Ein Schauer lief Sabine über den Rücken.

„Wenn ich sage, du bleibst daheim, dann meine ich es auch so. Hast du das verstanden?“

Sabine nickte. Robert stand auf, ging zu seinem Aktenkoffer und kam mit einem Brief zurück. Er zog ein Blatt heraus und legte es vor sie hin.

„Lies und unterschreib das!“

Sabine glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

„Das ist eine Kündigung.“

„Ich weiß. Unterschreib!“

„Aber ich …“

Er griff erneut nach ihrem Handgelenk und packte zu. Sabine schrie auf. Dann drückte er ihr einen Kugelschreiber in die Hand und forderte sie erneut auf, die Kündigung zu unterschreiben.

„Ich brauche den Job, um unsere Kosten zu decken.“

„Du hast jetzt mich, du musst nicht mehr arbeiten. Am Ende plauderst du nur noch irgendeinen Blödsinn aus. Jetzt mach, sonst tut es richtig weh!“

Weinend unterschrieb Sabine und schob das Blatt zu Robert. Der steckte es in den Umschlag, legte ihn beiseite und aß zu Ende. Danach schob er den Teller weg und wollte gehen. An der Küchentür drehte er sich nochmal um.

„Gib mir dein Handy!“

„Warum?“

„Rede nicht, gib es mir!“

Er kam bedrohlich nahe, also gab ihm Sabine ihr Handy. Er steckte es in die Jackentasche und nahm den Brief.

„Ich bringe ihn zu deiner Versicherung, dann musst du morgen nicht mehr hin. Wage es nicht, aus dem Haus zu gehen. Michelle wird mich begleiten. Hol sie her!“

Sabine huschte an ihm vorbei zu Michelle und kam zwei Minuten später mit ihr zurück. Das Mädchen zitterte und wagte nicht zu widersprechen, als Robert sie aufforderte sich anzuziehen und zum Auto zu gehen.

Robert drehte sich zu Sabine um und presste seine Lippen auf ihre. Dass sie dabei zitterte und weinte, störte ihn nicht. Sabine war am Ende ihrer Kräfte, aber sie räumte trotzdem die Küche auf, damit er nicht auch noch deswegen ausflippte. Was war aus dem Mann geworden, der so nett und liebevoll gewesen war? Was war geschehen, dass er sich so verändert hatte? Was hatte sie falsch gemacht?

Dass es nicht ihre Schuld war, verdrängte sie, und dass hinter Roberts Verhalten ein unfassbares Geheimnis steckte, ahnte sie nicht. Es hatte alles so romantisch begonnen. Sie waren im Supermarkt zusammengestoßen und ins Gespräch gekommen. Er hatte sie zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Es hatte sofort gefunkt und Robert hatte sie auf Händen getragen. Er wohnte zwar noch in Frankfurt, war dann aber meistens in Nastätten bei Sabine. Auch Michelle und er hatten sich anfangs gut verstanden.

Je näher sie sich kamen, umso häufiger wollte er wissen, was sie machte und wohin sie ging. Er kontrollierte sie auf Schritt und Tritt, auch mit ihrem Handy in der Hand hatte sie ihn schon erwischt. Aber statt sich zu entschuldigen, war er grob gewesen und hatte ihr gesagt, dass sich jetzt Einiges ändern würde. Sabine wusste nicht, wie ihr geschah, denn Robert entpuppte sich zunehmend als Egoist und benahm sich wie ein Sklaventreiber mit Kontrollzwang.

„Ich muss mit jemandem reden“, sagte sie.

Dann hörte sie die Tür und zitterte wieder vor Angst. Ab morgen hatte sie nicht mal mehr einen Job. Aber dann fiel ihr das Treffen am Donnerstag ein und sie atmete auf. Sie würde den Frauen sagen, was los war, aber vorher musste sie Michelle in Sicherheit bringen.

