Baltrumer Bärlauch

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»Lass uns doch erst mal ein bisschen miteinander reden«, sagte der Blonde. »Schwimmen kannst du gleich auch noch.«

Inga lachte und stand auf. »Dann ist das Wasser womöglich verschwunden. Vergesst nicht, hier gibt es Ebbe und Flut. Wahrscheinlich ist es ganz schön kalt, aber den Kick brauch ich jetzt. Ihr nicht?«

Sie rannte los, wich zwei Kindern aus, die auf einer grünen Luftmatratze in Richtung Strand paddelten und war plötzlich mitten in der Brandung. Eine Welle schlug über ihrem Kopf zusammen. Salzwasser lief ihr in Mund, Augen und Nase. Inga strampelte verzweifelt mit den Beinen auf der Suche nach Grund, aber vergebens. Ruhe bewahren und schwimmen, hämmerte ihr durch den Kopf. Immer wieder.

Und es gelang. Ihr Kopf stieß durch die Wasseroberfläche, und sie erspähte verschwommen den blauen Himmel. Langsam beruhigte sich ihr Atemrhythmus. Sie hatte gar nicht auf die Welle geachtet. Ist eben doch nicht das Worpsweder Hallenbad, dachte sie amüsiert. Und salziger als die Ostsee ist dieses Wasser allemal.

Kurz darauf hatte Inga die Wellenzone hinter sich gelassen. Sie ließ sich rücklings vom Wasser tragen und die Sonne an ihrer Nase kitzeln. Und schnell war sie sich sicher, dass dieses Gefühl von Leichtigkeit nur mit dem Wort ›Paradies‹ beschrieben werden konnte.

Nach einer guten halben Stunde radelte sie zurück zu ihrer Wohnung. Kräftig trat sie in die Pedalen, denn nichts war ihr jetzt wichtiger, als den nassen Bikini vom Leib zu bekommen, den sie unter ihrem T-Shirt trug.

Von den beiden, die ihr den Blick zur Sonne verstellt hatten, war nichts mehr zu sehen gewesen. Hätten ja nur ins Wasser nachzukommen brauchen, dachte sie, dann hätte das mit der Bekanntschaft schon geklappt. Und der Blonde, so beschloss sie, der war schon eine Überlegung wert.

*

Gerdje Claassen saß mit ihrer Enkelin am Küchentisch. Sie hatte Tee aufgegossen und wartete darauf, dass er die richtige Stärke annahm. »Na, wie wär’s? Ein Stück Stachelbeerkuchen?«

»Gerne, Oma. Stachelbeeren aus dem eigenen Garten, wie üblich?«

»Natürlich, giftfreie Inselaufzucht, wie sich das gehört. Und nach der Ernte sofort eingekocht.«

»Du und dein Garten. Aber schön, dass du so viel Spaß daran hast. Ist auch wichtig zum Abschalten. Wie viele Gäste hast eigentlich im Moment?«

»Ach, nur fünf. Aber ist vielleicht auch gut so. Bei der kleinen Zahl kommen die sich wenigstens auf dem Klo und in der Dusche nicht in die Quere.« Gerdje legte ein dickes Stück Kluntje in jede der dünnschaligen Teetassen und goss Tee darüber. Das Knacken der Zuckerstücke verbreitete Gemütlichkeit in der altmodischen Küche. »Heidi hat auch gesagt, wir sollten umbauen. In Ferien­wohnungen. Aber schließlich sind wir nicht mehr die Jüngsten. Alle anderen sind in unserem Alter schon drei Mal in Rente. Aber unsereins schuftet weiter und weiter, weil er es nicht anders gelernt hat. Vorruhestand, wenn ich das Wort schon höre …«

»Aber Opa hat das mit dem Vorruhestand doch prima hingekriegt, oder?«

Gerdje unternahm den mühsamen Versuch einer Erklärung, wohl wissend, dass sie bei ihrer Enkelin auf taube Ohren stieß. »Dein Opa hatte es im Kreuz, vergiss das nicht.«

»Klar, die letzten dreißig Jahre. Mensch, Oma, wach doch mal auf.«

Gerdje seufzte. »Womit wir wieder beim Thema wären, Lena. Bitte tu mir den Gefallen und lass Opa in Ruhe. Ich bin diejenige, die das ausbaden muss, wenn du wieder­ weg bist.« Gerdje strich auf der bunt gemusterten Plastik­decke unsichtbare Falten glatt. »Aber eines ist klar, ich muss bald wirklich mit der Arbeit aufhören. Ja, ja, ich weiß, ihr redet seit Jahren, und ich habe es mir selber aufgehalst, aber es ging immer noch ganz gut, und letztendlich hält der Umgang mit den Gästen jung und geistig rege. Und waschen, mangeln und bügeln ersetzt jedes Fitness-Center. Das glaub man.«

Noch immer waren Oma Gerdjes Hände unablässig in Bewegung. »Nur, kannst du mir sagen, wie das dann hier weitergehen soll? Habt ihr euch darüber schon mal Gedanken gemacht? Euren Opa kriegt ihr nicht von der Insel, das ist sicher. Das Haus verkaufen? Wo sollen wir dann hier hin? Nicht verkaufen und von unserer fast nicht vorhandenen Rente leben, ist aber auch nicht unbedingt ein Gedanke, der mich aufmuntert. Opa hat nicht viel zusammenbekommen, und ich hab immer nur den Mindestsatz eingezahlt. Aber wenigstens das habe ich gemacht. Gibt genug alte Insulaner, die das nicht für nötig gehalten haben. Schließlich sind wir selbständig­. Uns kann keiner. So war die Meinung damals. Hat sich Gott sei Dank heutzutage etwas geändert, dieser Standpunkt.«

Lena schaute ihre Oma betroffen an. »Ich muss mich echt entschuldigen, Oma. Es war mir bis jetzt überhaupt nicht klar, was du für Probleme an den Hacken hast.«

»Und noch eins, Lena. Früher haben wir unser Haus nur im Baltrum-Prospekt angeboten. Die Leute, die ihren Urlaub hier verbringen wollten, haben sich den angesehen und dann einen Brief an uns geschrieben. Später­ kamen die telefonischen Anfragen. Damit konnten­ wir leben, das hatten wir gelernt. Aber heute geht alles nur über den Computer. Wir haben seit bestimmt zehn Jahren keine schriftliche Anfrage mehr bekommen. Die Leute wollen alles schnell wissen, sich sofort ein Bild von ihrer Wohnung machen können. Das ist der Lauf der Zeit. Auch telefonisch tut sich kaum noch etwas. Wenn du keine Homepage hast, kannst du die Vermietung vergessen.«

Lena lächelte ihre Oma an. »Mensch, Oma, mit was für Worten du herumwirfst. Kompliment.«

»Jetzt ist es aber gut, Lena, erstens bin ich knapp über siebzig und nicht alt, und zweitens habe ich mir das auf Heidis Computer angesehen. Bei der laufen die Vermietungen prima. Bei ihr kann man sogar einen Rundgang durch die Wohnung machen, und alles sehen, bis in die hinterste Ecke. Also, per Kamera natürlich.«

»Virtuell nennt man das, Oma. Sag mal, was sollte dich eigentlich daran hindern, einen Computerkurs zu belegen?« Lenas Augen strahlten.

»Erstens die Insellage. Wo soll ich denn hier wohl so ’n Kurs machen? Und zweitens, selbst wenn ich das schaffen sollte, müssten wir Hinrich noch überreden, dass wir uns einen Computer kaufen. Und was sollen wir denn anbieten auf unserem virtuellen Rundgang, Lena? Unsere altmodischen Zimmer mit den dunklen Möbeln, Klo und Badezimmer auf dem Flur mit braunen Fliesen bis zur Decke und Opa, wie er in unserer Fünfziger-Jahre-Küche rumhängt? Außerdem, ganz ehrlich, ich habe keine Lust mehr zu einem Neuanfang.« Gerdje ließ resigniert den Kopf hängen. »Wenn ich wüsste, dass einer von euch Interesse daran hätte, das Haus zu übernehmen, dann sähe das anders aus, aber ihr müsstet mit dem Klammerbeutel gepudert sein, eure guten Jobs aufzugeben, um hier für die Gäste die Klos zu putzen. Ganz abgesehen davon, was an dem Haus erst noch alles gemacht werden müsste. Schau dich doch um«, ihre weit ausholende Armbewegung umfasste das Küchenrund. »Nee, so einfach, wie du das gerne hättest, ist das alles nicht. Wir hätten Schritt halten müssen, investieren, immer alles auf den neuesten Stand bringen. Heute weiß ich, dass es mein größter Fehler war, ständig auf Hinrich Rücksicht zu nehmen. Aber nun ist es zu spät.«