6

Es war still, ungewöhnlich still, als Undine am Mittwochmorgen ihre Augen öffnete. Neben ihr lag Reiner, der gestern keine Lust mehr gehabt hatte, nach Hause zu gehen. Er wollte heute sowieso später ins Büro, also hatten sie beschlossen, gemeinsam zu frühstücken und den Tag stressfrei angehen zu lassen.

Undine schloss die Augen wieder, denn es war dunkel. Zorro war auch noch nicht nach oben gekommen, also konnte es nicht Morgen sein. Sie kuschelte sich vorsichtig an Reiner, doch der Schlaf wollte nicht zurückkehren.

Seufzend schlüpfte sie aus dem Bett und ging zum Fenster. Dort zuckte sie zusammen, denn im Licht der Straßenlaterne sah sie, dass alles weiß war.

Uh, dachte Undine, es hat geschneit. Eine unbändige Freude breitete sich in ihrem Bauch aus, denn sie liebte Schnee über alles. Am liebsten hätte sie Reiner geweckt, schaute aber erstmal auf den Wecker. Es war drei Uhr.

„Schneie weiter!“, flüsterte sie und ging nun doch wieder ins Bett.

Drei Stunden später piepte der Wecker nervtötend und Undine saß sofort aufrecht im Bett. Sie rüttelte an Reiner, der grunzend die Bettdecke über seinen Kopf zog.

„Warum bist du denn so munter?“

„Es hat geschneit!“

„Träum weiter. Es waren doch kaum Wolken am Himmel und hier schneit es sowieso nie.“

Undine sprang aus dem Bett und schaute abermals aus dem Fenster. Ihr Herz klopfte vor Vergnügen, denn alles war weiß. Die Dächer, die Wege, die Straße - alles präsentierte sich mit einer dicken Schicht Puderzucker.

„Es liegt richtig viel Schnee! Komm und sieh es dir selbst an!“

Reiner stöhnte, setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und kam zu Undine.

„Ach du Scheiße“, brummte er, als er sah, dass ein Auto in Zeitlupe die Straße hochfuhr. „Das kann ja heiter werden.“

„Bleib zuhause, es ist doch gar nichts los. Wir gehen spazieren und machen eine Schneeballschlacht und …“

„Ich hasse Schnee!“, unterbrach Reiner Undines Planung.

„Ich liebe Schnee!“

„Es kann ja gerne links und rechts von der Straße Schnee liegen, aber nicht auf ihr. Die Leute fahren bei Schnee wie die ersten Menschen und ich werde eine Stunde nach Sankt Goarshausen brauchen. Nichts ist geräumt und das um sechs Uhr! Schau dir das an!“

Undine boxte Reiner auf den Oberarm.

„Ich lasse mir die Freude nicht verderben. Jedenfalls ziehe ich mich sofort an und gehe mit Zorro. Wir bringen Brötchen mit. Und nach dem Frühstück seife ich dich ordentlich mit Schnee ein.“

Reiner winkte ab und ging ins Bad, um sich zu rasieren. Er grollte immer noch, denn er hasste dieses Wetter wirklich sehr. Oft genug hatte er im Stau gestanden und war nicht vorangekommen. Dann musste er den Trotteln helfen, die von der Straße gerutscht waren, weil sie noch mit Sommerreifen unterwegs waren. Er konnte ja schlecht vorbeifahren als Polizist.

Undine pfiff unten fröhlich vor sich hin und einen Moment später klappte die Tür. Er schaute in den Hof und sah Zorro voller Lebensfreude durch die weiße Pracht springen.

„Ich muss auch noch nach Hause Schnee schieben. So ein Mist. Blöde zwei Haushalte.“

Seit ein paar Wochen wohnte er allein im Haus, denn der junge Mann aus dem Dachgeschoss war weggezogen. Die ältere Familie, die im Obergeschoss gewohnt hatte, lebte schon zwei Monate in einem Seniorenheim am Rhein. Bisher war er keinem Mietinteressenten begegnet und es konnte auch gern so bleiben.