Lena schaute ihre Großmutter an. »Weißt du, was ich glaube, Oma? Wenn Opa dir nicht als ewiger Hemmschuh an den Hacken kleben würde, dann würdest du glatt noch mal durchstarten. Aber so, das stimmt schon, da vergeht einem die Lust. Aber du kannst ihn schlecht ins Altersheim stecken, oder? Da würde das Personal ihn spätestens nach zwei Wochen zurückschicken.«

»Lena, jetzt halt aber mal den Rand.« In Gerdjedines Gesicht machten sich Lachfalten breit. »Aber ich sehe schon, ich muss mir was einfallen lassen.«

»Wenn du mich brauchst, ich bin da. Aber jetzt weihe ich erst mal die Liegewiese ein.«

Als Lena die Küche verlassen hatte, wurde Gerdje schlagartig wieder ernst. Es stimmte, sie musste sich etwas einfallen lassen. Sie musste Hinrich daran hindern, den Vertrag zu kündigen. Sie durfte sich nicht wieder durch seine schroffe Art abwimmeln lassen. Aber wie oft hatte sie es schon aufgegeben, ein Gespräch mit ihm zu Ende zu bringen. Wie oft hatte sie schon gegen die Fernbedienung ihres altersschwachen Fernsehers verloren.

*

Frisch geduscht stieg Inga die Treppe hinunter und ging in den Garten, neugierig, ob der Mann ihrer Vermieterin wohl schon an der Arbeit war.

»Kommen Sie man rein, junge Frau.« Eine Stimme im tiefsten Bass schallte ihr entgegen. »Hier bin ich, in meinem Atelier.«

Sie entdeckte eine kleine grüne Laube, die sich zwischen zwei mächtige Holunderbüsche zwängte. Die Zweige hingen schwer von beinahe schwarzen Beeren.

»Die können wir wahrscheinlich bereits in den nächsten­ Tagen ernten. Wenn Sie wollen, können Sie helfen. Als Dank gibt’s dafür eine Flasche Holunderlikör, wenn ich meiner Frau mal vorgreifen darf.« Eine mächtige Pranke streckte sich ihr aus der Holztür entgegen. »Meyer, mit E Ypsilon, Sie können auch Wolfgang zu mir sagen.«

Eine Antwort blieb ihr im Halse stecken, denn vor ihr stand der größte und stabilste Mann, den sie je gesehen hatte. Sein wuchtiger Oberkörper wurde von einem verschwitzten grünen Muskelshirt der Größe XXXL verhüllt, seine stämmigen Beine schauten aus zerfransten kurzen Hosen hervor. Sein Kopf reichte fast bis zur Decke des Schuppens und seine Breite nahm die Hälfte des Raumes ein. Wie kann solch ein Schlachtschiff derart filigrane Arbeiten herstellen, schoss es ihr durch den Kopf

»Äh … Sie … Wolfgang … Ich bin Inga«, stammelte sie, während aus seinem Bauch, der sich etwa in ihrer Kopfhöhe befand, ein Grummeln zu hören war, das sich langsam verdichtete, nach oben stieg und in einem dröhnenden Gelächter endete.

»Komm rein und setz dich. Ich mache Platz, soweit das möglich ist.« Er räumte ein paar Äste und Stücke von hölzernen Bohlen zur Seite. »Du willst also das Reich bestaunen, in dem meine Arbeiten entstehen?«

 

Inga nickte. Ihre Aufmerksamkeit war von zwei Objekten gefesselt, die auf einer alten Teekiste standen. Es waren zwei knorrige Holzstämme, die eine Hälfte unbearbeitet, die andere glatt poliert. Die Stämme neigten sich einander zu und Inga erwartete, dass sie sich jeden Moment umschlingen würden.

Vorsichtig nahm Wolfgang Meyer sie hoch und stellte sie direkt vor Inga auf der Arbeitsplatte wieder ab. »Es ist Strandholz. Ich bekomme es von dem alten Hinrich Claassen, unserem Nachbarn. Der ist jeden Tag an der Wasserkante und sammelt. Normalerweise betrachtet er seine Sammlerstücke als sein Heiligtum, aber wenn ich ein paar Taler springen lasse, darf ich mir die Stücke aussuchen, die ich brauche. Ich schaue sie mir immer genau an, und manchmal habe ich das Gefühl, so ein Stück Holz spricht zu mir, wenn es da auf der Wippe liegt. Und dann muss ich es einfach mitnehmen und bearbeiten.«

Aufgeregt nickte Inga. »Das kenne ich. So geht es mir auch. Ich hab zwar noch nie mit Strandholz gearbeitet, ich bearbeite meistens abgelagerte Obstgehölze aus dem Alten Land, aber es ist wirklich so. Man baut eine Beziehung zu dem Stück auf, oder?«

Strahlend schaute Inga Wolfgang Meyer an, und der strahlte zurück. Inga erzählte von dem Stipendium und dass sie die Skulpturen von Waldemar Otto zu ihren absoluten Favoriten zählte. »Für mich ist er der Größte unter den zeitgenössischen Bildhauern. Und stell dir vor, er wohnt auch in Worpswede. Wenn ich vor einer seiner großen Figuren stehe, habe ich das Gefühl, dass ich niemals, wirklich im ganzen Leben nicht ansatzweise so gut sein werde wie er. Seine Figuren leben, so versteht der zu modellieren. Und sag mal ehrlich, sollte man sich mit weniger zufriedengeben?« Versonnen starrte Inga Wolfgang Meyer an.

»Soll das heißen, dass du an dir zweifelst?«, fragte er behutsam.

Zögernd sagte sie: »Ich weiß nicht. Ich glaube zwar fest daran, dass ich Talent habe. Aber wird das reichen? Bis jetzt haben mich meine Eltern mit ihrem Glauben an mich und auch mit Geld unterstützt. Dann kam das Stipendium. So lässt sich natürlich leicht sagen: Ich bin Künstlerin. Aber jetzt klopft der Ernst des Lebens an. Ohne Geld läuft nun mal leider nichts. Und ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin, als Eremit im Wald Kräuter und Würmer für mein tägliches Leben zu sammeln.«

Gedankenverloren nahm Inga einen der Stämme in die Hand und strich leicht darüber. »Ich spiele mit dem Gedanken, mich an der Düsseldorfer Kunstakademie einzuschreiben. Dort kann ich Kunst auf Lehramt studieren. Also etwas Handfestes. Andererseits träume ich natürlich davon, mich in meinem eigenen Atelier ganz und gar meinen Skulpturen widmen zu können. Damit ich mich immer weiterentwickeln kann. Bis ich irgendwann … Aber schau …« Inga zog ihr Handy aus der Tasche und öffnete es. »Ein paar Bilder meiner Arbeiten. Viel kannst du aber nicht darauf erkennen.«

Wolfgang Meyer schaute sich die Bilder eine ganze Zeit lang an, dann nickte er. »Du hast wirklich Talent. Besonders die Eule gefällt mir. Wenn man das Tier betrachtet, meint man, dass es aus seinen großen Augen intensiv zurückblickt. Und das, obwohl ich nur ein kleines Foto vor mir habe. Ich würde mir gerne mal deine Arbeiten im Original ansehen. Hast du Gelegenheit, deine Werke auszustellen?«

Inga freute sich. Wie immer, wenn da jemand war, der ihre Arbeiten verstand. »Ja, in Lübeck hat eine Freundin von mir einen kleinen Laden in der Fußgängerzone. Dort stehen meine Figuren. Sie hat schon ein paar verkauft, aber leben kann ich davon, wie gesagt, nicht. Noch nicht. Jetzt geht es aber erst einmal um deine Werke«, sagte sie fröhlich.

Als Frau Meyer ihren Mann zwei Stunden später zum Abendessen rief, blickten sich die beiden verwundert an.

»Schon so spät? Na, dann lass deine Frau nicht warten. Wir können unser Gespräch ein anderes Mal fortsetzen. Ich bin immerhin eine Woche hier.« Erst als Inga aufgestanden war, merkte sie, wie unbequem sie auf dem schmalen Hocker gesessen hatte. Sie rieb sich ihr schmerzendes Hinterteil und lachte. »Das nächste Mal bringe ich ein Kissen mit, wenn’s recht ist.«

»Das nächste Mal kannst du mir helfen. Ich komme mit dieser Skulptur nicht so richtig weiter.« Er zeigte auf einen knorrigen Ast, der auf der Erde in der Ecke lag.