Schlecht gelaunt zog er sich an und schrieb Undine einen Zettel. Er wollte nicht einfach so verschwinden, aber wenn er wartete, bis sie wieder zurück war und dann noch mit ihr frühstückte, wäre vor seinem Zuhause alles festgetrampelt. Unterwegs sah er einen Mann, der unter einer Straßenlaterne stand und auf sein Handy starrte. Es schneite nicht mehr, aber er hielt eine Hand über das Display. Als er Reiner sah, wollte er weitergehen, überlegte es sich dann anders.

„Entschuldigung, wo ist denn die Schwalbacher Straße?“

Er hatte einen Akzent, den Reiner nicht zuordnen konnte. Ein Fremder in Nastätten? Morgens um halb sieben? Der Mann sah gepflegt aus, trug einen schwarzen Mantel und hatte den Kragen hochgeschlagen. Ein dunkler Bart zierte sein Gesicht, die Augen waren hellgrau oder blau.

Reiner sah sich um und begann zu erklären, wie der Mann in die Schwalbacher Straße kommen konnte, war aber neugierig und fragte, was der Mann um diese Zeit hier machte.

„Ich muss jemanden abholen, mein Auto steht dort hinten. Aber irgendwie habe ich die Orientierung verloren, weil hier alles nur noch weiß aussieht.“

„Ich hasse Schnee auch!“, rief Reiner, aber der Fremde schüttelte den Kopf.

„Ich mag Schnee, aber heute stört er. Es ist eine dienstliche Fahrt und da wäre es peinlich, wenn ich mich nicht zurechtfinde. Danke für die Auskunft.“

 

Reiner nickte und sah dem Fremden hinterher.

„Harmlos. Ich sehe schon hinter jeder Laterne einen Mörder stehen. Mann, Mann, Mann.“

Er stapfte weiter durch den Schnee und wunderte sich nicht, dass sein Nachbar Paul schon gefegt hatte. Wie immer war Paul korrekt und ordentlich. Ob er sich nachts einen Wecker stellte, um immer auf alles vorbereitet zu sein?

Reiner suchte im Keller nach dem Schneeschieber und begann seine Arbeit. Das kratzende Geräusch war laut und im nächsten Moment gingen mehrere Lichter in der Straße an.

Irgendwo schrie eine Frau: „Ach du Scheiße! So ein Dreckszeug!“

Reiner nickte nur, konnte er ihr doch unbenommen zustimmen. Eine halbe Stunde später war er fertig und räumte den Schneeschieber zurück in den Kellereingang. Dort stand ein Eimer mit Streusalz, aber es war hart und grau. Er stocherte mit der kleinen Schippe so lange darin herum, bis sie abbrach. Laut fluchend knallte er den Eimer auf die Fliesen. Dabei platzte der Boden des Eimers ab und das Salz ergoss sich in den Kellereingang.

„Okay“, knurrte er und konnte sich nur mühsam beherrschen, „ich hätte im Bett bleiben sollen. Das kann nur ein mieser Tag werden.“

Reiner kramte im Keller, fand einen Besen und eine alte Kehrschaufel, füllte sie mit Salz und ging hinaus auf die Straße, wo er es mit Schwung über dem Gehweg ausschüttete. Als er sein Werk beendet hatte, machte er sich fluchtartig auf den Weg zu Undine, denn Paul war vor das Haus getreten, um die Schneeräumaktionen der Nachbarn zu kommentieren, worauf hatte Reiner nun wirklich keine Lust hatte. Er fühlte sich erst wieder sicher, nachdem er in Undines Hof getreten war. Hier war ein schmaler Gang gefegt, nur so viel, dass man von vorne nach hinten gehen konnte.

Im Haus war es kuschelig warm und es duftete nach Kaffee und frischen Brötchen.

„Na, warst du die Erste beim Bäcker?“, fragte er Undine und küsste sie.