»Mach ich gerne, aber nur mit Ideen. Schnitzen musst du schon selber. Wäre ja noch schöner, eine Figur aus vierer Hände Arbeit.«

»Warum nicht, könnte ganz spannend sein. Bestimmt fast eben so spannend wie der Gedanke, was heute auf dem Abendbrottisch steht.«

Die beiden gingen ins Haus, Wolfgang Meyer in die Küche zu seiner Frau und Inga auf ihr Zimmer. Ein unangenehmes, hohles Ziehen in ihrem Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte.

*

Leonard schrak auf. Manfred hatte sich an ihn herangeschoben und flüsterte ihm zu: »Heute Nachmittag war es viel erfolgreicher am Strand.«

»Was meinst du damit?«, flüsterte er überrascht zurück.

»Da haben Bernd und ich das Mädel getroffen, das wir vor dem Sturmeck kennengelernt haben. Die sieht echt gut aus, so im Bikini. Hat gemeint, sie braucht’n Kick, und dann hat sie …«

»Manfred, halt die Schnauze und konzentrier dich auf deine Arbeit«, tönte Karstens Stimme über den Strand.

Manfred zuckte zusammen und nahm schweigend seine Suche wieder auf. Auch Leonard schaute angestrengt nach unten, um Karsten keine Angriffsfläche zu bieten. Er hatte schon genug unter Karstens verbalen Attacken zu leiden. Da waren ›Schwuli‹ und ›rosa Unterhöschen‹ noch die harmlosesten Ausdrücke. Wenn Karsten nun auch noch das Gefühl bekäme, er, Leonard, stände nicht mehr hinter ihrer Aufgabe, wäre es überhaupt nicht mehr auszuhalten. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass diese Aktion ein voller Erfolg würde. Dann könnte er endlich Schluss machen. Denn der Wortwechsel hatte ihm wieder einmal klargemacht, dass ihre vom Boss aufgezwungene Gemeinschaft den Bach runterging. Immer und ewig würde sich jedenfalls keiner von ihnen Karstens Druck beugen. Zumal Karsten selbst den Auftrag von Anfang an vermasselt hatte.

Was hatte das Mädel wohl mit ›Kick‹ gemeint? Ihn beschlich ein diffuses Unwohlsein, wenn er an sie dachte. Sollte es gar nichts mit Einfühlungsvermögen zu tun gehabt haben, was sie vor dem Sturmeck über die Truppe gesagt hatte? Hatte sie Bernd und Manfred am Strand zu verstehen geben wollen, dass sie über ihren Auftrag Bescheid wusste?

Aber weshalb? In wessen Auftrag? Quatsch! Alles Blödsinn! Einbildung!

Er würde Manfred noch einmal fragen, was sie genau gesagt hatte. War sicher ganz harmlos. Oder doch nicht? Er wusste es nicht. Er reagierte im Moment auf nichts sonderlich souverän, was unvermutet in seinem Blickfeld auftauchte. Er wusste nur eines: Er würde sich von nichts und niemandem daran hindern lassen, diesen Job zu erledigen und dann abzuhauen.

»Worauf haben wir uns da nur eingelassen?«, stöhnte Bernd, der stehen geblieben war und mit den Füßen lustlos im Sand scharrte. »Die ganze Sache war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und jetzt ist das Kind sowieso in den Brunnen gefallen.«

Manfred schaute ihn bewundernd an. »Bernd hat recht, wir sollten schleunigst sehen, dass wir hier wegkommen. Ehe der Inselbulle noch auf uns aufmerksam wird.«

»Halt du deine Klappe«, sagte Karsten. »Du hast es gerade nötig. Erst letzte Woche hast du deine Aufgabe versaubeutelt und jetzt Schiss in der Hose. Kommt gar nicht in Frage. Wir haben hier unseren Job zu machen, und sonst gar nichts.« Er blickte sie alle nacheinander auffordernd an. »Oder habt ihr eine andere Meinung? Ihr könnt es ruhig sagen. Ihr wisst, bei mir herrscht Demokratie. Solange ich bestimme, was abgeht, versteht sich. Und kommt mir ja nicht auf den Gedanken, hier abzuhauen. Noch sind wir nicht fertig, klar?«