„Uh, du hast ja eine kalte Nase! Nein, ich war nicht die Erste. Stell dir vor, ein Fremder stand am Tisch und hatte schon einen Kaffee vor sich, als ich den Laden betrat.“

„Ich habe auch schon einen getroffen.“

„Mich erinnert das an den Fremden, der in meinen Hof gekommen war. Kurze Zeit später war er tot.“

„Ja, klar“, sagte Reiner lachend, „ich schaue gleich mal am Bach, ob da eine Leiche liegt.“

„Du lachst, aber ich meine es ernst. Ein Fremder in Nastätten ist ein Vorbote für etwas Schlechtes.“

„Jetzt hör aber auf mit dem Quatsch. Weißt du, wie viele Fremde jeden Tag nach Nastätten kommen? Denkst du, die stapeln sich jetzt alle ermordet im Leichenschauhaus? Du übertreibst wieder mal maßlos.“

Undine war eingeschnappt.

„Du wirst schon sehen, dass ich recht habe. Jetzt lass uns frühstücken und mit dem Thema aufhören. Ich möchte mich gerade nicht streiten.“

Reiner sah es schon vor sich, wie Undine und Lene das Thema nachher durchdiskutierten, verkniff sich aber das Lachen, denn seine Freundin sah tatsächlich sauer aus.

Um sie wieder fröhlich zu stimmen, sagte er: „Ich habe bei mir vor dem Haus geräumt und fand einen Augenblick die getrennten Wohnungen blöd. Manchmal könnte ich mir vorstellen, dich zu heiraten.“

Jetzt war es Undine, die sich das Lachen verkneifen musste.

„Dieser Heiratsantrag schafft es bestimmt auf die Liste ganz oben.“

„Welche Liste?“

„Die der dämlichsten Heiratsanträge.“

„Warum?“

„Du denkst also nicht daran, mich vor lauter wahnsinniger Liebe zu heiraten, sondern weil du allen Ernstes keinen Schnee räumen möchtest? Jede nor­male Frau würde dich sofort verlassen. Du hast Glück, dass ich anders bin.“

„Ach, liebe Undine, falls ich dich wirklich mal heiraten möchte, mache ich dir einen Antrag, der standesgemäß ist, das verspreche ich dir.“

„Mein lieber Reiner, dieser Satz macht es nicht besser. Schieb dir ein Brötchen zwischen die Zähne, sonst schmeiße ich dich doch noch raus.“

Sie grinste und schüttelte den Kopf. Dieser Mann brauchte dringend ein bisschen Nachhilfe in Sachen Romantik. Es war ein tolles Thema für den Mädelsabend morgen. Reiner würde ausflippen, wenn er wüsste, dass die Frauen sich darüber kaputtlachen werden.

Nach dem Frühstück schob Reiner noch den Schnee vor dem Sponheimer Hof, dann fegte er sein Auto frei.

„Ich muss jetzt los. Keine Ahnung, wann ich wieder zurück bin. Wir telefonieren mal zwischendurch, einverstanden?“

„Ja, gerne, nachher kommt Lene, wir müssen noch ihre weihnachtliche Keramik brennen. Fahr vorsichtig!“

Sie küssten sich und Reiner verschwand. Undine legte Holzscheite nach und bald war es so warm, dass sie das Fenster öffnen musste. In dem Moment betrat Lene den Hof. Sie strahlte, als sie ins Haus gepoltert kam.

„Es hat geschneit!“

„Ich weiß. Am liebsten würde ich eine Winterwanderung machen. Aber lass uns deine Sachen brennen, vielleicht haben wir danach noch Zeit.“

„Ich liebe Schnee!“

„Ich auch. Reiner hasst ihn. Der weiß gar nicht, was schön ist.“

Und es war wirklich wunderschön. Auf den Dächern in der Oberstraße lag der Schnee ganz unberührt. Im Garten bogen sich die Äste der Bäume, die Skulpturen trugen weiße Mützen. Alles glänzte und glitzerte. Es würde ein toller Tag werden.