Bernd grinste zynisch. »Venia verbo, wir sollen also jetzt weiterhin den ganzen Strand absuchen? Habe ich das richtig verstanden? Dürfen wir denn wenigstens aufhören, wenn es dunkel wird, großer Meister?«

»Sprich Deutsch, wenn du mit mir redest, das habe ich dir schon mehr als einmal gesagt.« Karstens Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Und was deine Frage betrifft, ja, wir suchen, bis es dunkel wird, und wenn wir nichts finden, suchen wir morgen weiter. Und zwar frühzeitig. Verstanden?«

Leonard sah Bernd und Manfred nicken und beeilte sich, es ihnen gleichzutun. Dann richteten sie ihre Blicke wieder nach unten.

*

Inga hatte beschlossen, während ihres Abendspazierganges eine kurze Pause auf der Strandmauer zu machen, um der Sonne Gelegenheit für einen traumhaften Abgang zu geben. Offensichtlich stand sie mit ihrem Wunsch nicht alleine da. Viele Urlauber warteten auf den großen Augenblick, wenn der gelbe Ball im Meer versinken würde. An der Wasserkante suchten ein paar Kinder nach Krebsen oder anderem Meeresgetier, und auf den Buhnen­ saßen Angler und hofften auf den großen­ Schwarm.

Welch eine Idylle. Ob Bertelsmann sich auch so wohl gefühlt hatte beim Blick auf die Brandung gegen die untergehende Sonne? Allerdings war der Maler im Winter hier gewesen und hatte sicher ganz andere Lichtverhältnisse vorgefunden. Sie war sehr gespannt darauf, ob sich noch Spuren von ihm finden ließen. Vielleicht hing das eine oder andere Bild von ihm im Rathaus oder einem der Hotelfoyers. Wolfgang Meyer hatte ihr geraten, ins Heimatmuseum zu gehen. Das wollte sie am nächsten Morgen in Angriff nehmen.

Am Spülsaum des Wassers erkannte sie die vier Jungs, die sie mittags zum Bier hatten einladen wollen. Inga musste lachen. Es sah sehr seltsam aus, wie sie hinter­einander wie eine Gänseschar den Strand entlang wanderten, jeder mit geneigtem Kopf auf den Sand starrend. Sieht aus, als ob die was suchen, dachte sie. Aber so sehen sie mich wenigstens nicht, und ich kann meinen Weg in Ruhe fortsetzen. Obwohl, wenn mir dieser Blonde mal ohne die anderen über den Weg laufen würde, damit könnte ich schon leben! Im gleichen Moment fiel ihr Fynn ein, und sie beschloss, ihn später anzurufen.

Als die Sonne fast im Meer verschwunden war, machte sie sich wieder auf den Weg und wollte gerade zum Ostdorf abbiegen, als sie aus dem Keller des Hotels Strandhof Musik hörte. Kiek rin, las sie auf dem Bogen, der den schmalen Pfad zur Kneipe umspannte. Das wäre der richtige Tagesabschluss, beschloss sie: ein Bierchen, ein wenig Musik und ab in die Heia.

Der Wirt hatte gerade aufgeschlossen und stand noch in der Tür. »Das ist ja ein netter Beginn des Abends, wenn als Erstes eine schöne Frau mein Lokal betritt.«

Inga grinste. »Nun mal halblang. Die schöne Frau möchte nur ein kaltes Getränk und dann nach Hause.« Sie setzte sich an die Theke, und es dauerte nicht lange, da stand ein sorgsam gezapftes Pils vor ihr. Schnell kam sie mit dem Wirt ins Gespräch und merkte daher kaum, dass sich die Tür abermals geöffnet hatte. Doch als sie die Stimmen hörte, hätte sie sich am liebsten hinter der Theke versteckt. Da waren sie wieder, die vier Jungs vom Sturmeck.

»Na, schöne Frau, so alleine hier?«

Sie verdrehte die Augen. Der dämlichste Spruch der Welt. Immerhin, es war der Blonde, der sie angesprochen und sich auf dem Hocker neben ihr niedergelassen hatte. Trotzdem, sie wollte jetzt nur das Bier schnell austrinken und gehen.

»Bernd, lass die Dame in Ruhe. Du siehst doch, sie möchte lieber alleine an der Theke sitzen«, hörte sie einen der anderen im Hintergrund.

»Vielleicht hast du recht, vielleicht ist sich die Dame aber ihrer Sache noch nicht ganz sicher. Vivere militare est! Gnädige Frau …«, er beugte sich zu ihr herüber. »Darf ich Sie zu einem Tequila einladen?«

Sie wollte gerade entnervt das Geld für das Bier auf den Tresen legen, als sie die andere Stimme wieder hörte. »Bernd, komm sofort zurück. Du siehst, sie will nicht. Hier spielt die Musik. Außerdem ist für dich gleich Schicht.«

Inga traute ihren Ohren nicht. So ließ sich der Blonde doch wohl nicht von seinem Kumpel abwatschen? Er war alt genug, um zu wissen, was er wollte. Sie drehte sich zu ihm um, schaute ihm tief in die Augen und stellte fest, dass ihr auch aus der Nähe gefiel, was ihr aus der Ferne bereits positiv aufgefallen war. Der Knabe war gut gebaut, alle Achtung. Wuschelige Haare umrahmten ein schmales, intelligentes Gesicht, aus dem ein blaues Augenpaar fröhlich leuchtete. Sie lächelte ihn an. »Wenn die Einladung auf einen Tequila noch steht, also, ich wäre bereit, und du?«

 

Er schielte vorsichtig zu seinen Kollegen, lächelte dann Inga an und bestellte mit hochgehobener Hand fünf Tequila. »Wie ich heiße, hast du ja schon mitbekommen. Und das hier sind Karsten, Manfred und Leonard. Und du?«

»Ich heiße Inga und bin heute angekommen.« Sie prosteten sich zu. Inga fühlte sich genötigt, ebenfalls eine Runde auszugeben, und bald merkte sie, dass sich nicht nur das Lokal in der Zwischenzeit gut gefüllt hatte. »Sagt mal, Jungs, kann man eigentlich am Strand was Besonderes finden, wenn man lange genug sucht? Ich hab euch heute Abend gesehen, wie ihr am Strand hintereinander hergelaufen seid. Was ist denn so inter­essant an der Wasserkante? Sollte ich mein Glück da auch mal versuchen?«

Sie sah, wie Leonard seine Schultern zusammenzog, und wie die gerade noch gute Laune der Männer einer kurzen, aber intensiven Sprachlosigkeit Platz machte. Karsten war der Erste, der sich wieder fing. »Wir haben Bernstein gesammelt. Zumindest wollten wir, für zu Hause. Haben aber leider nichts gefunden.«

Die anderen nickten eifrig, und Leonard fügte hinzu: »Ja, Bernstein. Okay, du hast recht, wenn du denkst, dass es peinlich ist, wenn Männer in unserem Alter Bernstein suchen. Aber wir haben es nun mal unseren Müttern versprochen. Schließlich haben die unseren Urlaub finanziert. Inklusive Surf-Lehrgang. Aber dazu sind wir noch gar nicht richtig gekommen. So, und nun trinken wir noch einen. Machst du Urlaub hier?«

Inga nickte. »Ja, aber eigentlich haben mich andere Dinge auf diese schöne Insel geführt.«

»Und die wären?«, fragte Leonard.

»Ach, hier gibt es jede Menge Aufregendes zu erforschen.« Sie hatte keine Lust, den Jungs von ihrem Maler zu erzählen. Das hätte die bestimmt nicht interessiert. Mechanisch griff Inga nach dem nächsten Tequila, der vor ihr auf der Theke stand, obwohl sie eigentlich keinen mehr wollte.

»Prost, meine Lieben, auf uns, das Surfen und den Bernstein. Dann ist Zapfenstreich. Urlaub ist anstrengend.« Bernd hatte seinen Arm um Ingas Schultern gelegt. »Und ich – nolens volens – bringe Inga nach Hause. Damit ihr in der Nachtstunde kein Unheil wider­fährt.«

Inga sah, dass Karsten Bernd einen durchdringenden Blick zuwarf, konnte ihn aber nicht deuten. »Keine Sorge Männer, ich hab’s nicht weit. Ich wünsche viel Erfolg bei eurer Suche. Sie schaute die Männer ernsthaft an, konnte sich aber ein Lachen kaum verkneifen, »Damit eure Mamis sich freuen und euch keiner den … Bernstein … vor der Nase wegschnappt!« Sie bezahlte, rutschte vom Barhocker und ging.

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